Buch, Deutsch, 304 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 385 g
Religiöse Kulturen Europas zwischen Mittelalter und Moderne
Buch, Deutsch, 304 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 385 g
ISBN: 978-3-593-38450-4
Verlag: Campus
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Inhalt
'Religiöse Kulturen' und 'Geschlecht'
Einige konzeptionelle Überlegungen
Monika Mommertz/Claudia Opitz-Belakhal
Teil I
Geschlecht als Moment der Konstituierung und Abgrenzung
Mulieres fortes, Sünderinnen und Bräute Christi
Geschlecht als Markierung in religiösen Symbolen und kulturellen Mustern
des 12. Jahrhunderts
Christina Lutter
Klösterliches Liedgut und christliche Hausmütter
Frauen als Vermittlerinnen christlicher Lehre anhand des geistlichen Liedes
Linda Maria Koldau
Gemeinsame Geschäfte
Selbst- und Fremdwahrnehmung jüdischer Geschäftsfrauen in
der Frühen Neuzeit
Barbara Staudinger
Teil II
Geschlecht als Moment der Kontrolle und Disziplinierung
Dissimulierende Netzwerke
Geschlecht und Kommunikation in den Handlungsstrategien religiöser
Minderheiten des 16. und 17. Jahrhunderts
Caroline Gritschke
Transkonfessionelle Sozialkontrolle unter Katholiken, Unierten
und Orthodoxen
Geschlechterbeziehungen und Familienkonflikte vor dem Polocker
Ratsgericht im 17. Jahrhundert
Stefan Rohdewald
Ehe, Konversion und Inquisition im frühneuzeitlichen Italien
Kim Siebenhüner
Eine katholische Ordnung der Sexualität?
Konkurrierende Deutungsmuster um den Priesterzölibat
im 17. Jahrhundert
Antje Flüchter
Teil III
Geschlecht als Moment der Aneignung und Transformierung
Geistliche Viten und Beichtpraktiken
Zur Produktion und Überlieferung spiritueller (Auto-)Biographien
von Frauen auf der Iberischen Halbinsel und in der Neuen Welt
Blanca Garí
Der Kleriker und die Leserin
Kontrollierte Lektüre im nachtridentinischen Italien
Xenia von Tippelskirch
Gelenkte Selbsterziehung
Das Tagebuch eines zehnjährigen Mädchens aus dem pietistischen
Bürgertum
Ulrike Gleixner
Autorinnen und Autoren
Wenn in diesen Tagen vom 'christlichen Erbe' oder auch vom 'jüdisch-christlichen
Erbe Europas' die (Fest-)Rede geht, so wird in der Regel auf Hochgestimmtes,
Wünschenswertes, Zukunftstragendes angespielt. So wenig man dem
Gemeinplatz einen wahren Kern absprechen mag, so unzutreffend wirkt er,
wenn in europäischen Traditionen kaum anderes als Einigkeit, Toleranz und
Konsens ausgemacht wird. Um andere Seiten dieses Erbes wachzurufen, muss
man zeitlich gar nicht so weit zurückgehen, wie aktuelle Debatten um Monotheismus
dies tun, in denen die Anfänge der Buchreligionen zur Diskussion
stehen. In der Geschichte Europas wurden nicht selten durch religiöse
Überzeugungen tiefe Gräben und Bruchlinien aufgerissen; die Koexistenz
verschiedener Religionen war lange problematisch und wurde oft erst nach
andauernden Kämpfen erreicht. Häufig kam es zu Gewalt zwischen Christen
und von Christen gegen Nicht-Christen, darunter insbesondere zu Verfolgungen
der jüdischen Minderheit. Der historische Kontinent Europa, der nicht
wie der heute geographisch oder politisch fassbare scharf gezogene Grenzen
kannte, war über Jahrhunderte hinweg tatsächlich von 'Vielfalt' geprägt – die
indes anders aussah als die heute oft beschworene 'Vielfalt in der Einheit'.
Wie die neuere Forschung zunehmend in den Blick rückt, umfasste 'Europa
' zwischen Mittelalter und Moderne nicht nur die – heute oft allein angesprochenen
– lateinisch-christlichen Großkonfessionen. Mit dem religiösen
'Europa' meinen wir für die hier behandelten Epochen ebenso die eigenständig
organisierten und orientierten orthodoxen Kirchen des Ostens, das
Judentum und für manche Regionen den Islam; dazu die zahlreichen christlichen
und nicht-christlichen Minderheiten und kleineren Gruppierungen.
Nimmt man Europa also nicht nur über seine Zentren und Zentralregionen,
sondern auch über die offenen 'Ränder' des Kontinents in den Blick, so wer-
den Zonen des religiösen Kontaktes und des Austauschs greifbar, in denen die
Glaubensinhalte, Diskurse und Praktiken einander beeinflussten, aber auch
miteinander konkurrierten. Ebenso lassen sich im 'Innern' dieses 'offenen
Kontinents' beständige Differenzierungs- und Transferprozesse entlang religiöser
Definitionen, Konzepte und Organisationsformen als ein Merkmal bereits
der mittelalterlichen Gesellschaften beschreiben. Die vormoderne europäische
Geschichte war geprägt von wechselseitigen, dabei nahezu durchgängig hierarchischen
Zuordnungs-, Eingrenzungs- und Abgrenzungsmechanismen. Diese
Mechanismen begründeten und perpetuierten sich zentral über 'Religion'.
Die oft konfliktreiche, bisweilen auch kooperative Pluralität unterschiedlicher
religiöser Wahrnehmungsweisen, Praktiken und Institutionen und der
darin vermittelten individuellen, gruppenbezogenen und gesellschaftlichen
Deutungsmuster und Organisationsformen stellt ohne Zweifel einen konstitutiven
Aspekt der alteuropäischen Geschichte dar. Sie war u.a. eine Folge von
heftigen Auseinandersetzungen um religiöse Wahrheit und um die damit jeweils
legitimierten gesellschaftlichen und politischen Ordnungsmodelle. Religiöse
Pluralität mündete deshalb immer wieder in die Herausbildung unterschiedlicher
'religiöser Kulturen', die sich nicht selten erst in längerfristigen
Prozessen der Abgrenzung gegenüber und Ausgrenzung von konkurrierenden
Gruppierungen und Bedeutungswelten konstituierten. Auf welche Weise und
in welchen Begriffen – nicht zuletzt auch von 'Religion' bzw. 'Kultur' selbst –
sind solche Prozesse überhaupt angemessen zu beschreiben? Wie ist im Spannungsfeld
religiöser Differenzen und Konvergenzen mit Hilfe der Kategorie
Geschlecht zu arbeiten? Wie können Geschlechtergeschichte und andere Forschungsansätze
so miteinander verknüpft werden, dass wir der spezifisch europäischen
Geschichte der Pluralität neue Aspekte und Einsichten abgewinnen?
Im Horizont solcher Fragen sollen im Folgenden zunächst einige übergreifende
systematische Überlegungen angestellt werden.