Buch, Deutsch, 342 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 428 g
Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964
Buch, Deutsch, 342 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 428 g
ISBN: 978-3-593-38759-8
Verlag: Campus
Der Fußball als Massenphänomen führte zur politischen und ideologischen Instrumentalisierung des Sports. Im Zentrum stand dabei der Begriff der Volksgemeinschaft. Rudolf Oswald schildert in seiner Geschichte des deutschen Fußballs von der Weimarer Republik bis in die 60er Jahre nicht nur diese Entwicklung, sondern führt uns – erstmals auf breiter Quellenbasis – ebenso in die Welt der Fans. Der Fußball erweist sich dabei als Spiegelbild gesellschaftlicher Wandlungsprozesse.
Nominiert als "Fußballbuch des Jahres 2009" von der Deutschen Akademie für Fußballkultur
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Sport | Tourismus | Freizeit Sport Sport: Politik, Ökonomie, Ökologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Sportsoziologie
- Sozialwissenschaften Sport | Tourismus | Freizeit Sport Sport: Psychologie, Soziologie, Ethik
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Sozialwissenschaften Sport | Tourismus | Freizeit Sport Ballsportarten American Football Fußball
- Sozialwissenschaften Sport | Tourismus | Freizeit Sport Geschichte des Sports
Weitere Infos & Material
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Gemeinschaft - Moderne - Popularkultur: Grundzüge einer Diskursgeschichte des deutschen Fußballsports
1.2 Forschungsstand und Quellenlage
2. Individuum vs. Gemeinschaft: Fußball im Fokus weltanschaulicher Debatten, 1919-1945
2.1 Im "Geist von 1914": Zur Fundierung der Volksgemeinschaftsidee im deutschen Sport
2.2 Im Dienste von Volk, Klasse und Konfession: Die Ideologisierung des Fußballs nach dem Ersten Weltkrieg
2.3 "Elf Freunde müßt ihr sein!": Fußball als Erziehung zur Gemeinschaft
2.4 "Ausmerzung der Gemeinschaftsfremden": Stars, professionals und jüdische Funktionäre als Feindbilder des Fußballsports in Deutschland
3. Die erlebbare "Fußball-Volksgemeinschaft" des Dritten Reiches
3.1 "Siebzigtausend wie ein Volk": Gemeinschaftsinszenierung im Stadion
3.2 Kommunalpolitik und Sport in Deutschland, 1919-1945
3.3 "Ein ganzes Volk lauscht": Die Rolle des Sportfunks im Dritten Reich
3.4 "Kanonen" und "Cracks" im Dienste des NS-Regimes: Die Instrumentalisierung des "Starkults"
3.5 Von den Zwängen erlebbarer Volksgemeinschaft: Die Macht des Fußballkonsums im Dritten Reich
4. Vergemeinschaftung "von unten": Fußballsubkulturen in Deutschland, 1920-1960
4.1 "Vereinsfanatismus" - Realität der "Volksgemeinschaft im Kleinen"
4.2 "Disziplinlose Volksgenossen": Das Gewaltpotential des Vereinsfanatismus
5. "Kein Kollektiv, das nach Schema F funktioniert": Vom "Berner Wunder" bis zur Liberalisierung des Fußballs, 1954-1964
Quellen
Literatur
Abkürzungen
2. Individuum vs. Gemeinschaft:
Fußball im Fokus weltanschaulicher Debatten, 1919-1945
In keiner Epoche der neueren und neuesten Geschichte stellt sich die deutsche Körperkultur zersplitterter und unübersichtlicher dar als zur Zeit der Weimarer Republik. Neben den traditionellen Verbänden, die bis 1933 Distanz zu den politischen Parteien wahrten, von ihren Gegnern meist als "bürgerlich" bezeichnet, gab es sozialistische, konfessionelle und ethnisch-exklusive Organisationen. Jede Richtung wurde zudem durch interne Kämpfe gelähmt. Die sozialistische Leibesübung spaltete sich Ende der 1920er Jahre in einen reformistischen, das heißt sozialdemokratischen (Arbeiter-Turn- und Sport-bund, ATSB) und in einen revolutionären, sprich: kommunistischen (Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit, KG) Flügel auf. Das konfessionelle Turn- und Sportwesen existierte sowohl in einer protestantischen ("Eichenkreuz") als auch in einer katholischen (Deutsche Jugendkraft, DJK) Variante. Unter den jüdischen Organisationen bekämpften sich der assimilatorisch gesinnte "Schild" des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF), der zionistische Makkabi sowie der Verband jüdisch-neutraler Turn- und Sportvereine (VINTUS). Die bürgerliche Körperkultur schließlich, größtenteils vereint unter dem Dach des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen (DRA), zerbrach über dem Konflikt zwischen Turnern und Sportlern - ein Gegensatz, der auch im sozialistischen und im zionistischen Lager ausgeprägt war. Das Innenleben großer Fachverbände, als Beispiel wäre der DFB zu nennen, konnte überdies von erheblichen Spannungen zwischen Reichsebene und Regionalorganisationen geprägt sein.
Doch so vielschichtig und in sich zerstritten die Leibesübung der 1920er Jahre war - in einem Punkt herrschte Einvernehmen: Von den völkischen Turnern bis hin zur extremen Linken wurde dem sporttreibenden Individuum ein Wert an sich abgesprochen. Ob vom Volk, von der Klasse oder der Konfession die Rede war, körperliche Betätigung wurde zunächst und vor allem als Dienst am Ganzen aufgefasst. Wenn es einen gemeinsamen Nenner der Weimarer Körperkultur gab, dann manifestierte er sich in einem rigiden Anti-Individualismus. Nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern dessen Pflicht zum Aufgehen in der Gemeinschaft wurde postuliert. In diesem Sinne geht es völlig an den Realitäten der deutschen Leibeserziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorbei, wenn in der Forschung beispielsweise der Arbeitersport als "Modernisierungsbewegung" (Jörg Wetterich) beschrieben wird.
Das erste der vier genannten Lager, das sich die antagonistische Philosophie des späten 19. Jahrhunderts aneignete, das heißt ein Denken, das auf dualistische Weise die Gemeinschaft der Gesellschaft gegenüberstellte, war die bürgerliche Leibesübung. Die Deutsche Turnerschaft (DT) vollzog den Anschluss an vormoderne Utopien bereits im 19. Jahrhundert, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg folgte der DRA-Sport. Angesichts von Hunger, Krankheiten und allgemeinen Mangelerscheinungen, angesichts der Abschaffung der Wehrpflicht, wurden moderne Formen der Körperertüchtigung zum Mittel der "Volksgesundung" und zum "Wehrersatz" stilisiert. Zusammengehalten wurde die Ideologisierung durch das Schlagwort von der "Volksgemeinschaft", ein Terminus, womit ursprünglich, und unter Rückgriff auf "das nationale Erweckungserlebnis der Augusttage" - den "Geist von 1914" - die Delegitimierung der wilhelminischen Klassengegensätze, nicht aber der revolutionäre Umsturz bezeichnet wurde.
Mit Beginn der 1920er Jahre traten in den Debatten der bürgerlichen governing bodies zunehmend kulturpessimistisch-organologische Begrifflichkeiten neben ältere sozialpolitisch konnotierte Gemeinschaftsmetaphern. Das Volk avancierte zum "Volkskörper", der einzelne Sportler dagegen wurde - im Anschluss an die Auffassung Max Schelers, dass "das Individuum" lediglich "Organ der Gemeinschaft" sei - zum Glied reduziert. Als idealtypischer Ort, an dem das Glied in die Reihe zurückzutreten hatte, galt die Sportmannschaft, und im Speziellen wiederum die Elf des Rasensports. Aufgrund der in hohem Maße mannschaftsdienlichen Anlage des Spiels (Größe des Feldes, Anzahl der Spieler) schien das Fußballteam wie kaum eine andere sportliche Riege geeignet, dem Individuum die Pflicht zur Unterordnung nahe bringen zu können. Von dieser Auffassung des Fußballspiels führte eine gerade Linie zum Feindbild schlechthin der "Volksgemeinschaft in Leibesübung": dem Berufsspieler, dem per se unterstellt wurde, sein materielles Wohlergehen über die Belange der Mannschaft - somit der Gemeinschaft - zu stellen.
Auch die Vordenker der sozialistischen, konfessionellen und national-jüdischen Leibesübung unterwarfen das Individuum einer Dienstpflicht. Weder im Arbeiter-Turn- und Sportbund noch in der Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit wurde Körperertüchtigung als Selbstzweck betrachtet, weder die Deutsche Jugendkraft noch der zionistische Makkabi erkannten dem Athleten einen Eigenwert zu. In allen Lagern waren Turnen und Sport auf einen höheren Zweck hin ausgerichtet - auf das "Klassenbewusstsein", auf die "Erziehung zum Kollektivismus", auf den "katholische[n] Gedanken" oder auf die "Wiedergeburt des jüdischen Volkes". Mit den verschiedenen holistischen Referenzen sind die ideologischen Unterschiede innerhalb der Weimarer Körperkultur jedoch bereits aufgezählt. Ging es um die inhaltliche Ausformulierung eines Gemeinschaftsmodells, so wurde wortwörtlich das Vokabular des bürgerlichen Sports adaptiert. Bezüglich des Sprechens über Fußball hatte diese "Strategie des Doublettierens" (Erich Geldbach) zur Folge, dass von der klerikal-reaktionären DJK bis hin zur Moskau-hörigen KG exakt das gleiche Mannschaftsideal Zitierung fand wie etwa im DFB. Weil Fußball "die Erziehung zur Disziplin und Unterordnung […] erleichter[n]" würde, so ein Organ des kommunistischen Sports, sei gerade das Rasenspiel geeignet "das Proletariat [für] seinen Klassenkampf" zu schulen. Weil er "in der kleinen Gemeinschaft […] der Mannschaft" zur "Zucht" des Sportlers beitrage, war in der Deutschen Jugendkraft zu lesen, sei Fußball eine "Tat am Volksganzen". Da er die "Erziehung des Einzelnen als wertvolles Glied der Gesamtheit" befördere, führte die Jüdische Turn- und Sportzeitung ins Feld, verfüge der "Fussballsport" über "erzieherische Werte". Im proletarischen Sport wurde bis Mitte der 1920er Jahre zudem das Bild einer klassentranszendierenden Volksgemeinschaft als Modell sozialen Ausgleichs beschworen. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zogen sich die Vordenker des ATSB auf den Sozialismus-Begriff zurück.