Meier / Morlang | Werke 1 bis 4 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 1728 Seiten

Meier / Morlang Werke 1 bis 4


2017 (Buchausausgabe 2008)
ISBN: 978-3-7296-2178-7
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

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ISBN: 978-3-7296-2178-7
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«Wo immer man diese Ausgabe aufschlägt, wird man weg getragen vom lautlosen, mäandrischen Sprachfluss dieses grossen Poeten, weg ins Reich des ‹Spirituellen›, weg ins Zentrum der Schöpfung. Seinem Dorf am Jurasüdfuss ist Meier zeitlebens treu geblieben. Die Freiheit, es Amrain zu nennen und in einen poetischen Ort zu verwandeln, hat er sich nicht nehmenlassen. Es bedeutet ihm nicht die Welt. Nur ein Fenster zu allen Orten dieser Welt.» Süddeutsche Zeitung

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«Ich wollte es bleibenlassen, Bindschädler. Dann kam die zweite Einladung. Es gehe um ein Jubiläumstreffen. Vor vierzig Jahren habe die Mobilmachung stattgefunden. Und viele Kameraden seien schon tot. Und beim nächsten Treffen, in drei Jahren vielleicht, seien es bestimmt noch mehr ...», sagte Baur, schritt zum Fenster, zurück an den Kamin, zum Fenster, gewahrte am Forsythienzweig den Faden einer Spinne, stellte sich wieder an den Kamin. «Man solle sich also aufraffen, solle mitmachen, den 11. November reservieren, die Gelegenheit wahrnehmen, Kameradschaft zu pflegen, Erinnerungen auszutauschen. Und auf den Tag genau, Bindschädler, das heißt auf das Treffen hin, klarte es auf. Ostwind stellte sich ein, trug so etwas wie Geschichtlichkeit über den Landstrich hin, untermalt von Trompetenklängen, lautlosen freilich. Es wurde ein lichter Tag», sagte Baur. Er lehnte sich an die Stirnseite der Tonplatten, die den Kamin abdecken, ein Gesimse bildend, auf dem drei Porzellangebilde standen, zwei davon mit Kerzenstummeln bestückt, das mittlere leergebrannt. Die Sonnenflecken auf dem Kelimteppich waren mittlerweile etwas dunkler geworden. «Am 11. November traf ich frühzeitig in der Garnisonsstadt ein. Ich flanierte ums Technikum (du weißt, ich hatte dort Hochbau studiert). Begab mich zum Rundbrunnen hinter dem Lindenhain. Vertiefte mich in ein Fenster des Gymnasiums diesseits des Lindenhains, das gerade den Himmel wiedergab. Sagte mir, daß hinter demselben Fenster gelegentlich ein Gedicht rezitiert werde, das vom Röslein auch, und sah dabei die Augen einer Gymnasiastin den Himmel widerspiegeln, den Heidehimmel», sagte Baur, die Arme verschränkt, den Blick auf einen Punkt im Garten gerichtet. «Bindschädler, dann schritt ich dem Stadthaus zu, dem Treffpunkt unserer Tagung. Dort angekommen, drehte ich wieder ab Richtung Technikum. Geriet beinahe in einen Trupp Ehemaliger. Überquerte das Areal der Höheren technischen Lehranstalt. Beschritt meinen ehemaligen Pausenweg. Traf dort auf keine Sternwarte mehr. Näherte mich der Villa des Käsehändlers. Blieb vor dieser stehen. Versenkte mich in die Springbrunnenwelt, umgeben an drei Seiten von Liegenschaften aus dem Fin de siècle. Blickte bald auf diesen, bald auf jenen Engel, welche die Freitreppe flankieren. Gedachte der ungefähr fünfzig Martinisömmerchen, die diese Engel seither hinter sich gebracht haben mußten, ohne dabei gealtert oder gar ihre Posen verändert zu haben», sagte Baur, die Ferse des rechten Fußes leicht unter das Fußgewölbe des linken gerückt. Ich dachte an Prinzessin Maria, an die Stelle in Tolstois Krieg und Frieden, wo sie sich entschließt, unter die Pilger zu gehen. Bekam dann die Pratzer Höhe vor Augen, wo Fürst Andrej Bolkonskij (ihr Bruder), die Fahne in der Hand, blutüberströmt gelegen hatte. Und wo ihm zum ersten Mal in seinem Leben der Himmel aufgegangen war, die Größe, Stille, die Unendlichkeit des Sternenhimmels. Wo er losgelöst von Schmerzen, Wünschen, Hoffnungen dagelegen hatte, offen dem Geheimnis dieser Welt. Ich hielt die Beine übereinandergeschlagen. Schaute durchs Fenster in die Weite. Beobachtete dann Baur, der im Augenblick auf und ab ging, vorne am Fenster jeweils den Forsythienzweig betrachtend, dessen Knospen sich bald öffnen mußten. «Als ich wieder beim Stadthaus eintraf, Bindschädler, kam auch gerade eine Gruppe Ehemaliger an. Ich erkannte nur einen, den mit dunklem Teint und schwarzen Haaren: Schütz Ernst, weißt du, mit dem zusammen wir schon die Rekrutenschule absolviert hatten. Man begrüßte sich. Ich versuchte, das Festabzeichen am linken Rockkragen anzustecken. Schütz tat es für mich. Einer streckte mir die Hand entgegen, stellte sich vor, grüßte mit Namen. ‹Ja, ja. Grüß Gott, Schaad›, sagte ich lachend und dachte mir: ‹Hat sich der verändert!› Man betrat die Hotelhalle. Zulliger Fritz saß an einem Tischchen, Tageskarten verteilend gegen Bezahlung. Der Fourier stand daneben, der liebenswerte Dreier. Er hatte gealtert. Trug einen Schnurrbart. Man stand an einem Klüngel. Man probierte Namen aus. ‹Ist Habegger Fritz da?› fragte ich. Der sitze drin. Auch die Kompaniekommandanten seien da, die Zugführer, Wachtmeister, Korporale, auch Major Boßhardt. Man ging nach oben in den Festsaal. Hier waren Tische in vier Reihen zusammengestellt. Vorne blieb ein Platz für die Turmmusik ausgespart. Oben, an einem Quertisch, saßen die Häuptlinge. Der dritte Zug war den Fenstern entlang plaziert. Zugführer Matter war da, Wachtmeister Egger, Füsilier Jaun, der die Jahrzehnte überstanden zu haben schien wie die Engel des Käsehändlers. Unten am Tisch entdeckte ich Habegger Fritz. Grüßte hinunter. Ging zu ihm. Legte die Hand auf seine Schulter. Sagte: ‹Habegger Fritz, wenn ich vom Aktivdienst rede, bist auch du mit dabei. Dann sage ich, daß ich dich immer erkannt hätte, auch bei Nacht, im Wald oder wo immer, und zwar auf Distanz eben. Immer hätte ich dich am Klappern deiner Gamelle erkannt, am Schritt oder an deinem Gepuste. Ja!› Habegger schaute mich an ... Sagte: ‹Dich kenne ich nicht.› Die Turmmusik spielte einen Marsch. Feldweibel Krättli gab sich erfreut, daß so viele (168, glaube ich) Ehemalige da waren (dem Rufe gefolgt). Er begrüßte die Offiziere: Hauptmann Reber (nachmaliger Oberstbrigadier), Hauptmann Ammann (nachmaliger Oberstleutnant), Major Boßhardt (nachmaliger Oberst). Der Chef des Regiments kam später, der große, hagere, uralte Oberst Bachmann, der uns übrigens den Eid abgenommen hatte auf der Schützenmatte. Er hatte am Vormittag ein Treffen mit Kameraden aus dem Ersten Weltkrieg gehabt», sagte Baur, ging auf und ab. «Bindschädler, Tage nach der Vereidigung marschierten wir ab, gegen Westen, in die Nacht. In der Ferne entlud sich ein Gewitter. ‹Sie schießen mit der Dicken Berta (deutsche Riesenkanone aus dem Ersten Weltkrieg)›, sagte ich. LMG-Schütze Sutter mußte etwas von einem dicken Gewehr verstanden haben. Vom Moment an war sein leichtes Maschinengewehr das dicke Gewehr», sagte Baur, an den Kamin gelehnt. Ich bekam die Höhenzüge vor Augen, über denen sich das Gewitter entlud. Ich sagte zu Baur, jenes Mißverständnis auf unserem Marsch in die Nacht sei auch mir in Erinnerung geblieben. Und ich hätte sogar jene Wegstrecke vor ein paar Jahren noch einmal abgeschritten. «Feldweibel Krättli also hielt seine Begrüßungsansprache. Das Essen wurde aufgetragen: Flädlisuppe, Rindsbraten mit Kartoffelstock, gemischter Salat. Leutnant Matter bestellte Rotwein. Man aß. Man stieß an. Man trank. Bindschädler, mittlerweile war mir der Saal zu einem Eisklumpen geworden, durchsetzt mit Gesichtern, Gestalten. Wobei mir das Eis nicht als hiesiges vorkam, als Gletschereis, sondern als Eis russischer Tundren. Und mit jedem Blick, mit jedem Bissen Rindsbraten, jedem Schluck Rotwein auch taute es auf. Je mehr Kartoffelstock man sich also einverleibt hatte und Rindsbraten, desto deutlicher, desto frischer, desto authentischer wurden die Leute an den vier Tischen. So aß ich drauflos. Spezifische Geräusche schienen das Tauen zu begleiten, das Säuseln der Lüfte vielleicht, die durch Steinbrüche strichen, wo man gerade exerzierte, Einzelausbildung betrieb, während von der Grenze herüber das Brummen der Geschütze zu hören war», sagte Baur, wiederum einen Punkt im Garten fixierend, die Arme verschränkt. Die Sonnenflecken hatten sich mittlerweile etwas verschoben. «Bindschädler, Bütikofer Willi fehlte mir, der Melker aus den Wyniger Bergen. Lehmann Johann, der ewig lächelnde Landarbeiter aus dem Emmental, fehlte mir. Schaad Paul, Zifferblattfabrikarbeiter aus Werdenburg, den zu begrüßen ich vermeint hatte, fehlte mir. – Und andere mehr», sagte Baur. Ich schaute zum Fenster hinaus, über die große Matte des Eierhändlers hin. Bekam Napoleon zu Gesicht, wie er über den Niemen schaute, durch ein Fernrohr natürlich, dem ein Page als Stütze diente. Napoleon soll gefunden haben, das sei nun die Steppe Rußlands, in deren Mitte eben Moskau plaziert sei. Ein polnischer Ulanenoberst, fanatisiert durch die Anwesenheit Napoleons, stürzte sich mit seiner Truppe in den Fluß, diesen zu überqueren, wobei vierzig bis fünfzig Ulanen samt Pferden ertranken. Napoleon soll, obgleich er diese Schaustellung als störend empfunden habe, später dem polnischen Obersten das Kreuz der Ehrenlegion verliehen haben, deren oberster Herr Napoleon persönlich gewesen war. «Die Sonne schien noch immer, wenn auch kalt sozusagen. Ich schaute, wenn ich mich nicht gerade mit dem Eisklumpen auseinandersetzte (in dem sich besagte Veränderungen taten, untermalt von Geräuschen eben), zum Fenster hinaus, wo ich wenigstens drei, vier Fahnen ins Blickfeld bekam, an Seilen, die über die Gassen gespannt waren. Ein leichter Ostwind spielte mit ihnen. Sie gaben sich nobel, gleichsam in Gedanken versunken, in geschichtliche natürlich, wobei gelegentlich die eine, die größte, die Schweizerfahne, im Wind lag, reglos und waagrecht beinahe, um dann wieder abzusacken, zu schwingen. Und ich dachte mir, Bindschädler: ‹Das sind nun also die Fahnen ...›» –«Wie Bolkonskij eine (wenn auch nicht gerade die Schweizerfahne) den Franzosen entgegen trug, als seine Landsleute zu flüchten begannen, was die Flucht beinahe zum Stehen brachte, eine Flucht, die sich angebahnt hatte unter den Augen des Kommandeurs...


Geb. am 20. Juni 1917, gestorben 22. Juni 2008 in Niederbipp. Er brach ein Hochbaustudium in Burgdorf ab und arbeitete 33 Jahre lang in einer Lampenfabrik bevor er mit 57 Jahren seine ersten Texte veröffentlichte. Gerhard Meier erhielt u.a. den Petrarca-Preis, den Fontane-Preis, den Gottfried-Keller-Preis und den Heinrich-Böll-Preis. Er zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts.



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