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E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Platzgumer Am Rand

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-552-05789-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-552-05789-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Mensch steigt früh am Morgen auf einen Berg. Sobald es dunkel ist, will er einen letzten Schritt tun. Schon immer lagen der Tod und das Glück für Gerold Ebner nah beieinander. Als Kind hat er seinen ersten Toten gesehen. Später hat er zwei Menschen eigenhändig den Tod gebracht: Er erlöste seine Mutter vom terrorisierenden Großvater und seinen besten Freund von dessen Leiden. Doch ist er damit zum Mörder geworden? Noch einmal entscheidet sich Gerold gegen das Gesetz und findet so sein eigenes Glück, das ihm der Tod wieder nimmt ... Fesselnd bis zum Schluss schildert der Ich-Erzähler die Ereignisse, die ihn an den Rand eines Felsens geführt haben.

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      IRGENDWANN kommt jeder an. Steht, liegt oder sitzt, wie ich jetzt hier auf dem Gipfel. Erkennt den Strich, den er unter alles ziehen kann. Hat den Punkt erreicht, wo jedes Leben dem anderen zu gleichen beginnt, jedes ein ähnlich mickriges wird, aber keines mickrig genug, und jedes sowohl zu lang als auch zu kurz. Heute ist mein Tag. Keine zehn Stunden sind es, bis die Sonne im Westen und meine Erzählung in der Dunkelheit versinken werden. Ich will aufschreiben, wie ich hierhergekommen bin. Vielleicht ist dieses Bedürfnis, mich mitzuteilen, ein Vermächtnis der christlichen Weltsicht, die von Anfang an unablässig in mein Hirn gepresst wurde. Hat meine Mutter also doch erfolgreich auf mich eingewirkt, sosehr ich mich dagegen sträubte. Der Fels ist jetzt mein Beichtstuhl und ich öffne mich Ihnen, einer oder einem Unbekannten. Vielleicht ist das feig, schwach, aber Feigheit und Schwäche, alles werde ich mir heute zugestehen. Ich darf alles, denn ich bin angekommen, nach 42 Jahren angekommen, heraufgekommen auf den Bocksberg. Wenn der Kampf den Menschen zum Menschen macht, gehört auch das Erzählen vom Kämpfen und das Beenden von Kampfhandlungen zu ihm. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Wenn nicht, was dann? Ein Südtiroler kann nicht auf einen Berg steigen, ohne den Gipfel zu erklimmen. Vor dem Ziel umdrehen kostet ihn mehr Überwindung, als dieses zu erreichen. Doch noch ist längst nicht Abend. Die Sonne ist kaum über die felsigen Bergkuppen im Südosten hinausgekommen – auch wenn sie schon vor fast zwei Stunden aufgegangen ist, um 7 Uhr 39, heute, am Donnerstag, dem 11. Oktober 2012, um präzise zu sein. Und präzise will ich jetzt sein, alles andere wäre Zeitverschwendung.     HITOTSU   Lang vor Tagesanbruch bin ich aufgestanden. Den Wecker hatte ich auf viertel nach vier gestellt, aber ich hätte ihn nicht gebraucht. Oft und lang vor dem Wecksignal war ich schon wach, konnte es kaum erwarten, bis er mich aus der Nacht befreite. Ich wusch mich, briet drei Spiegeleier mit Speck, strich dick Butter auf das Vollkornbrot, trank starken Schwarztee mit Milch und fünf Teelöffeln Zucker, machte mir Speckbrote, die mich durch diesen Tag bringen sollten, verpackte sie in Alufolie. Ich schaltete kein Licht in der Küche an. Das kleine Nachtlicht aus dem Schlafzimmer, das wir für Sarah installiert hatten, das Leuchten aus dem Kühlschrank und, was von den Straßenlaternen in die Wohnung fiel, reichten aus. Künstliches Licht habe ich nie gemocht. Den Rucksack mit allem, was ich benötigen würde, hatte ich gestern bereits gepackt. Fast hätte ich auch das Frühstücksgeschirr schon abends vorbereitet, aber Elena hatte vorausschauende Handlungen immer verabscheut, also ließ ich es bleiben. Spießig sei das, kleingeistig, fand Elena. Es zeuge von einer konservativen Einstellung, wenn man davon ausginge, dass jeder Tag das zu bringen habe, was man von ihm erwarte. Kurzsichtig sei, wer meine, den Lauf der Dinge zu kennen, wissentlich schränke er seine Möglichkeiten ein. Ich diskutierte das Thema nie länger mit ihr, aber widerstand seither meinem Impuls, am Vorabend den Frühstückstisch zu decken. Auch gestern. Die Kleidung jedoch, die ich heute trage, den Anorak, den dicken Pullover, die langen Unterhosen, Wollsocken und Thermo-Handschuhe, hatte ich auf einem Stuhl bereitgelegt. Ein Blinder sagte einmal zu mir: Solang du gut organisiert bist, spielt es keine Rolle, ob du sehen kannst oder nicht. Alles, was du ablegst und später wieder brauchst, musst du hinterlegen, wo du es wiederfinden willst. Jeden Handgriff musst du bewusst vollziehen, nichts unbedacht machen, nichts dem Zufall überlassen. Das prägte ich mir ein. Auch wenn ich nicht blind bin, verrichte ich scheinbare Nebensächlichkeiten so konzentriert, als wäre ich darauf eingestellt, von einem Moment auf den anderen zu erblinden. Alles in der Welt, die ich hinterlasse, ist an seinem Platz. In völliger Ordnung ließ ich die Wohnung in der Heldendankstraße zurück. Warum eigentlich?, fragte ich mich, während ich den Abwasch machte und den Stuhl zurück an den Tisch schob. Muss alles seine Ordnung haben, wenn einer aufbricht? Sogar das Bett machte ich, den Stoffhasen legte ich auf das Kopfkissen, das Leintuch strich ich glatt, wie meine Mutter es im Kinderzimmer getan hatte, früher, als ich noch dort schlief, und später, nachdem man den Großvater hinausgetragen hatte. Das Handtuch im Bad hängte ich säuberlich an seinen Halter, bevor ich ging. Sie werden es ja sehen, wenn Sie die Wohnung betreten. Eigentlich wollte ich, bevor ich die Wohnung verließ, Sarahs Nachtlicht löschen, wie ich es tagsüber immer tat, aber das habe ich in der Aufregung vergessen. Ich bitte Sie, schalten Sie das Lichtchen für mich ab. Ein kleiner Schiebeschalter an der rechten Seite, Sie werden ihn finden.   Die Haustür schloss sich leise hinter mir. Ich huschte die Treppen hinab, und auch auf der leeren Straße im spärlichen Licht der Laternen bewegte ich mich nahezu geräuschlos, als wollte ich niemanden stören – obgleich es eher ich selbst war, der von niemandem gestört werden wollte. Den Wohnungsschlüssel habe ich in den Briefkasten geworfen. Wenn Sie wollen, können Sie ihn mit einem Draht herausfischen. Es macht mir nichts aus, wenn Sie die Wohnung aufsuchen, im Gegenteil, ich lade Sie dazu ein. Wahrscheinlich habe ich deshalb aufgeräumt. Um halb sechs fuhr der erste Zug von Bregenz nach Dornbirn. Den Fahrschein hatte ich gestern bereits gelöst, für die gesamte Strecke, auch für den Bus Nummer 7, der mich vom Bahnhof hinauf ins Gebirgstal brachte, durch das sich die Ach schlängelt. Niemand wollte mein Ticket sehen, niemand kümmerte sich um mich. Die wenigen anderen Fahrgäste schienen noch zu schlafen oder versteckten sich hinter einer Tageszeitung. Der Busfahrer verweigerte die Welt im Allgemeinen. Ich blickte hinaus in die Dunkelheit, auch wenn ich in den Scheiben mehr das gespiegelte Innere des Busses sah. Durch das Spiegelbild eines Mannes, der sich auf seinem Weg befand, blickte ich hindurch. Es fühlte sich richtig an. Zwanzig Minuten nach sechs stieg ich aus dem Bus. Jetzt war ich am Fuß meines Berges angekommen, lang bevor die erste Seilbahn zur Bergstation des vorgelagerten Massivs hochfahren würde. Mit ihr hätte ich mir einen Teil des Anstiegs erspart, aber den vorderen, touristischen Teil dieses Wandergebietes wollte ich meiden. Stattdessen machte ich mich, ohne Zeit zu verlieren, zur hinteren, unbekannten Bergroute auf, ein einsamer Weg, der mich hinein in die schwarzen Wälder und in langen Serpentinen hinaufführte. Trotz der Dunkelheit und auch ohne Taschenlampe hielt ich einen zügigen, gleichmäßigen Schritt. Ich fiel in einen Trott, und bald wurde mir warm, obwohl mir feuchtkalte Luft entgegenschlug. Stetig gewann ich an Höhenmetern, fast ohne es zu merken. Alles um mich herum war, eine Stunde vor Sonnenaufgang, dunkel und still, die Zivilisation lag bereits weit hinter mir, alles schien richtig. Ich spürte keine Anstrengung. Mühelos trugen mich die Beine über Steine, Wurzeln, Wiesen und Bäche hinweg, immer weiter hinauf, dem Ziel entgegen. Ich hatte keine Zweifel, es war an der Zeit, den Plan, den ich seit Wochen gefasst hatte, in die Tat umzusetzen.   Bald verengte sich der Forstweg und ging in einen steil ansteigenden Pfad über. In der Dunkelheit des Waldes musste ich vorsichtig auf meine Schritte achten, mich an manch überstehendem Ast vorbeihanteln oder über umgestürzte, rutschige Stämme klettern. Manchmal verlor ich den Halt, stolperte über eine Wurzel, glitt auf einem glitschigen Stein aus. Eine Handvoll abgefallener Tannennadeln sammelte sich in meinen Schuhen und stach mir in die Knöchel. Doch ich blieb nicht stehen, um sie herauszuholen. Lieber gewöhnte ich mich an ihre feinen Stiche und blieb im Rhythmus. Mit zunehmender Höhe lichteten sich die Bäume. Als ich die ersten Hochebenen erreichte, begann sich der Nachthimmel zu erhellen, und ich konnte mein Tempo steigern. Das konturlose Schwarz über mir ging in ein metallisch, tief aus seinem Inneren leuchtendes Blau über. Hinter dem klammen Dunst, der noch zwischen den Nadelbäumen hing, zeichneten sich in der Ferne die Silhouetten der Bergrücken ab. Wie schlafende Riesen waren sie mir als Kind schon vorgekommen, nach oben blickende Scherenschnitte, die statt Haaren Bäume über Steinstirnen trugen. Ich erkannte die gewölbten Augenbrauen liegender Gesichter, ihre Nasen, Lippen und spitzen Kinnladen, die sich in den Wellungen der Hochplateaus verloren. Um mich herum begrüßten Vögel nun den anbrechenden Tag, und ich merkte, wie ich mich zu beeilen begann. Als trieben die Tiere mich an. Der mir bevorstehende, steile Anstieg auf den Bocksberg würde noch fast zwei Stunden in Anspruch nehmen. Zehntausend Schritte würde ich noch zu machen haben, hatte ich ausgerechnet, und am Gipfel würde mein Tagwerk erst beginnen. Viel hatte ich mir heute vorgenommen, und alles hing am Tageslicht, dessen Diktatur mich zu unterwerfen ich entschieden hatte. Elf helle Stunden lagen vor mir, neun sind es mittlerweile, die mir davon bleiben. Um halb sieben wird es dunkel. Danach noch ein wenig Dämmerlicht, notfalls der Lichtkegel meiner Taschenlampe, solange die Batterie hält. Dann muss ich mit meinen Aufzeichnungen fertig sein.   Der erste Tod, mit dem ich konfrontiert war, trat so still und heimlich in mein Leben, dass ich ihn jahrelang nicht bemerkte. Eines Tages trug man den Nachbarn, den alten Herrn Gufler, mit den Füßen voraus aus unserem Wohnhaus. Niemandem war aufgefallen, dass er seit mindestens einem Jahr tot war. Viele Monate verharrte er regungslos im Lehnstuhl seines Wohnzimmers, wo er mit aufgesetztem Kopfhörer vor dem Fernseher eingeschlafen und nie wieder...


Platzgumer, Hans
Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte Musik in Wien und Los Angeles, veröffentlichte Dutzende Tonträger und widmet sich heute vornehmlich der Schriftstellerei. Er schreibt Romane, Essays, Hörspiele, Theatermusik und Songs. Am Rand stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen Drei Sekunden Jetzt (2018), Willkommen in meiner Wirklichkeit! (Essay, 2019) und zuletzt bei Zsolnay seine Romane Bogners Abgang (2021) und Großes Spiel (2023).



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