Meinderts Lang soll sie leben
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7026-5899-1
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-7026-5899-1
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eva und ihre Freundin Sanne beschäftigt alles, was im Leben von jungen Mädchen so vorkommt: Schule, Eltern, Jungs, Liebe und Sex. Auf dem Schulweg sieht Eva eines Tages eine alte Frau, die auf den Gleisen steht, als ein Zug kommt. Ohne nachzudenken läuft sie los und rettet der Frau das Leben. Eva wird als Heldin gefeiert. Bei der Feier trifft sie auch die alte Dame, Frau de Graaf, wieder. Die beiden entwickeln Sympathie und Verständnis füreinander und schließlich offenbart Frau de Graaf Eva, dass der Vorfall auf den Gleisen kein Unfall war, sondern sie ihrem Leben freiwillig ein Ende setzen wollte. Und Eva denkt plötzlich nicht mehr nur über das Leben nach, sondern auch über den Tod.
Koos Meinderts, geboren 1953 in Den Haag, schreibt Romane, Gedichte und Liedtexte - sowohl für Kinder als auch für Erwachsene und ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Er lebt in Utrecht.
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1
Den Tod in Gedanken
finde ich keinen Schlaf „Eva, du stehst in der Zeitung.“ Ich hebe den Kopf vom Kopfkissen. Meine Eltern stehen in der Zimmertür und mein Vater wedelt mit der Zeitung in der Hand. „Könnt ihr nicht anklopfen? Ich habe noch geschlafen.“ In Wirklichkeit bin ich schon seit über einer Stunde wach. Ich musste an gestern denken und sah mich wieder auf dem Boden liegen, auf dem Asphalt, neben der alten Frau. Mein Fahrrad ein paar Meter neben mir, ebenfalls auf dem Boden. Das Vorderrad zeigt in die Höhe und dreht langsam seine Runden. Wie in einer Filmszene. „Guck mal, hier steht’s.“ Die Stimme meines Vaters klingt ein bisschen überrascht, als könne er erst jetzt, wo er es schwarz auf weiß in der Zeitung gelesen hat, glauben, was gestern auf meinem Schulweg passiert ist: MÄDCHEN RETTET SENIORIN. Der Zug war mit über zehn Minuten Verspätung abgefahren. Nicht der Zug war zu spät; der stand bereits auf Gleis 2B bereit, um pünktlich nach Fahrplan um 9.07 Uhr abzufahren. Aber der Zugführer ließ auf sich warten, denn der hatte auf seinem Weg zur Arbeit im Stau gestanden. Er parkte seinen Wagen im Personalparkhaus, meldete sich an und eilte zum Gleis, wo der Schaffner neben dem vollen Zug auf ihn wartete und vorwurfsvoll auf seine Uhr sah. Der Zugführer rief ihm zu: „Entschuldigung, Stau!“, öffnete die Tür zum Führerhaus und stieg ein. Kurz darauf erklang die schrille Pfeife des Schaffners und der Zug setzte sich in Gang. Der große Zeiger der Bahnhofsuhr sprang einen Strich weiter. Es war Montagmorgen, der 8. April, 9.19 Uhr. Sie wollte heute nicht zum Kaffeestündchen gehen. Sie hatte keine Lust – eigentlich hatte sie noch nie Lust dazu gehabt. Die Gespräche unten in der Kaffeestube des Gemeinschaftsgebäudes interessierten sie nicht, und außerdem war sie müde. Letzte Nacht hatte sie lange wach gelegen. Eine Gedichtzeile war ihr nicht aus dem Kopf gegangen und hatte ihre Runden gedreht wie ein Kreisel: Den Tod in Gedanken finde ich keinen Schlaf und keinen Schlaf findend, denke ich an den Tod. Es hatte sie wahnsinnig gemacht, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie das Gedicht weiterging, denn dann wäre sie vielleicht von der Anfangszeile erlöst worden. Bei Liedtexten schien das jedenfalls zu funktionieren. Insomnia, so hieß das Gedicht, das sie vom Schlafen abhielt. Ein Gedicht von Bloem. J. C. Bloem, daran konnte sie sich dann wieder mühelos erinnern. Schließlich war sie aufgestanden, hatte das Gedicht herausgesucht und es sich murmelnd vorgelesen. Das hatte geholfen, von der ersten Zeile war sie erlöst, aber inzwischen war sie so wach gewesen, dass es noch eine ganze Weile gedauert hatte, bis sie endlich eingeschlafen war. Sie zog ihre Jacke an. Wenn sie in ihrer Wohnung bleiben würde, dann würde bestimmt die Nachbarin von Nummer 37 an ihre Tür klopfen, um zu fragen, wo sie bliebe. Sie öffnete die Tür und schaute um die Ecke in den Flur. Niemand zu sehen. Als sie die Tür zuzog, fiel ihr ein, dass sie die Wohnungsschlüssel auf dem Tisch liegen lassen hatte. Sie blieb einen Moment unschlüssig stehen, zuckte dann mit den Schultern und ging den Gang entlang, an dessen Wänden, zwischen den Türen, selbst gemalte Bilder und eingerahmte Stickereien der Bewohner hingen. Blumen und Vögel waren augenscheinlich die beliebtesten Motive. Bei ihr hing nichts an der Wand. Das sei doch schade, hatte die Nachbarin von der 37 gemeint, so kahl. Sie habe noch ein hübsches Bild von einem Rotkehlchen, das sie haben könne, oder möge sie die nicht? Anstatt den Aufzug zu benutzen, nahm sie die Treppe. Kurz darauf stand sie draußen. Es war ein grauer Tag. Die Kirchturmuhr schlug halb zehn. In einer Stunde würde das Kaffeestündchen anfangen – ohne sie. Zehn nach halb zehn. Sie musste sich beeilen, in einer Viertelstunde musste sie in der Schule sein. Sie zog ihre Jacke an, schob sich den Rucksack über die Schulter und fischte auf dem Weg zur Haustür die Schlüssel aus dem Schälchen in der Küche. Ihre Eltern waren schon zur Arbeit unterwegs. Die Mutter mit dem Auto, der Vater mit dem Fahrrad. Ihre Eltern hätten es gerne, wenn sie gleichzeitig mit ihnen aufstehen würde, aber dazu hatte sie keine Lust. Einmal die Woche, sonntags, zu dritt frühstücken, mit Frühe Vögel, der Lieblingsradiosendung ihrer Eltern, im Hintergrund, war, so fand sie, mehr als genug. Unter der Woche bestimmte sie ihr eigenes Tempo und lauschte jeden Morgen den gleichen Geräuschen: dem Rauschen der Klospülung, dem Anstellen der Dusche, dem leisen Summen ihres Vaters beim Rasieren vorm Spiegel, dem Abklopfen des Rasiermessers gegen den Waschbeckenrand. „Du kannst!“ – ihr Vater, der mitteilt, dass das Badezimmer frei sei. „Weißt du, wo ich den Autoschlüssel gelassen habe?“ – ihre Mutter, die immer alles verbummelte. „Wir sind weg!“ – beide im Chor. Ihr Vater hatte wie immer schon ihr Fahrrad aus dem Schuppen geholt. Das störte sie, aber es würde sie noch mehr stören, wenn er es nicht tun würde. Sie steckte sich die Ohrstöpsel des iPhones in die Ohren und machte sich auf den Schulweg. Niederländisch, Biologie, Mathe, eine Zwischenstunde, Geschichte – so würde ihr Tag heute aussehen. Der Zug verlangsamte das Tempo, der Schaffner rief über den Lautsprecher den nächsten Bahnhof aus. Sollten Sie über ihre Bahn-Chip-Karte eingecheckt haben, vergessen Sie bitte nicht auszuchecken. Haben Sie auch wirklich nichts vergessen? Der Zugführer stellte sich vor, wie die Fahrgäste im Abteil kontrollierten, ob sie alles bei sich hatten – er sah Sprechblasen über ihren Köpfen in Form von Gedankenwolken wie bei einem Comic: iPad, Laptop, Briefmarkensammlung, Auto, Lottoschein, Goldfisch, Aktienpaket, Hund … Die Stühle des Cafés Spoorzicht standen kopfüber auf den Tischen. Montags geschlossen. Vor dem Zebrastreifen hielt sie an, ließ ein Auto vorbei und überquerte dann die Straße. Sie ging an dem Möbelgeschäft Jongerius entlang und blieb dann einen Moment stehen, um sich die Möbel im Schaufenster anzusehen. Sie sah ihr Spiegelbild in der Scheibe zwischen einem schwarzen Dreipersonensofa aus Leder, Geschirrvitrinen und Beistelltischchen. Alles im Ausverkauf. Alles gleich hässlich. Hinten im Laden konnte sie Herrn Jongerius sehen, wie er staubsaugte. Sie spürte einen Regentropfen. Sie sah hinauf zum Himmel und ging dann weiter. Sie stieg in die Pedale und fuhr noch schneller; gleich würde es zu regnen anfangen, und zu spät in die Schule kommen wollte sie auch nicht. Es war nicht viel los auf der Straße: ab und zu ein Auto, eine Mutter auf dem Fahrrad, auf dem ein Kindersitz befestigt war und ein Lieferwagen des Klempners Hartman & Söhne, UNTERWEGS ZU EINEM ZUFRIEDENEN KUNDEN. Ein Stückchen weiter ging gerade eine alte Frau über den Bahnübergang, im selben Moment fingen die Blinklichter an zu blinken und schlossen sich die Schranken. „Neeeeeeein!“, rief sie. „Verdammt!“, fluchte der Zugführer. Von unserem Reporter. Gestern Morgen, gegen 10 Uhr, konnte ein 15-jähriges Mädchen durch schnelles und couragiertes Eingreifen das Leben einer 83-jährigen Frau retten und dadurch ein Zugunglück verhindern. Die Rentnerin befand sich zur besagten Zeit aus noch unerfindlichen Gründen mitten auf dem verschlossenen Bahnübergang, dem sich bereits die verspätete Regionalbahn aus Amersfoort näherte. Die Schülerin zögerte keinen Augenblick und riss die Frau unter Gefährdung des eigenen Lebens im letzten Moment von den Schienen und weg von dem vorbeifahrenden Zug. „Schade, dass dein Name nicht genannt wird“, sagt mein Vater. „Aber wir heben den Artikel trotzdem auf.“ „Wir?“ „Vielleicht erscheint es dir im Moment nicht so wichtig, aber später wirst du froh darüber sein.“ „Wir sind sehr stolz auf dich“, sagt meine Mutter. Mein Vater legt die Zeitung auf die Bettdecke und streicht mir mit der Hand über den Kopf. „Hab einen schönen Tag, Schatz.“ Ich murmle etwas Unverständliches zurück und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Ich hasse das Wort Schatz – es klingt hässlich, sperrig. Beinah so schrecklich wie Mädels – noch so ein Wort, das ich nicht leiden kann, das aber ein Lieblingswort unserer neuen Sportlehrerin ist: „Kommt, Mädels, ein bisschen Tempo, bitte.“ Grässlich! Wenn ich das Wort bloß höre, sehe ich sofort ein quadratisch-praktisch-gut-Mädchen vor mir, die Haare streng zurückgekämmt zu einem Pferdeschwanz...