E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Niemz Wie geht leben?
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8437-2623-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In Prozessen denken, verstehen und gesunden
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2623-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Markolf Niemz ist Biophysiker und hat einen Lehrstuhl für Medizintechnik an der Uni Heidelberg. Für seine Forschung wurde er von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit dem Karl-Freudenberg-Preis ausgezeichnet. Niemz studierte Physik und Bioengineering in Frankfurt a. M., Heidelberg und San Diego. Er war Research Fellow an der Harvard Medical School mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Bücher sind spirituelle Bestseller und beleben den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion.
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EIN REVOLUTIONÄRES WELTBILD
DIE ENTSCHEIDENDE FRAGE LAUTET: LEBE ICH ODER LEBT ES MICH?
Was ich mit Ihnen vorhabe, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit – aber eben nur fast. Aus genau diesem »fast« erwächst das ganze Buch. Worum geht es? Ich habe nichts Geringeres vor, als unser gängiges Weltbild infrage zu stellen. Fast alle Menschen halten materielle Objekte für primär in der Welt und Prozesse (Vorgänge) für sekundär. Hier sind drei einfache Beispiele: Die Sonne scheint; eine Pflanze blüht; ich lese. In allen drei Beispielen verursacht ein Objekt einen Prozess. Dieses Weltbild nenne ich im Folgenden »objektorientiert« oder auch »materialistisch«.
Als Alternative werde ich Ihnen ein »prozessorientiertes Weltbild« anbieten: Prozesse sind primär, Objekte sekundär. Hier haben Objekte keine eigene Existenz, sondern werden erst durch Prozesse erzeugt. Damit Sie diesen feinen Unterschied verstehen, wollen wir uns die gleichen drei Beispiele im prozessorientierten Weltbild anschauen. In dem, was wir »Sonne« nennen, verbrennt (physikalisch exakter: fusioniert) Wasserstoff zu Helium; hierbei wird Energie frei, die unter anderem als Licht bis auf die Erde scheint. Fällt Ihnen etwas auf? Verbrennen, Freiwerden und Scheinen – das sind alles Prozesse! Was wir »Sonne« nennen, ist also primär gar kein Objekt, sondern eine Abfolge von Prozessen.
Wollen wir uns das zweite Beispiel anschauen? Wir sind uns vermutlich alle einig, dass es etwas gibt, was blüht. Im objektorientierten Weltbild nennen wir es »Pflanze«. Je nach Erscheinungsform unterscheiden wir zwischen »Baum« und »Blume«. Im prozessorientierten Weltbild argumentiere ich ähnlich wie im Fall von »Sonne«: In dem, was wir »Pflanze« nennen, setzt Licht über Fotosynthese chemische Prozesse in Gang, die unter anderem ein Wachsen oder Blühen hervorrufen. Auch was wir »Pflanze« nennen, ist also primär kein Objekt, sondern eine Abfolge von Prozessen.
Beim »Ich« hatte ich die wenigsten Probleme, mich mit dem prozessorientierten Weltbild anzufreunden. Im objektorientierten Weltbild gehen wir stillschweigend davon aus, dass es jeden von uns einfach so gibt und dass wir beliebige Tätigkeiten – wie Lesen – ausführen können. Wie ich Ihnen in diesem Buch zeigen werde, sind es aber gerade die Tätigkeiten, die uns formen. Erst ein Lesen und zahlreiche andere Tätigkeiten machen aus Materie ein »Ich«. Schon wieder gilt: Was wir »Ich« nennen, ist also primär gar kein Objekt, sondern eine Abfolge von Prozessen.
Wie unterschiedlich diese beiden Weltbilder sind, zeigt sich insbesondere dann, wenn ich unser drittes Beispiel als provokante Frage formuliere: Verursache ich ein Lesen, oder verursacht ein Lesen mich? So schräg das auch klingen mag – um genau solche Fragen geht es. Mache ich Erfahrungen, oder macht ein Erfahren mich? Lebe ich, oder lebt es mich? Eines kann ich Ihnen schon jetzt verraten: Nach der Lektüre des Buches werden Sie eine andere Auffassung von Viren, Bakterien und Krebszellen haben. Und Sie werden sich nie mehr fragen, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war!
Lange habe ich überlegt, wie ich Sie am besten in dieses Buch einführe. Ich muss sehr behutsam vorgehen, damit es Ihnen nicht den Boden unter den Füßen wegrei------ßt. Denn es geht hier um das Fundament der Welt, in der wir leben. Nur wenige Menschen haben dieses bisher infrage gestellt. Auf welche Wahrnehmung möchten Sie am wenigsten verzichten: auf das Sehen, Hören, Tasten, Schmecken oder Riechen? Für die meisten Menschen ist es das Sehen. Und das, was wir sehen, sind zunächst Objekte! Die Netzhaut unserer Augen gilt als Teil des Gehirns, weil dort bereits eine erste Verarbeitung von Sinnesreizen stattfindet, wie zum Beispiel die Unterscheidung einer Linie von einem Punkt. Das komplexe Bild entsteht später im Sehzentrum des Gehirns. Wir sehen also zunächst nur Objekte. Erst nach vielen weiteren Verarbeitungsschritten erkennen wir, dass sich die Objekte bewegen und dass es in der Welt auch Prozesse gibt.
Es ist diese Reihenfolge – erst Objekte, dann Prozesse – die sich ganz automatisch auf unser Weltbild überträgt, weil jedes Weltbild erst über das Wahrnehmen zustande kommt. Fragen Sie mal einen blinden Menschen, wie er oder sie die Welt wahrnimmt! Die Antwort wird lauten: in erster Linie über das Hören und das Tasten. Und was lässt sich hören? Klänge! Aber Klingen ist kein Objekt, sondern ein Prozess. So »gesehen« sind blinde Menschen im Vorteil: Sie sind eher bereit, Prozesse als gleichwertig oder sogar als wesentlicher zu begreifen – vorausgesetzt, dass ihnen das Hören wichtiger ist als das Tasten. Doch für die meisten Menschen spielen Prozesse wie Klingen eine untergeordnete Rolle. Genau das will ich mit meinem Buch ändern!
Warum will ich das ändern? Niemals würde ich so viel Zeit meines Lebens in ein solches Buch investieren, wenn es hier nicht um etwas Grundlegendes geht; etwas, das meines Erachtens sogar das Potenzial hat, die Menschheit zum Positiven hin zu verändern. Es ist nicht mehr zu übersehen, wie massiv das materialistische Weltbild uns Menschen zusetzt. Bezeichnenderweise habe ich eines meiner Bücher Ichwahn1 genannt. Aber auch die Schönheit unseres Planeten Erde ist vom materialistischen Weltbild bedroht. Der Kapitalismus treibt einen so rücksichtslosen Raubbau an dieser kostbaren Perle, dass der Schaden bereits vom Weltraum aus sichtbar ist.2 All das würden wir besser machen, wenn wir unseren Lebensraum nicht als ein Sammelbecken von Objekten begreifen, sondern als einen Ort lebendiger Prozesse.
Ich bin nicht der erste Mensch, der so etwas vorschlägt. Ein leider noch relativ unbekannter britischer Mathematiker und Philosoph hat vieles von dem, was ich hier beschreibe, bereits durchdacht. Sein Werk ist jedoch keine leichte Kost, und das ist auch der Grund, weshalb kaum jemand seinen Namen kennt. Die größte Hürde für dieses neue Weltbild ist unsere Sprache. Bedenken Sie: Nicht nur unser Weltbild ist aufs Engste mit der Wahrnehmung verknüpft, sondern auch unsere Sprache. Ich hatte es schon erwähnt: »Ein Lesen verursacht mich« klingt ziemlich schräg. Sprache erweist sich aber als Schlüssel für das neue Weltbild. An genau diesem Punkt soll unser gemeinsames Abenteuer beginnen. Wir wollen den Prozessen mehr Raum in unserer Sprache geben. Es wird das tiefsinnigste Leseabenteuer sein, auf das Sie sich jemals einlassen. Versprochen!
Dummerweise stehen wir gleich zu Beginn dieses Abenteuers vor einem riesigen Problem: Ich will mit einem Buch – also mithilfe von Sprache – zeigen, dass dieselbe Sprache die Welt nicht korrekt abbildet. Wie ich anfangs schon sagte, ist das fast ein Ding der Unmöglichkeit – aber eben nur fast. Wie kann ich ein Werkzeug so einsetzen, dass ich mit seiner Hilfe dasselbe Werkzeug verändere? Dazu behelfen wir uns mit einem kleinen Trick. Wie würden Sie denn die folgende Aufgabe lösen: Ritzen Sie mithilfe einer Schere Ihren Namen in dieselbe Schere! Die Lösung lautet: Zunächst zerlegen Sie die Schere in ihre zwei Teile, und dann ritzen Sie mit einer Scherenhälfte Ihren Namen in die andere Hälfte. So ähnlich werden auch wir vorgehen. Wir zerlegen unsere Sprache in Worte und verändern diese Worte dann sprachlich.
Aus zwei Gründen werde ich im ersten Kapitel mit dem Wort »Viren« beginnen: Erstens sind sie für uns alle zurzeit das Tagesthema Nr. 1; zweitens sind sie das Paradebeispiel dafür, dass die Welt auf Prozessen beruht. Und wie funktioniert nun unser Trick? Im Grunde ist es gar nicht so schwer: Wir müssen uns abgewöhnen, in ausgetretenen P-f-a-d-e-n zu denken, und ersetzen das Substantiv »Virus« ganz einfach durch die Verbform »virend« ...
Ich heiße Sie herzlich willkommen in meinem Buch und in einer Welt, die schon im Jahr 1929 von einem scharfsinnigen Mathematiker und Philosophen treffend beschrieben wurde: Alfred North Whitehead. Ich möchte Sie einladen, sich mit dessen frischen Gedanken vertraut zu machen, was in erster Linie bedeutet, dass wir die Substantive in unserer Sprache hinterfragen werden. Nach Whitehead besteht die Wirklichkeit nicht aus materiellen Objekten, sondern aus Prozessen des Werdens. Deswegen wird seine Theorie wissenschaftlich »Prozessphilosophie« genannt. Whitehead selbst gab ihr mit 3 (auf Deutsch: Philosophie eines Organismus) den besseren Namen. Der Kosmos lebt!
Eine Pandemie bedroht uns, aber wir dürfen aus ihr lernen, wie kraftvoll Whiteheads Gedanken sind. Täglich neue Mutationen führen uns vor Augen, dass Evolution hier und jetzt geschieht. Nutzen wir die Zeit, da wir nur in großer Not bereit sind, das eigene Weltbild zu hinterfragen. In der ersten Buchhälfte werde ich die Grenzen unseres gängigen Weltbildes anhand dreier Beispiele ausloten. In der zweiten Hälfte machen wir uns Whiteheads Sicht zu eigen und entdecken die vielen Vorzüge des neuen Weltbildes.
Um Sie auf die weitere Lektüre einzustimmen, werde ich die einzelnen Kapitel kurz vorstellen. Wir starten mit einem Kapitel...