E-Book, Deutsch, 100 Seiten, E-Book-Text
Oesterle Eine Stunde ein Jude
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7776-3057-1
Verlag: S. Hirzel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten gegen Antisemitismus Von Johann Peter Hebel bis Ricarda Huch und Franz Fühmann
E-Book, Deutsch, 100 Seiten, E-Book-Text
ISBN: 978-3-7776-3057-1
Verlag: S. Hirzel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Judenhass ist alt, groß, mächtig. Die Lehre nach Auschwitz hieß einmal: 'nie wieder!' Aber noch immer wirkt das antisemitische Ressentiment wie eine Seuche bis in die bürgerliche Mitte unserer Gesellschaft. Kurt Oesterle in seinem Buch 'Eine Stunde ein Jude' zeigt überzeugend, wie Judenfeindlichkeit ästhetisch und emotional funktioniert: gänzlich empathielos. Und er zeigt auch, dass es in der deutschen Literatur der letzten 200 Jahre einen Traditionsstrang gibt, der als 'Verteidigung des Jüdischen' zu würdigen ist. Und davon erzählt Kurt Oesterle in seinem Geschichtenbuch eindrucksvoll kenntnisreich, mit viel Herz und Verstand, großem Engagement. Ein richtig wichtiges Buch.
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Vorwort »Man muss etwas tun gegen Antisemitismus!« Mit dieser Forderung sind in Zeiten wie den jetzigen so gut wie alle einverstanden. Auch wenn sie einen dabei anschauen, als wollten sie sagen: »Aber wieso ich?« Antisemitismus, so scheint mir, ist immer das Problem von anderen, nie das eigene. Wer glaubt, ihn überwunden zu haben, und das sind die meisten, der befindet sich auf der sicheren Seite und darf zum Beispiel über Israel Behauptungen aufstellen, aus denen nicht selten eine offenbar unbewusst gebliebene Judenfeindschaft hervorblitzt – während der Sprecher vor Überzeugung und Überlegenheit nur so strahlt! Ja, Antisemiten sind immer die anderen, doch lässt sich dieses Übel schließlich bekämpfen, und zwar durch Spezialisten, die wir zu unseren Delegierten ernennen. Ich dagegen möchte mit dem vorliegenden Buch jede Einzelne und jeden Einzelnen ermächtigen, sich selbst zu delegieren und sozusagen ihr eigener Antisemitismusbeauftragter zu werden. Und zwar mittels einer Selbstbegegnung beim Lesen, war doch das richtige Lesen stets der kritischen Überprüfung eigener wie fremder Humanität förderlich. Außerdem: Beim Lesen ist in der Regel jede und jeder allein – so allein wie möglicherweise in jener brisanten Situation, die sekundenschnelles Handeln erfordert, sei es mit Worten, sei es mit Taten. Frei nach Rabbi Hillel: Wer wenn nicht ich, wann wenn nicht jetzt, ein Spruch, der mir das einzig treffende Motto zu sein scheint, unter dem sich beherzt gegen Judenfeindschaft eintreten lässt. Wen also will ich ansprechen? Alle, die sich ansprechen lassen! Wohl zurecht geht man davon aus, dass manifeste Antisemiten oder Verschwörungstheoretiker, die hinter allem Schlechten »die Juden« argwöhnen, weder Argumenten noch Empathie-Angeboten zugänglich sind. Darum möchte ich versuchen, die »Gelegenheitsantisemiten« zu erreichen, sei es direkt oder auch durch Vertreterinnen und Vertreter des Lehrer-, Journalisten-, Erwachsenenbildner- oder Pfarrerberufs. Unter den »Gelegenheitsantisemiten« befinden sich viele junge Menschen, die Juden gegenüber eher ambivalent und indifferent sind, eher gehässig als hasserfüllt. Diese Gruppe ist in den letzten Jahren ständig gewachsen, und darum hat der Antisemitismus inzwischen in einer Breite wie noch nie seit der Wiedervereinigung die gesellschaftliche Mitte erreicht (Schulen gelten inzwischen als Hotspots zu seiner Verbreitung). Empathie-Mangel ist eines der Hauptmerkmale auch dieser neu aufgekommenen Judenfeindschaft, weshalb die Forschung inzwischen weniger die klassischen Mittel der verstandesorientierten Aufklärung im Kampf gegen Antisemitismus einfordert als eine »emotionsbasierte Bildung«. Das entspricht ganz und gar auch meiner Beobachtung, wenn ich mit Vorträgen oder zu Lesungen unterwegs bin. Daher meine Idee, Geschichten gegen Antisemitismus zu präsentieren, allerdings nicht in einer reinen Textanthologie, sondern mit zurückhaltenden, keineswegs den Leser oder die Leserin gängelnden Kommentaren, die auf dem Wissensstand heutiger Zeitgenossen das Phänomen Judenhass in so vielen Facetten wie möglich durchschaubar machen, kürzer: um zeigen zu können, wie diese Feindschaft ästhetisch und emotional funktioniert, so etwa am Beispiel einer Fühmann-Erzählung, in der die Psychotricks anerzogenen Judenhasses vor uns ausgebreitet werden wie die Einzelteile eines Uhrwerks. Zu den »Gelegenheitsantisemiten« zähle ich beispielsweise die nicht gerade dünn gesäten »Unschuldsantisemiten«, die sich gern in provozierender Absicht der Grenze zur Judenfeindschaft nähern – und zwar mit der Gewissheit, diese Grenze niemals verletzen zu können, weil sie sich kraft ihrer – meist linken – Weltanschauung, immun fühlen gegen jedweden Antisemitismus. Unter ihnen sind besonders viele »Israelkritiker« anzutreffen, also Leute, die ihre Judenfeindschaft politisch so sehr rationalisiert haben, dass sie diese selbst nicht mehr erkennen.1 Dann folgen die »Mutprobenantisemiten«, die voller Trotz ihre Souveränität unter Beweis stellen müssen, indem sie aussprechen, »was man als Deutscher nicht sagen darf«, weil der philosemitische Zeitgeist es angeblich verbietet; bei ihrem »Tabubruch« zittern sie gern vor Kühnheit, nicht selten auch im Rampenlicht. Dennoch – ganz erstaunlich! – sind ringsherum weit mehr judenfeindliche als judenfreundliche Äußerungen zu hören, von Tabus kann also die Rede gar nicht sein. Diesem Typus eng verwandt sind die »Wutantisemiten«, die wild aufschäumen, wenn sie sich wieder einmal selbst erfolgreich eingeredet haben, dass man als Deutscher wegen Auschwitz über so viele Jahrzehnte an sich halten musste und »jüdische Machenschaften« oder »israelisches Unrecht« nicht lautstark anprangern durfte; dank ihnen ist es nun aber endlich soweit … Ebenfalls hierher gehören die »Grenzverschiebungsantisemiten«, die es lieben, mehrdeutig zu reden und ruhig abzuwarten, wie eine – mal kleinere, mal größere – Öffentlichkeit sich um den Sinn ihrer Rede balgt, sei es im Internet, sei es im Fernsehen. Gleich, wie es für sie ausgeht, am Ende haben sie die Grenze des Sagbaren wieder einmal zu Ungunsten der Juden verschoben. Und schließlich fallen mir noch jene geradezu methodisch verfahrenden Ignoranten und Ignorantinnen ein, die den Antisemitismus für bloße Einbildung halten und weder davon hören noch davon reden wollen – so, wie bereits ihre Vorfahren von Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Juden nicht das geringste bemerkt haben. Ein weiterer Typus, für den mir allerdings kein Name zur Hand ist, wäre eine zweite Art von hartnäckig Schweigendem, der seine eigene Haltung zu Juden und Judenfeindschaft nicht kennt und auch nicht kennen will. Er oder sie äußern sich grundsätzlich nicht dazu, und zwar weil sie nicht wissen, was dazu aus ihnen herausbrechen würde. Sie fürchten das falsche Wort, das sie entlarvt; sie haben Angst vor dem Unentdeckten, das in ihnen schlummert und sie beim Sprechen verraten könnte als Teilhaber – und sei es wider Willen – des ganzen scheußlichen, aus der Vergangenheit auf sie eindringenden Antisemitismus-Komplexes. Es graut ihnen schlicht davor, dieses entsetzliche Erbe auch in sich selbst entdecken zu müssen, falls sie das Wort ergriffen; darum bleiben sie stumm, sozusagen nach außen und nach innen. In meiner Generation hat es einst viele dieser hartnäckig Schweigenden gegeben, und ich fürchte, für einige Zeit – vor allem in der Jugend – selbst zu ihnen gehört zu haben. Der beste meiner Lehrer, Hartmut Durst (1936-2017), hat mich aus dieser Schweigefalle befreit, indem er mir zu lesen gab – Celans »Todesfuge«, Frischs »Andorra«, Peter Weiss’ »Meine Ortschaft« (womit Auschwitz gemeint ist) –, um mich anschließend zum Reden darüber zu bringen, mit allerhand Fragen, Ermutigungen, auch Provokationen. So hat er mir die Angst vor der Selbstbegegnung genommen. Wer weiß, welche Haltung das verstockte, angstgeladene Schweigen schließlich aus mir hervorgetrieben hätte, wenn es nicht gebrochen worden wäre. Dafür danke ich meinem Lehrer – und der Poesie, die er mir »verordnet« hat.
Wie massenhaft antijüdische Ressentiments sich in der oder jener Gestalt inzwischen wieder Luft verschaffen und die gesellschaftliche Atmosphäre verpesten, lässt sich mit Entsetzen nachlesen in Juna Grossmanns »Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus« – ein wahres Gruselkabinett zeitgenössischer Vorurteile! Angesichts einer so mächtig wiedererstarkten Judenfeindschaft wächst die schmerzliche Vermutung, dass sämtliche Vorkehrungen des Anti-Antisemitismus der nachkriegsdeutschen Gründerjahre keineswegs einen grundstürzenden Wandel eingeleitet haben. Offenbar sind sie allenfalls Produkte der Umerziehung und der erzwungenen Neuorientierung gewesen, ganz offensichtlich besaßen sie nicht die Kraft, tiefer, breiter und umfassender zu wirken, etwa indem sie Trauer um und Empathie für die Opfer befördert hätten. Die Kraft, die dagegen wirkte, muss auf Dauer stärker gewesen sein, so etwa jenes kulturell verankerte Mitleidsverbot, das in diesem Buch mehrmals zur Sprache kommt, oder auch jene »regressiv-allergische« Abwehrhaltung, die einst der Pädagoge Hans-Jochen Gamm erkannt hat und die sich einer eingehenderen Selbstbesinnung verweigerte, weil der »Beklommenheitsstress« angesichts kaum vergangener deutscher Untaten, wie Gamm seinerzeit meinte, nur schwer erträglich war. Wie auch immer – für mich jedenfalls ist es höchst irritierend, dass in einer Bildungsgesellschaft wie der unseren – noch nie in der Geschichte besaßen so viele Deutsche so viel höhere Bildung! – antisemitische Feindseligkeit aller Schattierungen wieder derart wachsen, gedeihen und ausufern konnte wie in den letzten Jahren. Also weit und breit kein zu vernachlässigender »Nano-Antisemitismus«, um einen erst jüngst geprägten Begriff zu verwenden … Manchmal beschleicht mich sogar der trübe Gedanke, dass beinahe alles, was hierzulande nach 1945 gegen Antisemitismus unternommen wurde, nur geschah, um den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Standort wieder aufzupolieren – unter dem Motto: Wir haben Hitler überwunden, ihr könnt wieder Umgang mit uns pflegen und Geschäfte mit uns machen! Ich möchte diesen Gedanken keinesfalls wahrhaben; doch die Leichtigkeit, mit der heutzutage vielen, allzu vielen – auch zugewanderten – Landsleuten antijüdische Ressentiments von der Zunge gehen, spricht betrüblicherweise sehr dafür, dass er zutrifft. Doch geht es mir in diesem Buch nicht allein darum, das Funktionieren verschiedener Versionen der Judenfeindschaft...