Münkler / Hacke | Wege in die neue Bundesrepublik | Buch | 978-3-593-38896-0 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 13, 241 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 214 mm, Gewicht: 304 g

Reihe: Eigene und fremde Welten

Münkler / Hacke

Wege in die neue Bundesrepublik

Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-593-38896-0
Verlag: Campus Verlag GmbH

Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989

Buch, Deutsch, Band 13, 241 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 214 mm, Gewicht: 304 g

Reihe: Eigene und fremde Welten

ISBN: 978-3-593-38896-0
Verlag: Campus Verlag GmbH


Nach 1989 musste die Bundesrepublik ihr Selbstbild und ihre historische Tradition neu definieren. Dass Adenauer zum bedeutendsten Deutschen gewählt, die Erinnerung an 68 gepflegt oder sich mit dem 'deutschen Herbst' beschäftigt wird, belegt den neuen Umgang mit der eigenen Geschichte. Die Beiträge beleuchten die politisch-kulturellen und ideengeschichtlich relevanten Debatten, auch diejenigen über Patriotismus und Leitkultur.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Einleitung
Herfried Münkler und Jens Hacke

Politische Mythisierungsprozesse in der Bundesrepublik: Entwicklungen und Tendenzen
Herfried Münkler und Jens Hacke

Epilog oder Epoche? (Rück-)Blick der deutschen Geschichtswissenschaft vom Zeitalter der Zweistaatlichkeit bis zur Gegenwart
Edgar Wolfrum

Staatsbilder: Einige Konzeptionen des Staates in der Soziologie und Sozialphilosophie der Bundesrepublik
Jens Hacke

Die Bundesrepublik Deutschland als "Gesellschaft": Letztbegriffe kollektiver Selbstdeutung
Clemens Albrecht

Nation, Verfassungspatriotismus, Leitkultur: Integrationsbegriffe vor und nach 1989
Jan-Werner Müller

Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal? Repräsentationen des toten Soldaten in der Bundesrepublik
Manfred Hettling

"Ein Ort, an den man gerne geht": Das Berliner Holocaust-Mahnmal
Erik Meyer

Bundesbilder: Debatten um die künstlerische Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes und das Selbstbild der Berliner Republik
Ute Pannen

Volksaktie und Dax Populi: Politische Mythen als ökonomische Handlungsressource
Eva Hausteiner

Wirtschaftskampagnen und kollektive Selbstbilder: Von der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" bis zu "Du bist Deutschland"
Rudolf Speth

Autorinnen und Autoren


Nation, Verfassungspatriotismus, Leitkultur:

Integrationsbegriffe vor und nach 1989
Jan-Werner Müller

Begriffe haben [.] eine andere zeitliche Binnenstruktur als die Ereignisse, die sie auslösen helfen oder die sie erfassen sollen. Reinhart Koselleck

Integration - ein Reizwort und, so möchte man meinen, zwar kein deutschstämmiges, aber doch ein sehr deutsches Wort: Wohl kaum eine andere europäische Gesellschaft hat sich in der Nachkriegszeit so intensiv, so breitenwirksam und auf theoretisch so hohem Niveau um Integration gesorgt und immer wieder - fast schon wie besessen - zu ergründen gesucht, was sie im Innersten zusammenhält: Die langen Schatten von Weimar (oder, wie es manchmal heißt, das "Weimar- Syndrom"), die deutsche Teilung, das Ideal der "wehrhaften Demokratie" und die ideologisch zugespitzten Konflikte um 1968, den Terror der Siebziger sowie die Friedensbewegung - all dies ließ sich in der politischen Sprache von "Integration " oder auch "Stabilität" und "Sicherheit" verhandeln. Es ist denn auch kein Zufall, dass der meistzitierte Satz im deutschen politischen Denken nach 1945 die Integrationsfrage stellt: Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Kurz, Integration ist einer der wichtigsten semantischen und philosophischen Schlüssel, um die Geschichte der alten Bundesrepublik zu begreifen.

Im Übergang von der Bonner zu Berliner Republik sind nun drei Entwicklungen bemerkenswert: Zum einen die Kontinuität in der politischen Sprache, in den Gedanken-, Deutungs- und wohl auch Gefühlsmustern, welche in der Diskussion und auch im Streit um Integration immer wieder ins Spiel kommen. Diese Kontinuität verdeckt jedoch gleichzeitig zwei grundlegende Veränderungen: Zum einen die Tatsache, dass, was einige der Integrationsfragen der Bonner Republik angeht, heute weitgehend Konsens herrscht; zum anderen, dass sich die Herausforderungen, auf welche verschiedene Integrationsbegriffe eine Antwort sein wollen, heute grundlegend gewandelt haben. Gleichzeitig sind die "neuen Integrationsfragen" - nämlich nach innerstaatlicher Integration von Minderheiten und nach supranationaler Integration auf europäischer Ebene - heute in keiner Weise mehr deutsche Besonderheiten, sondern stellen sich so gut wie allen westeuropäischen Gesellschaften. Zugespitzt ließe sich sagen: Die Berliner Republik wird mit Integrationsherausforderungen konfrontiert, die sehr viel wirklicher und dringender sind als die der Bonner Republik - welche sich nicht nur im verklärenden Rückblick als einHort von Stabilität und politischerHarmoniesuche darstellt. Diese neuen Herausforderungen werden jedoch größtenteils immer noch mit dem Vokabular der alten Bundesrepublik verhandelt - was es nicht nur erschwert, plausible politische Antworten zu finden, sondern auch, wahrzunehmen, dass es jenseits des Streits über Worte durchaus eine Konvergenz hin zu einem gemeinsamen Begriff bzw. einer Schnittmenge von Integrationsideen gibt.

Was geblieben ist (und was nicht)

Auf den ersten Blick fällt dem Beobachter vor allem die Kontinuität der politischen Sprache ins Auge: Noch immer bestimmen ganz ähnliche begriffliche Gegenüberstellungen die Debatten, so zum Beispiel "blutleerer" Verfassungspatriotismus im Kontrast mit der - so muss man annehmen - "vollblütigen" Nation. Ernst-Wolfgang Böckenförde bezeichnete das Konzept des Verfassungspatriotismus bereits in den achtziger Jahren als "blassen Seminargedanken"; MartinWalser befand in einer Generalabrechnung mit dem "polit-masturbatorischen Modeton " dieser Dekade: "Das Wort riecht nach dem Abfindungslabor, aus dem es stammt." Fast zwanzig Jahre später, Anfang 2006, urteilte Joachim Fest in einem seiner letzten Interviews, Verfassungspatriotismus sei nun einmal eine jener "Professorenideen", welche "am Schreibtisch erdacht und dann von anderen Professoren diskutiert werden und dann allmählich wieder versanden" - um dann hinzuzufügen: "Eine schöne Idee - aber sie funktioniert nicht, weil die Menschen nicht so fühlen."

Die gefühlige Nation und eine wie immer vernünftiger geartete, aber eben auch gefühlskältere, irgendwie "künstliche" (weil laborerzeugte) Alternative - um diesen Gegensatz kreisen die deutschen "Identitätsdebatten" offenbar seit Jahrzehnten. Und ebenfalls seit Jahrzehnten laufen diese Debatten im Modus der Sozialpsychologie leer: Selbstbewusstsein oder die Fähigkeit, sich als Nation zu finden (wobei man sich offenbar auch "verlieren" kann), erscheinen als offensichtlich erstrebenswerte Ziele. Weniger direkt diskutiert wird die vermutlich wichtigere Frage, aufgrund welcher politischen Prinzipen und konkreter staatlicher und bürgerlicher Praxis Deutsche sich gemeinsam definieren oder auch zusammenfinden können. Man ist versucht zu behaupten, im gefühligen Reden über die Nation, die sich selber "anzunehmen" habe, feiere das Unpolitische in Deutschland immer wieder fröhliche Urständ.

Gleichzeitig verdeckt die Kontinuität in zentralen Begriffen und die von allen politischen Seiten geteilte gefühlige Rhetorik tiefgreifende Veränderungen der Fragen, auf welche verschiedene Integrationsbegriffe Antworten geben sollen. In den achtziger Jahren war die Frage nach Integration vor allem eine Suche nach "nationaler Identität" in einem geteilten Land, also nach einer eigenständigen bundesrepublikanischen Identität Westdeutschlands. Konkreter war die Frage nach "Westintegration" (mit "Neutralität" als vager Alternative), denn bekanntlich wurde der Grad an Westintegration eng mit Veränderungen im Geschichtsbild der Westdeutschen verknüpft: Der Historikerstreit war - daran darf man noch einmal erinnern - deshalb ein Streit um ein mögliches kollektives Selbstverständnis im Verhältnis zumWesten und zur eigenen Vergangenheit, nicht um historische Forschung.

Spätestens seit dem Umzug der Regierung nach Berlin - und damit dem quasi-offiziellen Beginn der Berliner Republik - sind diese Art von Integrationsfragen wohl abschließend beantwortet worden: Deutschland ist ein geeintes Land ohne Gebietsansprüche außerhalb seiner Grenzen, auch wenn Zweifel bestehen, ob denn die "innere Einigung" in absehbarer Zeit wirklich gelingen wird. An seiner Westintegration - im Sinne der Mitgliedschaft in NATO, EU und "westlicher liberal-demokratischer Wertegemeinschaft" - will niemand rütteln. Der letzte intellektuell-politische Versuch, die "Westbindung" systematisch in Frage zu stellen - unternommen von der kurzlebigen Neuen Rechten Mitte der neunziger Jahre - scheiterte spektakulär. Nach dem Kosovo-Einsatz der Bundeswehr wiederum wurde deutlich, dass Deutschland nun umfassend - also auch militärisch - in denWesten integriert war und innerhalb desWestens keine Sonderrolle aufgrund seiner Vergangenheit spielen würde. Das Problem ist offensichtlich, dass der Begriff desWestens an sich unscharf geworden, wenn nicht gar unheilbar zerbrochen ist. Aber dies ist eine ganz andere Integrationsfrage als die nach möglichen deutschen Sonderwegen.

Es wäre unangemessen zu behaupten, es sei jetzt ein für alle Zeit verbindliches deutsches Geschichtsbild gefunden worden - ein gänzlich "integriertes Geschichtsbild " kann es sogar im totalitären Staat nicht geben. Doch haben sich die Extreme abgeschwächt, und die Spitzen, die sich noch in den achtziger Jahren immer wieder gegen die vermeintliche "Hypermoral" der Vergangenheitsbewältigerer richteten, sind stumpf geworden. Für das rechte Spektrum war der sogenannte "Fall Hohmann" eine symbolisch wichtige Zäsur; die Linke wieder um näherte sich Schritt für Schritt einem aufgeklärten Begriff von Nation an - und nahm Abstand von der Maxime, der Nationalsozialismus habe alles Nationale ein für allemal so sehr kompromittiert, dass allein die politische Auflösung Deutschlands in einem geeinten Europa moralisch zu rechtfertigen sei. Kurz: Die Linke pflegt nicht länger eine Art "negativen Nationalismus" und hat die Ethik einer permanenten kollektiven Selbstbestrafung, wie sie beispielsweise noch von Günter Grass in den Debatten um die deutsche Vereinigung vertreten wurde, hinter sich gelassen. Darüber hinaus vollzogen viele linke Vordenker bereits in den achtziger und frühen neunziger Jahren eine Art staatspolitische (oder auch verfassungspatriotische) Wende. Fragen nach politischer Stabilität und der Regenerierung von gesellschaftlicher Solidarität wurden legitim. Zugespitzt gesagt: Erst jetzt wurde Ernst-Wolfgang Böckenförde, der die Frage nach den Voraussetzungen staatlicher Stabilität schon auf klassischeWeise gestellt hatte, zum Sozialdemokraten. Gleichzeitig verabschiedete sich die Rechte von dem Mantra, Deutschland sei kein Einwanderungsland, und von der Illusion, alle Gastarbeiter würden eines Tages wieder brav in ihre Heimatländer zurückkehren. Lebenslügen, welche für Rechts- und Linkssein in der alten Bundesrepublik geradezu konstitutiv waren, sind - oftmals ohne viel Aufheben - verabschiedet worden.


Herfried Münkler ist Professor für Politikwissenschaft an der HU Berlin. Jens Hacke, Dr. phil., arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung.



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