E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Payer Auf nach Wien
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7076-0743-7
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kulturhistorische Streifzüge
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-7076-0743-7
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von Trinkbrunnen und Leuchttu?rmen u?ber die ersten Elektrobusse bis hin zu Leuchtreklamen: In kulturhistorischen Streifzu?gen durch Wien stellt der Stadtforscher Peter Payer Alltagsfacetten genauso in den Mittelpunkt wie große Events, Warenhäuser und die ersten Feuilletonistinnen Wiens. Er entdeckt bisher Unbekanntes, geht dem 'typisch Wienerischen' auf den Grund und erkundet, wie die Weltstadt zu dem geworden ist, was sie heute ist.
Ob die Wiederentdeckung der Sommerfrische, Autofreiheit in der Innenstadt oder die Stille während der Corona-Krise: Peter Payer stellt immer neue Perspektiven und bemerkenswerte Skizzen Wiens vor. Er fu?hrt seine Leserinnen und Leser durch eine Stadt, die erst durch genaues Hinschauen erfahrbar wird - zu bislang unbeachteten akustischen Ru?ckzugsorten, außergewöhnlicher Architektur und historischen Wienbildern.
'Ein Stadtspaziergang mit Peter Payer ist eine Erlebnisreise durch Raum und Zeit.'
Peter Blau, Ö1
Peter Payer, geb. 1962, MMag. Dr. phil. Historiker, Stadtforscher und Publizist. Inhaber eines Bu?ros fu?r Stadtgeschichte, Kurator im Technischen Museum Wien. 2019 Conrad-Matschoß-Preis fu?r Technikgeschichte, 2020 Pro-Civitate-Austriae-Preis fu?r Stadtgeschichte. Vorstandsmitglied des Vereins fu?r Geschichte der Stadt Wien und des Österreichischen Arbeitskreises fu?r Stadtgeschichtsforschung.
Zahlreiche Publikationen, zuletzt: 'Stille Stadt. Wien und die Corona-Krise' (gem. mit Christopher Mavri?, 2021); 'Ludwig Hirschfeld: Wien in Moll. Ausgewählte Feuilletons 1907-1937' (Hg., 2020); 'Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens, Wien 1850-1914' (2018).
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TYPISCH WIENERISCH
Die wiederkehrende Diskussion über die Verbannung der Fiaker aus der Wiener Innenstadt verdeutlicht: Was als typisch wienerisch empfunden wird, scheint nahezu unveränderbar – um nicht zu sagen: heilig. Tief verankert im kollektiven Gedächtnis der Stadt ist daran so gut wie nicht zu rütteln. Doch allzu gerne vergessen wir, dass auch die traditionsreichsten Wienbilder historisch gewachsen sind und eine Entwicklungsgeschichte haben, die sie – mit Bedeutung hoch aufgeladen – erst zu dem machte, was sie heute für uns sind. Ob der Steffl, das Riesenrad oder eben die Fiaker, sie alle fungierten über die Zeit hinweg als wichtige soziokulturelle Projektionsflächen und trugen so das Ihre zur sich akkumulierenden Identität der Stadt bei. Ihre kritische Hinterfragung, bisweilen auch Erweiterung, ist aus historischer Sicht ebenso erkenntnisreich wie gesellschaftlich notwendig. Hat man, wie ich, regelmäßig mit Texten und Quellen über Wien um 1900 zu tun, stößt man mitunter auf recht kuriose Nachrichten aus der Vergangenheit, die einem das Wesen der Zeit und der Stadt geradezu auf den Punkt zu bringen scheinen. Nicht nur, dass die reichhaltige Publizistik jener Jahre eine Fülle an stilistisch fein geschliffenen Miniaturen hervorbrachte, auch so manche materiellen Zeugnisse vermitteln bis heute ein aufschlussreiches Bild des Alltags jener Jahre. Es folgen drei quintessenzielle Fundstücke, die das zum Klischee geronnene Image der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien auf ihre Weise widerspiegeln. »Ameisen im Apfelstrudel«
Unter diesem Titel berichtete die konservative »Reichspost« am 21. November 1913 über einen aufsehenerregenden Zwischenfall, der auf gerichtlicher Ebene gar bis zur Staatsanwaltschaft ging. Was war geschehen? Konditorei Lehmann, 1. Bezirk, Singerstraße 3, 1906 Ein Kunde eines Zuckerbäckermeisters in Wien-Fünfhaus hatte in einem Apfelstrudel Ameisen entdeckt. Friedrich Spangenmacher, so der Name des Betriebsinhabers, wurde unverzüglich wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes angezeigt und vor das örtliche Bezirksgericht zitiert. Die Zeitung berichtete über die Details: »In der Verhandlung hatte der Angeklagte angegeben, daß er alles aufbiete, um seinen Betrieb rein zu halten. Die einvernommenen Angestellten erklärten als Zeugen, daß der Meister mit unnachsichtlicher Strenge auf die von ihm angeordnete Reinlichkeit des Betriebes gesehen habe. Ferner wurde nachgewiesen, daß unmittelbar vor dem verhängnisvollen Verkaufe jenes Apfelstrudels die alljährlich zweimal erfolgte Revision durch einen Ungeziefervertilger gerade stattgefunden hatte. Spangenmacher wurde auf Grund dieses Ergebnisses des Beweisverfahrens freigesprochen.« Zwar legte die Staatsanwaltschaft Berufung gegen dieses Urteil ein, jedoch wurde diese letztlich zurückgezogen. Der Freispruch erlangte Rechtskraft. Dass es ausgerechnet diese Meldung in den Chronikteil einer Tageszeitung geschafft hatte, ist wohl nicht nur der hygienischen Übertretung geschuldet. Es war die Verunreinigung einer der köstlichsten Leibspeisen der Wiener, die die Empörung vervielfachte, galt doch der Apfelstrudel in besonderem Maße als Inbegriff einer Wiener »Schmauserei«. In der sich im Lauf des 19. Jahrhunderts herausbildenden, multinational und bürgerlich geprägten »Wiener Küche« spielte er eine zentrale Rolle und degradierte die anderen Mehlspeisen beinahe zu Statisten. So war nicht nur der renommierte Feuilletonist Paul Busson der Meinung, dass insbesondere an Sonntagen »der ausgezogene Apfelstrudel den Weihetag verherrlicht«. Zweifellos gehörte er zu den herausragenden »Pointen der Wiener Küche«, wie Habs und Rosner in ihrem vielgerühmten »Appetit-Lexikon« über Mehlspeisen vermerkten. Und dann das: Ameisen und Apfelstrudel – ein größerer Gegensatz lässt sich wohl in der als »Stadt der Phäaken« apostrophierten Donaumetropole schwer denken. Längst waren die Leidenschaft für das Genießen und eine damit verbundene spezifische »Geschmackslandschaft« zum Markenzeichen Wiens geworden, ein vielschichtiger und spannender Prozess, den der Kulturwissenschaftler Lutz Musner in einer Studie eingehend darlegte. Spätestens seit »Wien um 1900« avancierte der Apfelstrudel neben der Sachertorte und dem Wiener Schnitzel zum fixen Bestandteil jener kulinarischen Trinität, die das Eigen- und Fremdbild der Stadt bis heute bestimmt. »Mascherln der Straße«
Ein anderer, nicht weniger sinnlicher Aspekt spielte bei der großzügig angelegten Ringstraße eine Rolle: die visuelle Gestaltung und Verschönerung des Stadtbildes. Ab den 1850er-Jahren wurde an der Riesenbaustelle Ringstraße gearbeitet, die nach der Jahrhundertwende keineswegs vollendet war. Allerdings konnte man bereits eine große Zahl an »Sehenswürdigkeiten« bestaunen, wie Raoul Auernheimer, bekannter Feuilletonist der »Neuen Freien Presse«, feststellte. Aufmerksam registrierte er die Veränderungen der einstigen Kleinstadt, die so rasch »Carriere gemacht hat«. Auf der Suche nach der neuen, nunmehr deutlich großstädtischeren Physiognomie erkannte er in Wien, im Unterschied zu Berlin oder Paris, eine gesteigerte Vorliebe für das Schauen. Auf der Straße blicke man sich hier merkbar öfter um, man lächle und habe eine Vorliebe, so Auernheimer, für das »Mascherl«. Letzteres war für ihn, wie er im April 1907 schrieb, gleichsam das Signet der Stadt, Inbegriff des Hangs zum Schönen und zum Verschönern, egal ob bei der Toilette der Frauen oder den besonders ins Auge springenden Blumenkörben an den Lichtmasten: »Wien ist, außer Barcelona, hab’ ich mir sagen lassen, die einzige Stadt, in der die Beleuchtungsmasten mit Blumenkörben geschmückt sind. Bei Nacht wird es mit Licht beleuchtet, bei Tag mit Blumen. Und diese bunten, runden Körbe sind Gärten, winzige in die Luft gehängte Gärten, die sich hundertfach wiederholen, wenn man die Ringstraße hinunterblickt. Diese Körbe sind die Mascherln der Straße.« Blumenschmuck am Schwarzenbergplatz, Foto: Martin Gerlach, um 1910 Auernheimer bezog sich hier auf die hohen Masten der elektrischen Bogenlampen, die aufgrund ihrer schneckenförmigen Ausleger »Bischofsstäbe« genannt wurden und an und für sich schon ästhetisch anspruchsvoll gestaltet waren. Sie hatten nun zusätzlich im unteren Bereich einen floralen Schmuck erhalten. Dieser war erstmals im November 1905 anlässlich des Besuchs des spanischen Königs Alfons XIII. an den Lampen der Ringstraße und am Schwarzenbergplatz angebracht worden. Da die Blumenkörbe auch bei den Wienern großen Anklang fanden, wurden sie beibehalten und in den folgenden Jahren beträchtlich vermehrt. Wie sehr sie der Bevölkerung binnen kurzer Zeit ans Herz gewachsen waren, lässt sich daran erkennen, dass ihre Anbringung selbst nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs eine ungebrochene Fortsetzung erfuhr. Voll Stolz vermeldete man im Städtewerk »Das Neue Wien«, dass die Blumenkörbe an den Lichtmasten nunmehr wieder gefüllt und vermehrt würden. Ihre Zahl sei im Jahr 1926 auf insgesamt 83 gestiegen. Hoffnungsfroh blickte das »Rote Wien« den neuen Zeiten entgegen. Die Stadt mit der »ewigen Schaulust« (Stefan Zweig) hatte im Straßenschmuck ihren unverwechselbaren Ausdruck gefunden. Eine Tradition, die bis heute anhält. So kann man sich in der Währinger Straße vor dem Café Weimar nach wie vor an einem Bogenlampenmast aus der Gründerzeit in originaler Farbgebung samt Blumenkorb erfreuen, eine Privatinitiative des Cafetiers zum hundertjährigen Jubiläum seines Lokals. Und letztlich sind auch das in Mode gekommene »urban gardening« und die davon inspirierten blumengeschmückten Blechdosen an diversen Verkehrsmasten in diese Richtung zu interpretieren. Ein kleiner Stadtgarten in luftiger Höhe zur Freude und Repräsentation der Bevölkerung. Bissspuren in der Durchfahrt zur Hofburg, Foto: Peter Payer, 2018 Höfische Bisse
Den dritten und letzten, im wahrsten Sinne eindrucksvollsten Hinweis auf eine Wiener Begebenheit verdanke ich dem Kunsthistoriker und Denkmalexperten Andreas Lehne. In einem seiner Bücher beschreibt er ein Detail der Wiener Hofburg, an dem wohl nicht nur ich schon viele Male vorüberging, ohne es zu bemerken: Die Bissspuren der Hofpferde an einem Holzbalken in der Durchfahrtshalle des Leopoldinischen Traktes. In dem zwischen Innerem Burghof und Heldenplatz gelegenen Raum waren über Jahrzehnte die vom Hof benötigten Reitpferde angebunden. Beständig knabberten die Rösser an jenem Querbalken, der dort die Fahrspuren trennt. Eine mehr oder weniger bewusste Geste des tierischen Zeitvertreibs. Die Zähne gruben sich mit der Zeit immer tiefer ein, hinterließen markante Furchen und Rillen. Und sie hätten das Holz, so Lehne, wohl...