E-Book, Deutsch, 279 Seiten
Myeong-kwan Eine Bumerangfamilie
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86337-225-5
Verlag: Weissbooks Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 279 Seiten
ISBN: 978-3-86337-225-5
Verlag: Weissbooks Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach dem großen Erfolg des 2022 bei Weissbooks erschienenen Titels »Der Wal«, der für den International Booker Prize 2023 nominiert war, liegt nun auch der zweite Roman des südkoreanischen Autors Cheon Myeong-kwan in deutscher Sprache vor. In »Eine Bumerangfamilie« erzählt er von drei im Beruf, in der Gesellschaft und am Leben gescheiterten Geschwistern mittleren Alters, die aus materieller Not in der engen Wohnung ihrer Mutter unterschlüpfen und wieder zueinander finden müssen. Stück für Stück kommen vergangene Dinge ans Tageslicht, die unvorhergesehene Folgen mit sich bringen. Brachial komisch und spannend, aber auch voller Mitgefühl für seine Figuren offenbart Cheon auch mit diesem wilden Familien-Roman sein erzählerisches Genie.
»Ein begnadeter Geschichtenerzähler.«
Steffen Gnam, FAZ
Cheon Myeong-kwan, 1964 in Yongin geboren, heute Teil der Metropolregion Seoul. Nach Schulabschluss und Militärdienst arbeitete er als Verkäufer von Sportartikeln und als Versicherungsvertreter, bevor er sich einige Jahre lang im Filmgeschäft unter anderem als Drehbuchautor versuchte. Dann wandte er sich dem Schreiben zu und erntete mit dem Roman »Der Wal« (2004) auch international große Beachtung (Shortlist International Booker Prize 2023). Sein erneuter Abstecher in die Filmwelt zeitigte ebenfalls Erfolg: Der Thriller »Heißes Blut«, bei dem Cheon die Regie übernahm, erschien 2021 in den Kinos. »Eine Bumerangfamilie« ist sein zweiter Roman.
Weitere Infos & Material
Mutters Wohnung
Ich hatte alles verkauft, was sich zu Geld machen ließ. Als Erstes war mein zehn Jahre altes Auto dran gewesen. Nicht lange danach verkaufte ich den Fernseher, dann den Kühlschrank, die Waschmaschine und mein Notebook. Kurz darauf folgte meine Sammlung an Büchern und Videos, in meinem Zimmer lag nur noch eine alte Matratze herum. Ich hätte meinen Körper verkauft, wenn das möglich gewesen wäre, aber wer würde schon einen Achtundvierzigjährigen mit beginnendem Haarausfall haben wollen. Als mein Vermieter mich zum letzten Mal schriftlich aufforderte, die Wohnung zu räumen, gab es für mich nur noch eine einzige Option: mich von der nächsten Klippe zu stürzen. Der Anruf von Mutter kam gerade zu jener Zeit. »Hab ich dich aufgeweckt?« »Nein. Ich war wach.« »Hast du was gegessen?« »Ja.« »Wer arbeiten geht, muss ordentlich essen.« »Ich weiß.« Über mein Mobiltelefon ohne Guthaben, mit dem ich nur noch Anrufe entgegennehmen konnte, entspann sich der seit ewigen Zeiten bis aufs Komma immer gleiche Dialog. Normalerweise kam nach »Ich weiß« noch »Mach dir keine Sorgen«, aber zu dem »Mach dir keine Sorgen«-Teil war ich an diesem Tag beim besten Willen nicht in der Lage. Ich hatte nicht gefrühstückt, und morgen würde ich ultimativ meine Wohnung räumen müssen. Vielleicht spürte Mutter, dass etwas faul war, denn sie hielt kurz inne, dann sagte sie, als sei ihr plötzlich eine Idee gekommen: »Willst du nicht zum Essen vorbeikommen? Ich hab Hühnereintopf mit Reis gekocht.« In jedem dritten oder vierten Telefongespräch wurde das Repertoire unweigerlich um diesen Satz ergänzt. Meistens schlug Mutter ganz gewöhnliche Gerichte vor wie Glasnudelsalat, Bohnennudeln oder eben Hühnereintopf, die Mutter allerdings für etwas ganz Besonderes zu halten schien. Zu ihrem Bedauern war ich bisher noch auf keine ihrer Einladungen gefolgt. »Hab zuviel zu tun« oder »Vielleicht beim nächsten Mal«, das waren meine Standardantworten. Aber an diesem Vormittag sah die Lage anders aus. In dem Moment, in dem Mutter von ihrem Hühnereintopf anfing, überfiel mich nagender Hunger, ich konnte das würzige Aroma in meinem Mund geradezu schmecken, und ein wildes Verlangen, einen randvollen Topf davon restlos auszulöffeln, ergriff Besitz von mir. Ohne nachzudenken, sagte ich einfach »Ja«. »Was?«, fragte Mutter, nach den vielen Ablehnungen von meiner unerwarteten Antwort überrascht. Etwas schnürte mir kurz die Kehle zu. Dann brachte ich mit belegter Stimme hervor: »Ich mach mich jetzt auf den Weg, Mama.« * Vor kurzem hatte ich das Ende der Klippe erreicht, keinen einzigen Schritt konnte ich mehr tun. Der totale, unumkehrbare Konkurs, ausweglos, nicht einmal der schwache Schein einer Rettungslampe war in Sicht. Das war die Lage, in der ich mich befand. Für nicht kreditwürdig erklärt hatte man mich schon lange davor, von der Kaution für meine Wohnung war nichts mehr übrig, da man mir die fälligen Monatsmieten davon abgezogen hatte. Alle Leute um mich herum hatte ich um Geld angepumpt, niemandem hatte ich je etwas zurückgezahlt. Nicht einmal ein paar Scheine für ein kleines Geldgeschenk hatte ich übrig, so dass ich mich auf keiner Hochzeit oder Beerdigung blicken lassen konnte. Und wenn ich es doch einmal tat, dann ließ ich mich an Ort und Stelle volllaufen und fing Streit an mit dem Erstbesten, der mir in die Quere kam. Meine älteren Freunde von der Uni schämten sich, die jüngeren verachteten mich. Doch noch vor ihnen war es meine Frau gewesen, die das Weite gesucht hatte. Meine Frau … (Entschuldigung, aber über meine Frau möchte ich kein Wort verlieren. Nur, dass sie früher als alle anderen den Geruch der Niederlage gewittert und flugs ihre Siebensachen gepackt hatte, so viel sei hier verraten.) Sämtliche Beziehungen waren kaputt, niemand rief mich mehr an. Sogar die hyänenhaft hartnäckigen Angestellten von den Inkassofirmen, die mir so zugesetzt hatten, schienen aufgegeben zu haben. Ich isolierte mich immer weiter von der Außenwelt. Während ich mit der U-Bahn zu meiner Mutter fuhr, ging mir auf, dass mir außer dem Sprung von der Klippe noch genau eine Auswahlmöglichkeit blieb. Diese bestand darin, wieder bei ihr einzuziehen. Nicht, dass ich nicht schon vorher daran gedacht hätte. Aber die Idee war mir schlimmer vorgekommen als der Tod. Sich als Achtundvierzigjähriger von seiner über siebzig Jahre alten Mutter aushalten zu lassen – allein der Gedanke daran war mehr als peinlich, aber noch schrecklicher wurde es, wenn man die Tatsache bedachte, dass sich mein vier Jahre älterer Bruder bereits in ihrer Wohnung breitgemacht hatte. * Mutter wohnte außerhalb des Stadtgebiets in einer Vorortsiedlung, die aus alten, neben einer Bahnstrecke gelegenen Wohnblöcken bestand. Jeder der Blöcke hatte zweiundzwanzig Wohnungen, doch der Platz vor den Häusern war so eng, dass es schwierig war, sich durchzudrängen, wenn auch nur fünf Autos dort geparkt standen. Die vom Regenwasser fleckigen Fassaden waren von Rissen durchzogen, durch die man die Ärmlichkeit der Haushalte hinter den Mauern förmlich zu sehen glaubte. Die Hinterseiten der Gebäude sahen noch schlimmer aus. Als seien dem Bauunternehmer vor der Fertigstellung die Arbeiter wegen ausstehender Löhne weggelaufen, fehlte der Putz, und zwischen den Lücken in den rohen Betonwänden schauten hier und da rostige Eisenstäbe hervor. Obendrein standen Dutzende von Gasflaschen unordentlich um die Häuser verteilt herum und erinnerten an bedrohliche, die Leiber mit Sprengstoffgürteln umwickelte, zu allem entschlossene Al-Qaida-Terroristen. Beim Anblick der vor zwanzig Jahren errichteten, verwahrlosten Häuser ließ sich die Armut und Verzweiflung ihrer Bewohner nur allzu deutlich erahnen. Immerhin konnte man von Glück sagen, dass es sich bei Mutters Dreizimmerwohnung mit ihren fünfundsiebzig Quadratmetern um eine der vergleichsweise großen Wohnungen im Block handelte. Angeschafft hatte Mutter sie vor zehn Jahren mit dem Geld, das sie von der Versicherung bekommen hatte, nachdem Vater auf dem Heimweg von der Arbeit – er hatte damals eine Stelle als Pförtner in einem nahegelegenen Wohnkomplex gehabt – auf seinem Motorrad von einem Lastwagen angefahren worden und ums Leben gekommen war. Fünfundsiebzig Quadratmeter im Tausch gegen das Leben meines Vaters, so musste man es wohl sehen, aber nach ein paar Jahren dachte niemand mehr darüber nach. Ich hatte schon zwei Schalen von Mutters Hühnereintopf geleert. Es schmeckte genau wie früher. Mutters Kochkünste waren ehrlich gesagt nicht unbedingt herausragend zu nennen, doch sie schaffte es, jedes Gericht scheinbar ohne besondere Mühe und mit immer ungefähr gleichem Ergebnis hinzubekommen. Während ich schweigend weiter von dem Eintopf in mich hineinschaufelte, dachte ich, dass mehr als zwei Jahre vergangen waren, seit ich zuletzt etwas von ihr Gekochtes gegessen hatte. Mutter hätte sicherlich einen Kommentar über mein verlottertes Äußeres abgeben können, doch sie saß nur da und sah mir beim Essen zu. Sie wartete, bis ich aufgegessen hatte, und wollte mir schon eine weitere Schale vollmachen, doch ich winkte ab und stand vom Tisch auf. Fast zwei Jahre lang hatte ich Mutter nicht mehr gesehen. Davor waren es auch höchstens, drei oder vier Mal im Jahr gewesen, kurze Pflichtbesuche an Feiertagen oder zu Vaters Gedenktag, aber auch damit hatte ich fast ganz aufgehört, seit ich pleite und andauernd betrunken war. Mutter trug immer Make-up, ob zu Hause oder außer Haus, und wirkte so jünger, als sie wirklich war, doch die tiefen Schatten des Alters auf ihrem Gesicht ließen sich damit nicht verdecken. Begonnen hatte sie mit der Schminkerei erst mit über siebzig, als sie nach Vaters Tod anfing, Kosmetikprodukte an die Hausfrauen in der Nachbarschaft zu verkaufen. Ich fragte mich zwar immer, wie viel Umsatz eine alte Frau wohl auf diese Weise machen mochte, aber da Mutter ihr Geschäft auch nach zehn Jahren weiterhin betrieb, schien sie damit doch immerhin ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Zum Glück war mein Bruder nicht zu Hause. Mutters Worten nach war er Freunde besuchen gegangen, aber das glaubte ich nicht. In seiner Lage konnte mein Bruder keine Freunde oder dergleichen mehr haben. Während Mutter das Geschirr spülte, setzte ich mich auf den Fußboden vor das Sofa, rauchte eine Zigarette und betrachtete das Wohnzimmer. Zwar war es etwas eng geraten, aber dadurch besaß die Wohnung trotz der geringen Fläche genügend andere Zimmer, ein Glück in der jetzigen Situation. Durch die halb offene Tür blickte ich in das kleinste Zimmer, das neben dem Eingang lag. Ein alter Schrank stand darin, der übrige Platz war mit einem vollgehängten Kleiderständer, einem Staubsauger, einem Ventilator und diversem anderen Kram zugestellt. Da niemand ihn nutzte, schien der Raum als Kleiderzimmer und Abstellkammer zu dienen. Um mehr Platz zu gewinnen, würde man den Kleiderschrank auf dem überdachten und verglasten Balkon unterbringen können, mit dem die meisten Wohnungen in der Siedlung ausgestattet waren, überlegte ich. »Du bleibst doch noch, oder?«, fragte Mutter, als sie, mit dem Abwasch fertig, aus der Küche kam. Ob ich noch bleibe – Was meinte sie damit? Ich fragte mich, ob sie meine Absichten durchschaut hatte, und drückte mich um eine Antwort, dann zeigte sie auf einen Stapel Kosmetikkartons in einer Ecke des Wohnzimmers und sagte: »Jemand wollte sich was von den Sachen anschauen, darum muss ich mal kurz weg …« »Klar, ich bin ja da, geh...