E-Book, Deutsch, 707 Seiten
Ortner / Kubinger Psychologische Diagnostik in Fallbeispielen
2., vollständig übearbeitete Auflage 2021
ISBN: 978-3-8409-3110-9
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 707 Seiten
ISBN: 978-3-8409-3110-9
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Diagnostisch tätige Psychologinnen und Psychologen stehen häufig vor einer großen Herausforderung, wie sie den je nach Fragestellung spezifischen diagnostischen Prozess gestalten sollten, um eine sachgerechte Empfehlung im Sinne eines Maßnahmenvorschlages geben zu können. Die vorliegende Neuauflage illustriert anhand von 37 gänzlich neuen Fallbeispielen, wie diese Herausforderungen bewältigt werden können. Die Autorinnen und Autoren des Bandes verfügen über langjährige praktische Erfahrung in der psychologischen Gutachtenerstellung. Die Kapitel behandeln ausbildungs- und berufsbezogene, entwicklungsbezogene, forensisch-psychologische, verkehrspsychologische, klinische, neuropsychologische und gesundheitspsychologische Fragestellungen. Alle Fallbeispiele zeigen auf, dass erst wissenschaftlich fundiertes psychologisches Diagnostizieren erlaubt, eine die Problemstellung lösende Entscheidung zu treffen bzw. Maßnahmen zu ergreifen. Das Buch stellt somit auch eine ideale Ergänzung zu einschlägigen Lehr- und Handbüchern der Psychologischen Diagnostik dar.
Zielgruppe
Studierende und Lehrende der Psychologie, Psycholog_innen verschiedener Praxisfelder.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Verkehrspsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Wirtschafts-, Arbeits- und Organisationspsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie Psychologische Diagnostik, Testpsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Biologische Psychologie, Neuropsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Entwicklungspsychologie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogische Psychologie
Weitere Infos & Material
1;Vorwort und Inhaltsverzeichnis;7
2;Teil I: Einführung und beispielhafte Grundsatzbetrachtungen zum psychologischen Diagnostizieren;13
2.1;Einführung: Zielsetzung des Buches;15
2.2;Zum „Um und Auf“ psychologischen Diagnostizierens: Das Generieren von Hypothesen über fallspezifische Bedingungszusammenhänge;22
2.3;Qualitätssicherung in der psychologischen Begutachtung;31
3;Teil II: Ausbildungs- und berufsbezogene Eignungsdiagnostik;41
3.1;Abklärung des Hochleistungspotenzials – Leon, 6 Jahre;43
3.2;Schulpsychologische Beratung im Rahmen der Begabtenförderung – Oskar, 6 Jahre;56
3.3;Hochbegabtendiagnostik bei visuellen Wahrnehmungsproblemen – Marvin, 9 Jahre;69
3.4;Psychologische Diagnostik und Beratung im Rahmen der Talentsuche Mathematik – Konstantin, 12 Jahre;78
3.5;Prüfung der Studieneignung in Bezug auf den Wunschberuf in einer Maturaklasse;93
3.6;Begutachtung der Eignung als Kopilotin für eine Fluggesellschaft – Frau Z., 26 Jahre;108
3.7;Eignungsdiagnostik für den Vertrieb – Herr M., 26 Jahre;124
3.8;Berufseignungsdiagnostik bei diskontinuierlicher Erwerbsbiografie – Herr?G., 31 Jahre;135
4;Teil III: Ausbildungs- und berufsbezogene Rehabilitationsdiagnostik;161
4.1;Psychologische Diagnostik bei Schulproblemen, Verhaltensauffälligkeiten und Sprachschwierigkeiten eines Kindes mit Migrationshintergrund – Jovan, 7 Jahre;163
4.2;Diagnostik der räumlich-konstruktiven Funktionen – Viktoria, 8 Jahre;176
4.3;Förderung bei vermuteten Lernschwierigkeiten – der auf Englisch unterrichtete Gideon, 9 Jahre;188
4.4;Abklärung einer Aufmerksamkeitsstörung – Felix, 9 Jahre;202
4.5;Förderbedarf bei Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb – Marie, 9 Jahre;228
4.6;Sportpsychologische Beratung zur Wettkampfleistungssteigerung – Der Eishockeytormann P., 19 Jahre;245
4.7;Feststellung der Militärfliegertauglichkeit nach Alkoholmissbrauch in der Freizeit – Herr F., 31 Jahre;261
5;Teil IV: Entwicklungsdiagnostik im frühen Kindesalter;273
5.1;Alles gestört: Regulation, Interaktion, Bindung? Psychologische Diagnostik im Säuglingsalter – Sarah, 4 Monate;275
5.2;Entwicklungsdiagnostik schulischer Vorläuferfähigkeiten – Oscar, 5 Jahre;292
5.3;Förderorientierte Diagnostik und Beratung bei Verdacht auf das Vorliegen einer kombinierten Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten – Luisa, 8 Jahre;305
6;Teil V: Forensisch-psychologische bzw. rechtspsychologische Diagnostik;341
6.1;Psychologisches Sachverständigengutachten für das Amtsgericht/Familiengericht – die minderjährigen Kinder Hans und Marie;343
6.2;Aussagepsychologisches Gutachten – Herr C., 20 Jahre;376
6.3;Alles Schein? Aussagepsychologische Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen – Herr U., 27 Jahre;389
6.4;Forensische Prognosestellung nach dreijähriger Unterbringung im Maßregelvollzug – Herr L., 28 Jahre;402
6.5;Psychologische Begutachtung zur Frage der Lockerungseignung bei einem Strafgefangenen infolge schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen – Herr?X., 40 Jahre;418
6.6;Begutachtung zur Frage, ob noch Gefahr besteht, dass die in den Sexualdelikten zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht: Herr?T., 51 Jahre;432
7;Teil VI: Verkehrspsychologische Diagnostik;465
7.1;Verkehrsauffälligkeit ohne Substanzbeteiligung – Herr E., 28 Jahre;467
7.2;Verkehrspsychologische Begutachtung eines alkoholauffälligen Kraftfahrers – Herr?G., 49 Jahre;489
8;Teil VII: Klinische und gesundheitspsychologische Diagnostik;511
8.1;Psychologische Diagnostik auf der Akutstation bei Diagnosestellung eines kindlichen Hirntumors – Matilda, 5 Jahre;513
8.2;Klinisch-psychologische Abklärung der Ängste und des bedrückt wirkenden Verhaltens eines Mädchens – Anna, 8 Jahre;532
8.3;Neuropsychologische Gedächtnisdiagnostik nach einem Unfall – Carla, 12 Jahre;546
8.4;Neuropsychologische Diagnostik bei einem Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung und visueller Wahrnehmungsstörung – Paul, 13 Jahre;575
8.5;Neuropsychologische Diagnostik in der Langzeitnachsorge nach kindlichem Hirntumor – Frau N., 23 Jahre;595
8.6;Klinisch-diagnostische Abklärung bei massivem Selbstzweifel und großem Leidensdruck in der Ehe – die aus der Türkei stammende Frau K., 30 Jahre;615
8.7;Psychologische Psychotherapie (Verhaltenstherapie) bei paranoider Schizophrenie – Herr B., 36 Jahre;626
8.8;Neuropsychologische Begutachtung nach leichtem Schädelhirntrauma: Aggravation, Simulation oder reale Defizite? – Herr W., 39 Jahre;641
8.9;Neuropsychologische Diagnostik bei Alkoholabhängigkeit: Verdacht auf Wernicke-Korsakow-Syndrom – Frau M., 56 Jahre;660
8.10;Psychologische Abklärung zur Herztransplantation – Herr M., 64 Jahre;673
8.11;Fragliche Demenz – Herr V., 76 Jahre;682
9;Die Autorinnen und Autoren des Bandes;695
10;Sachregister;701
|20|Zum „Um und Auf“ psychologischen Diagnostizierens: Das Generieren von Hypothesen über fallspezifische Bedingungszusammenhänge
Klaus D. Kubinger Präambel: Dieser Beitrag ist geprägt durch die persönliche Erfahrung einer mehr als 40-jährigen universitären Ausbildungstätigkeit des Autors im Fach Psychologische Diagnostik. Begann alles aus der Sicht eines psychologischen Methodikers – insbesondere Statistikers und an der Item-Response-Theorie orientierten Psychometrikers –, so war doch bald klar, dass der entsprechende Ausbildungsauftrag nur dann anspruchsvoll erfüllt werden kann, wenn auch Kompetenz in der psychologischen Gesprächsführung gegeben ist und nicht bloß in der Testentwicklung: So absolvierte der Autor auch noch eine Psychotherapieausbildung (Systemische Familientherapie). Rückblickend betrachtet, fokussierte die Ausbildung zum psychologischen Diagnostizieren trotzdem darauf, die Kompetenz späterer Psychologinnen und Psychologen in der Anwendung und vor allem in der Auswahl geeigneter Tests und Fragebogen (u. dgl.) zu entwickeln. Tiefergehende Seminare zur psychologischen Begutachtung in der Fallbehandlung zeigen allerdings heute, dass Auszubildenden zu wenig Fertigkeiten vermittelt werden, mit denen innerhalb des diagnostischen Prozesses möglichst viele Hypothesen über Bedingungszusammenhänge bestimmter Gegebenheiten zu gewinnen sind. Die je Fall gegebene Fragestellung lässt sich aber nur dann wissenschaftlich fundiert beantworten, wenn alle denkbaren Hypothesen über mögliche Einflussgrößen in Bezug auf den Untersuchungsanlass aufgestellt und überprüft werden. Zwar geht der Autor in der eben erschienenen neuesten Auflage seines Lehrbuchs (Kubinger, 2019) genau darauf mit entsprechenden Übungen ein, die Studierende untereinander ohne Aufsicht durchführen können; solche Übungen gewährleisten aber noch lange nicht, dass die für die spätere Praxis erforderliche strategische Kompetenz des Hypothesengenerierens tatsächlich erlangt wird. Vorliegend seien deswegen einige Tipps gegeben. |21|1 Einleitung
Bezugnehmend auf die Definition psychologischen Diagnostizierens als einen Prozess, der mit der „Klärung der Fragestellung“ beginnt (Kubinger, 2019), geht es im Folgenden um psychologische Fertigkeiten bzw. um diagnostische „Techniken“, die dabei hilfreich sind – und zwar auch überleitend zum nächsten Schritt in diesem Prozess, nämlich der „Auswahl der einzusetzenden Verfahren“. Spätestens nach der Klärung der Fragestellung braucht es eine (erste) Liste von möglichen Bedingungszusammenhängen zwischen bestimmten (erwünschten/angestrebten bzw. unerwünschten) psychischen Erlebens- und/oder Verhaltensweisen der zu begutachtenden Person einerseits und gegebenen Umfeld-/Rahmenbedingungen andererseits: „Das Prinzip des Erstellens jeder Diagnose ist … wissenschaftstheoretisch wie folgt untermauert: Zunächst wird eine Vielfalt von idiografischen, also den Einzelfall betreffenden, Hypothesen entwickelt, wie sie im Zusammenhang mit der konkret gegebenen Fragestellung denkbar sind. Dann werden Methoden bzw. Verfahren gesucht und eingesetzt, die ein Prüfen dieser Hypothesen ermöglichen. Schließlich dienen die der Überprüfung standgehaltenen und insofern nach Popper bewährten Hypothesen der Begründung der Diagnose bzw. genauer: machen die Diagnose aus“ (Kubinger, 2019, S. 8). Das heißt, es bedarf seitens der diagnostisch tätigen Psychologinnen und Psychologen zunächst der „Vertrautheit mit einem Katalog von Einflussgrößen, die mit dem Untersuchungsanlass typischer Weise in Verbindung stehen, zum Zweck der diagnostischen Hypothesenbildung und -abklärung“ (vgl. die „Qualitätsansprüche“ bei Kubinger, 2019, S. 3). Und dann bedarf es der Qualifikation, durch Erfragen der Vorgeschichte („Anamnese“-Erhebung) und insbesondere mittels Exploration konkrete Hypothesen herauszuarbeiten – u.?U. damit auch gleich einige davon wieder zu verwerfen. Leider gibt es den eben angesprochenen „Katalog von Einflussgrößen …“ je Fragestellung nicht, jedenfalls nicht allgemein verfügbar und schon gar nicht als Standesüberzeugung der Psychologenschaft einheitlich anerkannt. Immerhin gibt es die sogenannte „Verhaltensgleichung“ von Westhoff (vgl. zuletzt bei Westhoff & Kluck, 2014) als grundsätzliche Leitlinie: Danach ist jedes Verhalten abhängig vom Organismus, von der Umgebung sowie von kognitiven, emotionalen, motivationalen und sozialen Gegebenheiten. Wenn Psychologinnen und Psychologen also bei ihrer praktischen Fallbehandlung jedes Mal alle diese sechs Verhaltensdeterminanten hypothesenmäßig berücksichtigen, dann wird ihnen wenigstens nicht grobe Fahrlässigkeit im Sinne der Berufsethischen Richtlinien des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.?V. und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.?V. zugleich Berufsordnung des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.?V. (in der von der Delegiertenkonferenz bzw. der Mitglieder|22|versammlung 2016 beschlossenen Fassung1) vorgeworfen werden können. Dort heißt es nämlich: „Psychologinnen und Psychologen … pflegen eine größtmögliche sachliche und wissenschaftliche Fundiertheit, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bei der Erstellung und Verwendung von Gutachten und Untersuchungsberichten“ – womit eine beim Begutachten erforderliche „Sorgfaltspflicht“2 angesprochen wird. Allerdings hilft das Wissen um diese sechs Verhaltensdeterminanten vor allem unroutinierten Psychologinnen und Psychologen über eine solche Absicherung hinaus wenig. Zwar führen Westhoff und Hagemeister (1997; s. auch bei Kubinger, 2019) für eine bestimmte Fragestellung („Beratung und Betreuung bei Konzentrationsstörungen – Andrea M., 20 Jahre“) beispielhaft aus, welche Hypothesen mit Bezug auf alle diese Verhaltensdeterminanten aufzustellen sind; allgemeine Regeln, wie dies je Fall und Fragestellung geschehen kann, sind aber daraus nicht abzuleiten. Sucht also die fallbehandelnde Psychologin bzw. der fallbehandelnde Psychologe über erfahrungsgeleitete Einflussgrößen in Bezug auf den konkreten Untersuchungsanlass hinaus auch noch möglichst viele andere denkbare solche, dann braucht es profunder Strategien des entsprechenden Hypothesengenerierens. Die einfachste und standardmäßig eingesetzte Strategie ist wohl die der Anamneseerhebung: „Die (psychologische) Anamneseerhebung bezieht sich auf die Vorgeschichte der konkreten Problemsituation, und zwar hinsichtlich aller grundsätzlich als relevant erscheinender biografischer, sozioökonomischer und somatischer Aspekte der untersuchten Person“ (Kubinger, 2019, S. 204). Sie kann entweder mündlich bzw. schriftlich erfolgen, ohne bzw. mithilfe standardisierter Anamnesefragebögen. Zumeist mündet eine solche Erhebung zum Zweck der Generierung von Hypothesen in eine Exploration; oder die Exploration wird gleich als entsprechende Strategie eingesetzt, sodass es erst recht um psychologische Fertigkeiten, also um diagnostische „Techniken“ geht, die diesem Zweck dienen. |23|2 Explorationsunterstützende Ansätze
Kubinger (2019, S. 203) definiert: Exploration bezeichnet die mündliche Befragung der untersuchten Person (und/oder mit ihr in Beziehung stehenden Personen) mit dem Zweck, einen genaueren Einblick in die konkrete Problemsituation zu gewinnen und damit Hypothesen über Bedingungszusammenhänge bestimmter Gegebenheiten zu bilden und/oder abzuklären. Ergänzend wird dazu ausgeführt: „– wobei diese Befragung mittels qualifizierter Gesprächsführung erfolgt.“ Mit der abstrakten Bezeichnung „qualifizierte Gesprächsführung“ wird offensichtlich, dass es – unter Einhaltung der berufsethischen Richtlinien (vgl. oben) – der Eigenverantwortlichkeit der fallbehandelnden Psychologin bzw. des fallbehandelnden Psychologen obliegt, sachlich kompetent all diejenigen Informationen zu gewinnen, die im gegebenen Fall zur Gewinnung von Hypothesen...