E-Book, Deutsch, Band 2, 176 Seiten, Gewicht: 213 g
Reihe: Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen
Möbius Panzer gegen die Freiheit
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-374-05580-7
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zeitzeugen des 17.Juni berichten
E-Book, Deutsch, Band 2, 176 Seiten, Gewicht: 213 g
Reihe: Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen
ISBN: 978-3-374-05580-7
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„So einfach konnte ein Problem nicht zu lösen, eine Diktatur nicht zu beseitigen sein. Trotzdem hatte mich diese Stimmung gepackt, auch weil die Leute an ihre Kraft glaubten.“ – Mit diesen Sätzen beschreibt der in Bitterfeld aufgewachsene Plakatkünstler Professor Klaus Staeck das Spannungsfeld des 17. Junis. Arbeiteraufstand, Volksbegehren, Revolte oder Putsch waren Begriffe, unter denen man zu erfassen suchte, was an jenem Mittwoch im Juni 1953 in der DDR geschah. Das Freiheitsstreben unzähliger Menschen wurde mit der brutaler Gewalt beantwortet: sowjetische Panzer und niederknüppelnde Polizei gegen das eigene Volk. – So verschieden die Zeitzeugen sind, die zu Wort kommen, so differenziert und facettenreich ist auch die Darstellung der Ereignisse. Sowohl Schauspieler und Künstler als auch Wissenschaftler, Theologen, Arbeiter und Angestellte berichten in Interviews über ihre Beobachtungen, ihre Haltungen, ihre Konflikte und Irrtümer. Entstanden ist eine spannende Mischung aus Subjektivität und Zeitgeschichte, die fünfzig Jahre nach dem 17. Juni 1953 die Ereignisse in einem neuen Licht erscheinen lässt.
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Horst Drescher, Schriftsteller,
Jahrgang 1929, war 1953 Student in Leipzig. Gaby Waldeck »Und dann kamen die Sieger.«
Horst Drescher Ja die Panzer, die sowjetischen Panzer, die Russenpanzer, von einer Stunde zur anderen waren wir wieder im Kriegszustand, verdeckte, verdrängte Verhältnisse traten offen auf; dabei fiel die Rote Armee ja nicht vom Himmel, sie lebten in den Kasernen, hinter ihren endlosen grünblauen hohen Bretterwänden. Und ganze Armeen in den Wäldern, den Sperrgebieten, seit Jahren ein halbverdrängtes Nichtgeheimnis. In den Straßen sahen wir nur die Offiziersgattinnen in Pelzmänteln und Pelzkappen, Magazin Univermag, Grimmaische Straße. Das Jahr 1945 hatte ich intensiv erlebt, ein Sechzehnjähriger erlebt intensiv, vor allem, wenn er in Uniform steckt und die Front wochenlang dröhnen hört. Acht Jahre waren vergangen seit jener Zeit, die Angst, die Ängste, die Seele erinnerte sich. Die T34 oder was immer es gewesen waren, sie hatten alle strategischen Punkte der Stadt besetzt. An den Mauern klebten über Nacht kleine Plakate. Befehl Nr. 1, deutsch und russisch. Nächtliche Ausgangssperre und wie eben ab sofort der Stadtkommandant die Befehlsgewalt hat über die Stadt samt den entsprechenden Warnungen betreffs Erschossenwerden bei Zuwiderhandlungen; na, im Museum für Zeitgeschichte wird sich so ein Plakat finden. Wenn diese schwarzgrünen Kriegskolosse durch die Straßen donnern, so mit fünfzig Stundenkilometern, so drohend rasselnd, da muss nicht geschossen werden, da sind die Machtverhältnisse geklärt. Widerstand sinnlos, zwecklos. Natürlich werden von ganz Mutigen Steine geworfen, aber das erzählt es ja nur. Wenn die Panzer herummanövrierten auf dem Bahnhofsvorplatz in den folgenden Tagen und dabei mit ihren Ketten die graniten Bordsteinbegrenzungsplatten herausrissen und unvermeidlich herumschleuderten, da wussten die Passanten, was von Stund an zu gewärtigen war. Ausnahmezustand. Aber das alles ist hundertmal erzählt worden in den letzten fünfzig Jahren und von kompetenteren »Zeitzeugen«. Ich bin zwar gelernter Werkzeugmacher, habe aber diesen Arbeiteraufstand nicht in der Zittauer Maschinenfabrik erlebt, sondern als Student, wir waren nervlich verschlissen von wochenlangen Abiturprüfungen, die letzten, die Sportprüfungen, waren am Vormittag jenes 17. Juni. Anschließend wurden wir in die brodelnde Stadt geschickt, um mit den Aufständischen über die Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung zu diskutieren. Wie geschockt die Leitung der Fakultät war, das war der erste Schock, so eifrig-freundlich und still hatte ich diese Parteileitung noch niemals erlebt, den Genossen wurde empfohlen, die Parteiabzeichen abzumachen, ernster konnte also die Lage nicht werden. Durch die menschenerfüllte Stadt fuhren die Straßenbahnen mit den wildesten staatsfeindlichen Losungen; ich dachte, ich bin in einem Film. Über der Innenstadt lag der schwarze Rauch des brennenden »Pavillon der Nationalen Front«, das war ein beachtliches Gebäude, wer weiß, wie es zu dem heiteren Namen gekommen war, die Bibliothek brannte wohl so intensiv. Als wir uns unter die Menschenmenge am Markt mischten, da bahnte sich mit Sirenengeheul ein Löschfahrzeug der Feuerwehr seinen Weg; das Sirenengeheul der Rettungswagen lag den ganzen Tag über der Stadt. Die Feuerwehrmänner kamen aber gar nicht zum Schläucheausrollen; sie wurden mit Pflastersteinen empfangen, es wurde lebensgefährlich, der blanke Hass in den Gesichtern, Rowdyvolk, aber auch viele Studentengesichter, junge Männer um die Zwanzig; man konnte ahnen, nicht zum Studium zugelassen, der Vater abgeholt und in einem Lager »verstorben«, Enteignungen. Gesichter sind immer Summen in solcher Situation. Das Pflichtgefühl der Feuerwehrmänner war erstaunlich, sie mussten fliehen, wagten dann aber eine zweite Anfahrt, es kam nicht einmal mehr zum Halt des Fahrzeugs im Steinhagel. Flucht war ihre einzige Rettungsmöglichkeit. Die Stimmung samt Umschlag der Stimmung wie fokussiert in einer Szene Ritterstraße-Querstraße, dort war das Gebäude der FDJ-Bezirksleitung gestürmt worden. Auf der Straße ein brennender Scheiterhaufen herausgestürzter Büromöbel, auch wurden unter Gejohle Fahnen abgefackelt. Aus den Fenstern flogen noch Karteikästen, auch ein Telefon. Diese Szene ist oftmals geschildert worden, die Fakultäten hatten ihre Studenten dorthin geschickt, um einzugreifen, keiner griff ein, dort waren Menschenmengen! Da bog aus der Goethestraße in flotter Fahrt ein Jeep ein, zwei Offiziere der Roten Armee sprangen mit gezogener Pistole aus diesem Kübelwagen und rein ins Haus! Stille auf der Straße. Und nach einer Minute kam nichts mehr aus dem Fenster geflogen; es wurde gar nicht geschossen im Hause, es war nicht nötig. Auch zwei junge Offiziere waren die Besatzungsmacht. Und wie schnell diese Straßenecke menschenleer war. Nur der Aufstandsplünderscheiterhaufen brannte ab. Übrigens im Souterrain des Nebenhauses, einer Halbruine, da machten zwei Frauen die Gardinen ab und verstauten sie in Wäschekörben, aber wie flink! Schnell, schnell, ehe die Revolution vorbei ist! Kleine Episoden, die eine jede ihren Teil vom Ganzen erzählen. Auf dem Karl-Marx-Platz an der großen Universitätsruine hielt ein Planenlastwagen, ihm entstiegen umständlich Volkspolizisten, ihnen wurden von Männern die Karabiner weggenommen, sie schlugen die Kolben gegen Trümmerquader, zwei Hiebe und die Waffe ist unbrauchbar, das Holz platzt ab. Diese Arbeiter waren auch Profis, Krieg und Gefangenschaft, es fiel kein Wort, keine körperliche Gewalt, eine merkwürdige Entwaffnung. Die da geschickt worden waren, Ordnung zu schaffen, es waren ganz junge Kerle, die Angst stand ihnen im Gesicht. Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Bertolt Brecht, einer vom »Emigranten-Adel«, so lautete unter uns die respektvoll-ironische Bezeichnung für jene heimgekehrten Vertriebenen, Namhafte oder Namhaftgemachte, an denen wir jungen Ratlosen uns orientierten, Brecht hatte es aphoristisch auf den Punkt gebracht. Dieser Aufstand war ihm die herbe Kontaktnahme der Arbeitermacht mit den Arbeitern. Eine Ernüchterung, und hart und sorgfältig vergessen in den folgenden 36 Jahren. Sein Kommentar zu Ausführungen des Dichters Kuba, wie tief enttäuscht die Regierung von ihren Arbeitern sei, und dass die lange und hart werden arbeiten müssen, um diese Scharte auszuwetzen, Brechts Gegenvorschlag war, die Obrigkeit löst das Problem an der Wurzel und wählt sich ein neues Volk bei der nächsten Volkswahl! Solche bittere Ironie erzählt von der entstandenen Lage, auch von Brechts Lage und der aller in eine Deutsche Demokratische Republik heimgekehrten Emigranten. Kaum gutsituiert, etabliert und hofiert, und wie war es ihnen denn ergangen in dieser Emigration, elend! Und nun gleich dieses gesellschaftliche Erdbeben auf einer eventuell ebenfalls nach oben offenen Skala. Eine für uns Jüngere schwer vorstellbare neue existentielle Verunsicherung; oftmals die letzte, drei Jahre später ist Brecht gestorben. Noch eine Szene sei erinnert. An der Goethestraße, gegenüber der Oper war ein Kaffeehaus gehobener Klasse, später wurde da ein Gebäude modernen Stils errichtet, wie oft haben die Kulissen sich verschoben und haben gewechselt seit dem Kriege, der Name ist mir nicht mehr erinnerlich dieses doch recht eleganten Kaffeehauses. Dort waren die Tische voll besetzt, und die befrackten Kellner eilten bedienend, als die unübersehbaren Fabrikarbeiter-Kolonnen vom Bahnhof her in diese Straße einbogen, Zwölferreihen oder Sechzehnerreihen, man denke an den Herbst ’89, es waren die Belegschaften großer Betriebe, wohl aus dem Norden Leipzigs, Bleichert hieß so ein volkseigener Betrieb und hatte bis vor kurzem noch der Sowjetunion gehört. Die Menschenmassen kamen marschiert wie eine Flut, alle in ihren Schlosseranzügen, wie sie die Streiknachricht erreicht hatte bei der Arbeit, in den ersten Reihen die Kräftigsten, die waren zu einigem entschlossen! Ich lief mit Passanten zwischen den offenen Fenstern des Kaffeehauses und den Streik-Kolonnen, da waren etwa drei Meter oder dreieinhalb Meter Abstand zwischen den beiden Welten. Die einen waren entschlossen, diesen Staat zu verändern, notfalls mit Gewalt, die anderen aßen ihr Stück Torte oder löffelten einen Eisbecher zum Kaffee, die Kellner bedienten, komplimentierten, kassierten, verbeugten sich vor Trinkgeldern: Kaffeehaus. Sie blickten schon auch manchmal hinaus in den Lärm, die breiten Fenster standen offen, ein schöner Sommertag! – Eine Szene, die sich Nachgeborene kaum auszudenken vermöchten, da alles Erinnerte einer Dramaturgie unterliegt, aber das Leben hat keine Dramaturgie, es ist das Leben. »Solidarität mit Berlin«: Demonstrationszug vorm Leipziger Hauptbahnhof Stadtgeschichtliches Museum Leipzig/Helga Müller Ja, was war es denn nun gewesen, jedenfalls eine herbe Zäsur in der DDR-Geschichte vor 50 Jahren, folgenreich und letztlich bis heute wirkend; jene 1990 evaluierten Professoren und Direktoren waren die Abiturienten vom Sommer 1953! Und der darüber so mutig und souverän geschrieben hat und so meisterhaft, Uwe Johnson, er ist lange tot, daran gestorben letzten Endes. Sein Roman wurde im Osten nicht gedruckt, zu wenig DDR-Gesinnung, und er wurde im Westen nicht gedruckt, zu viel DDR-Gesinnung. Eine verpasste Gelegenheit, die Ereignisse und ihr Umfeld kenntnisreich und gerecht kennenzulernen. Die 1989 aufgedeckte Stasi-Welt, Stasiunterwelt, sie hatte ihre Wurzeln im Sommer 1953; es waren so schwarze Tage für die Macht,...