Müller / Pschichholz | Gewaltgemeinschaften? | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 12, 283 Seiten

Reihe: Krieg und Konflikt

Müller / Pschichholz Gewaltgemeinschaften?

Studien zur Gewaltgeschichte im und nach dem Ersten Weltkrieg
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-593-44952-4
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Studien zur Gewaltgeschichte im und nach dem Ersten Weltkrieg

E-Book, Deutsch, Band 12, 283 Seiten

Reihe: Krieg und Konflikt

ISBN: 978-3-593-44952-4
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das massenhafte Sterben und die industrielle Kriegführung während des Ersten Weltkriegs führten zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft in der Armee wie in der Zivilgesellschaft. Anhand konkreter Beispiele aus den am Krieg beteiligten Ländern beleuchtet dieser Band Konflikte zwischen Zivilisten, staatlichen Akteuren und militärischen Verbänden in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Er geht der Frage nach, inwieweit solche Konflikte mit dem Konzept der Gewaltgemeinschaften zu analysieren sind, in denen sich einander oft fremde Menschen (spontan) zu hochmotivierten Gruppen mit einem gemeinsamen Gewaltziel zusammenschlossen. Die Beiträge zeigen, wie solche Gewaltgemeinschaften entstanden, wie sie kommunizierten, wieder zerfielen und was sie bewirkten.

Sven Oliver Müller, PD Dr. phil., ist Forschungsstipendiat der Gerda Henkel Stiftung und Lehrbeauftrager an der Universität Tübingen. Christin Pschichholz, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt der Universität Potsdam.

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Gewaltgemeinschaften und staatliches Ordnungsdenken: Das deutsche Militär in Osteuropa 1918/19
Peter Lieb 1.Einleitung
Zu Beginn sei eine These vorangestellt: Bei einem Vergleich der drei großen kriegführenden Mächte in Osteuropa zwischen 1914 und 1917 – also Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland – scheint sich nach den bisherigen Erkenntnissen das Deutsche Reich in der Entgrenzung des Krieges noch am ehesten zurückgehalten zu haben.39 Das deutsche Militär führte einen weniger gewaltsamen Krieg gegen die Zivilbevölkerung und behandelte seine Kriegsgefangenen besser als Österreich-Ungarn und vor allem Russland. Wenn man – hypothetisch – 1916/17 neutralen Beobachtern der Ostfront die Frage gestellt hätte, welche der drei kriegführenden Großmächte 25 Jahre später die jüdische Bevölkerung systematisch vernichten und für weitere massive ethnische Säuberungen in Osteuropa verantwortlich sein würde, so hätten diese Beobachter wohl häufiger auf Russland verwiesen als auf das Deutsche Reich. Doch die Entwicklung der Geschichte lief bekanntlich anders; das Deutsche Reich führte ab 1939 zunächst in Polen und dann vor allem ab 1941 gegen die Sowjetunion einen Vernichtungskrieg. Trotz der soeben genannten These bleiben Fragen: Gab es für diesen Vernichtungskrieg von 1939/41 bis 1944 bereits im Ersten Weltkrieg einen direkten oder indirekten Vorläufer? Welche Kontinuitäts- oder Entwicklungslinien lassen sich für die Gewaltkultur des deutschen Militärs vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg ziehen? Welche Rolle spielte der Erste Weltkrieg für den Erfahrungshorizont der Nationalsozialisten und der Militärs im Zweiten Weltkrieg? All dies sind Fragen, die in der Forschung nicht neu sind.40 Für diese Fragen erscheinen zwei Episoden deutscher Ostpolitik in der Endphase des Ersten Weltkrieges von besonderem Interesse für die Gewaltgeschichte des deutschen Militärs: Die Besetzung der Ukraine durch die Mittelmächte 1918 sowie die Kämpfe deutscher Freikorps und auch regulärer Truppen im Baltikum 1919. Lassen sich also die Ukraine 1918 oder das Baltikum 1919 als missing link für die deutsche Kriegführung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg ausmachen? Dieses Problem soll anhand folgender Schwerpunkte untersucht werden: Erstens, die Behandlung des gefangenen Gegners; zweitens, dem Umgang mit der Zivilbevölkerung; drittens, der Einfluss des Anti-Bolschewismus und des Antisemitismus. 2.Politischer Kontext und Charakter der Kriege
Vorab einige Beobachtungen zum politischen Kontext und zum Charakter des Krieges in der Ukraine 1918 und des Baltikums 1919:41 Beide Regionen waren sowohl Teil der deutschen Ostexpansion im Zeitalter des Ersten Weltkrieges als auch Teil eines Unabhängigkeitskrieges sowie Teil des Russischen Bürgerkrieges. Beide Male wurden die Deutschen von der jeweiligen nationalen Regierung als Schutzmacht gegen die Bolschewiki ins Land gerufen. Und beide Male fehlte eine klare deutsche Strategie gegenüber dem jeweiligen Land, wobei vor allem unklar blieb, wie stark der direkte deutsche Einfluss auf die Landespolitik sein sollte. Unterschiedlich war aber die staatliche Kontrolle durch die Reichsregierung über die Truppen im Land. In der Ukraine 1918 waren es reguläre staatliche Verbände und damit das offizielle Exekutivorgan der deutschen Reichsregierung. Im Baltikum 1919 war die Sache vielschichtiger. Anders als häufig angenommen, gab es dort nicht nur Freikorps42, sondern drei Arten von Verbänden. Erstens entsandte die Reichsregierung mit der 1. Garde-Reserve-Division einen regulären Großverband ins Baltikum. Ähnlich verhielt es sich auch mit der »Eisernen Division«, die sich aus Soldaten des sich zurückziehenden Ostheeres rekrutierte.43 Diese Soldaten waren allesamt aus freien Stücken im Osten. Dies galt auch für die zweite Gruppe von militärischen – oder hier besser: paramilitärischen44 – Verbänden, die Freikorps. Hierbei handelte es sich um Freiwillige, die durch Siedlungsversprechen angelockt, im Baltikum ihr Glück versuchten. Schließlich gab es, drittens, noch die Baltische Landeswehr.45 Sie rekrutierte sich aus den ortsansässigen Deutschbalten und war zunächst die Streitkraft der bürgerlichen lettischen Regierung, meuterte aber später gegen diese. Die Ereignisse in der Ukraine 1918 lassen sich in zwei Phasen unterteilen: Der sogenannte Eisenbahnfeldzug zur Besetzung des Landes von Februar bis Anfang Mai 1918 war die erste Phase;46 hier war der Gegner die ukrainischen Bolschewiki. Die zweite Phase dauerte bis November 1918 und gilt als eigentliche Besatzungszeit. Hier kam es regional zu einigen Bauernaufständen, die ihren Ursprung in sozialen Spannungen hatten und von den Bolschewiki unterstützt wurden. Der Gegner der deutschen Besatzungsmacht waren mithin klassische Aufständische, aber auch anarchistische Gruppierungen. Die Entwicklung im Baltikum 1919 lässt sich in drei Phasen einteilen: Die erste dauerte von Januar bis April 1919, als die deutschen bzw. deutschbaltischen Truppen gemeinsam mit der bürgerlichen lettischen Regierung gegen die Bolschewiki kämpften. Die zweite Phase ging von Mai bis Juni 1919, als die Deutschen gegen Bolschewiki und bürgerliche lettische Kräfte kämpften. Und die dritte begann, als nach dem Befehl der deutschen Reichsregierung im Juni 1919 ein Teil der Baltikumstruppen meuterte und sich der »weißen« Westrussischen Befreiungsarmee anschloss. Gegner waren hier erneut lettische Bürgerliche und die Bolschewiki. Zwar gab es im Baltikum eine Art Frontlinie, doch erinnerte dieser Krieg viele Zeitgenossen an Kolonialkriege mit vielen kleinen Gefechten. Der Gegner waren – ähnlich wie in der Ukraine – einerseits halbreguläre Einheiten an der Front und andererseits irreguläre Kräfte im Rücken. Heute würde man diese Art des Krieges wohl als »hybriden Krieg« bezeichnen, also eine Mischung aus regulärem und irregulärem Krieg, wobei auch privat organisierte Gruppierungen ohne spezifische politische Ausrichtung als Gewaltakteure auftreten können.47 Um den großen Unterschied herauszustreichen: In der Ukraine 1918 operierten die deutschen Truppen in festen militärischen Hierarchien als reguläre Streitkräfte der deutschen Reichsregierung. Im Baltikum 1919 war es eine Mischung aus regulären Truppen und paramilitärischen Verbänden, bestehend aus Reichsdeutschen und örtlichen Deutschbalten. Sie entzogen sich weitgehend der Kontrolle einer staatlichen Regierung und machten häufig ihre eigene Politik. 3.Behandlung des gefangenen Gegners
Als die deutschen Truppen im Februar 1918 in die Ukraine einmarschierten, hatten sie zunächst keine klaren Befehle, wie mit den gefangenen Bolschewiki zu verfahren sei. Offenbar lag die Entscheidung bei der Truppe selbst. Im März 1918 gab es allerdings dann einen zentralen Befehl, sämtliche bewaffnete – Betonung: bewaffnete – Bolschewiki umgehend zu erschießen. Das offizielle Argument war, dass die Bolschewiki keine regulären Kombattanten seien.48 Juristisch gesehen, lag die deutsche Seite damit nicht unbedingt falsch, denn in der Tat war es zweifelhaft, ob die Bolschewiki die Bedingungen der Haager Landkriegsordnung erfüllten.49 Ein Punkt ist hierbei wichtig: In der Ukraine war die politische Lage extrem unübersichtlich. Viele rivalisierende Gruppierungen verschiedenster politischer Couleur wie Bolschewiki, Sozialrevolutionäre oder Anarchisten, aber auch kriminelle Banden versuchten, die Macht in den Dörfern und Städten an sich zu reißen.50 Da diese Gewaltgemeinschaften sich äußerlich häufig gar nicht voneinander unterschieden, war es für die Truppen der Mittelmächte meist gar nicht möglich, zu erkennen, mit wem sie es gerade zu tun hatten. Selbst die einheimische Bevölkerung konnte häufig keine rechte Unterscheidung treffen und berichtete den deutschen Truppen allerorts von Bolschewiki.51 So diente der Begriff »Bolschewisten« mitunter als Kategorie, um den Feind besser greifbar zu machen. Hinzu kamen Bedrohungsängste im Rücken der Front, wie ein Befehl der deutschen 9. Armee zeigte, der...



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