Plemper | ... und nichts vergessen?! | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Plemper ... und nichts vergessen?!

Die gesellschaftliche Herausforderung Demenz
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-647-90115-2
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Die gesellschaftliche Herausforderung Demenz

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-647-90115-2
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Demenz ist eine gesellschaftliche Herausforderung! Wir dürfen den Umgang damit nicht in die Pflegeheime verbannen und nicht in den Familien verstecken. Wir reden viel über Demenz. Mehr über Menschen mit Demenz als mit ihnen. Mehr über eine ungewisse Zukunft als darüber, was in der Gegenwart zu tun ist. Mehr über befürchtete Einschränkungen als über verbleibende Möglichkeiten. Allerorten wird die alternde Gesellschaft beschworen, wird das Bild einer zunehmend verwirrten und pflegebedürftigen Bevölkerung der Öffentlichkeit präsentiert, für die immer weniger Pflegepersonen bereitstehen werden, geschweige denn das Geld, sie als Dienstleister zu bezahlen.Burkhard Plemper setzt sich aus einem anderen Blickwinkel mit der Demenz auseinander. Er stellt gesellschaftliche Reaktionen in den Mittelpunkt. Der Soziologe lässt die Leser teilhaben am ersten öffentlichen Auftritt einer inzwischen bekannten Aktivistin, die ihr Pseudonym ablegt hat und nun offen mit ihrer Demenz umgeht, an der Verzweiflung und der Hoffnung des Juristen, der trotz der mitunter erdrückenden Fürsorglichkeit seiner Frau noch ein gutes Leben haben will. Eine Demenz weckt Ängste, vor allem, wenn keine Ursache erkennbar ist. Das macht das, was als „Alzheimer“ bezeichnet wird, so unheimlich: die Furcht vor dem Kontrollverlust, vor Veränderung, gar Verfall der Persönlichkeit. Diese Angst gipfelt in der Aussage „Lieber tot als dement“, vor allem, wenn Symptome wie Verwirrtheit nicht erst in hohem Lebensalter auftreten. Wie leben Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen?Demenz ist eine gesellschaftliche Herausforderung und geht alle an. Sie ist eine Aufgabe der Zivilgesellschaft. Burkhard Plemper stellt Mut machende Ideen vor und Mut machende Menschen, die sich ihrer Demenzstellen. Gemeinsame Sorge ist so viel mehr als Pflege.
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Ich rede für mich selbst

Heute sag ich meinen Namen.

Das Outing der Demenzaktivistin Helga Rohra

Von allen Gespenstern, die umgehen in Europa, verbreitet eins besonderen Schrecken: das Gespenst der Demenz. Es erscheint als Schicksal des Einzelnen, dem zunächst der Alltag entgleitet, bevor er, seiner Persönlichkeit beraubt, nur mit Hilfe anderer überlebt. Dieses Gespenst der Demenz ist das Zerrbild einer Gesellschaft, von der es heißt, sie sei allmählich überaltert und werde die Hilfe für die vielen Verwirrten nicht mehr lange leisten können. Rund 1,7 Millionen Menschen sollen es derzeit in Deutschland sein, schätzt man bei der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft.1

Ihre Zahl könnte sich – nach dieser Schätzung – bis zum Jahr 2050 auf drei Millionen fast verdoppeln. Mit zunehmendem Alter – so werden vorliegende Daten interpretiert – soll die Wahrscheinlichkeit einer Einschränkung kognitiver Fähigkeiten steigen.2 Es mag Sie, die Leserin und den Leser3, ängstigen, dass bei über einem Drittel der Menschen über neunzig Jahren eine Demenz angenommen wird. Vielleicht lässt es Sie aber auch optimistisch in die Zukunft blicken, dass dies bei fast zwei Dritteln dieser Hochaltrigen nicht der Fall ist. Nun sagen Sie vielleicht, in einem solchen Alter sei das ja auch nicht so schlimm, aber wenn es einen schon in jüngeren Jahren erwischt …

»Ich heiße Helga Rohra – heute sag ich meinen Namen …« Eine zierliche Frau steht auf der Bühne, den Blick ins Publikum gerichtet, das Mikrophon fest in der Hand. Sorgsam wählt sie ihre Worte. Das Thema ist heikel und es fällt ihr schwer, den richtigen Ausdruck zu finden. »Vor einem Jahr – jetzt im März ist es ein Jahr – da bekam ich diese Diagnose …« fährt sie fort. Helga Rohra, damals 56, hat eine spezielle Form der Demenz. Wie die ihr Leben verändert hat, berichtet sie erstmals vor großem Publikum und mir im anschließenden Interview.4 Über 200 Interessierte sitzen in einem Saal in Stuttgart. Aus ganz Deutschland sind sie angereist. Angehörige, professionelle Helfer, vor allem aber Menschen mit Demenz, die nicht wollen, dass nur ÜBER sie geredet wird. Demenz – diese Geißel der alternden Gesellschaft – wie es oft heißt, dieser Zerfall der Persönlichkeit, bis nur noch eine leere Hülle zurückbleibt, der man eine baldige Erlösung wünscht. Dieses Vokabular des Grauens ist in Stuttgart nicht zu hören, auf dem Kongress, den sie mit Stimmig überschrieben haben. Die Veranstalter finden es stimmig, dass Menschen mit Demenz sich zu Wort melden. Und stimmig war es für die Münchnerin auch, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen: »Die Diagnose erhielt ich einfach so. Ich saß da vor meinem Neurologen und er fragte, Wollen Sie’s wissen? Und ich sagte ›Ja, ich will es wissen‹«. Der Spezialist attestierte ihr eine sogenannte Lewy-Körperchen-Demenz.5

Bekannt sind Demenzen als eine Erscheinung des hohen Alters: Zwischen dem 70. und 75. Lebensjahr wird nur bei knapp jedem dreißigsten eine solche Beeinträchtigung angenommen; bei den unter 65-Jährigen noch nicht einmal bei jedem sechzigsten. (Deutsche AlzHG Infoblatt 1 – Tabelle 1) Die häufigste Form ist das, was Morbus AlzheimerAlzheimersche Krankheit – genannt wird. Benannt ist dieses Phänomen nach Alois Alzheimer, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nach dem Tod seiner verwirrten Patientin Adele D. Veränderungen in deren Hirnsubstanz festgestellt hat.6 Selten kommt es vor, dass jemand in relativ jungen Jahren Symptome einer Verwirrtheit zeigt. Helga Rohra war erst vierundfünfzig, als die ersten Symptome auftraten:

Ich bemerkte Ausfälle … und das geht … mit so kognitiven Einschränkungen, Sie verlieren ein Vokabular, das Sie immer parat hatten. Sie meinen zuerst, Sie sind erschöpft und mein Arzt sagte, das ist ein Burnout.

Das war es aber nicht, wie am Ende einer umfangreichen medizinischen Diagnostik feststand, durch die ihre Ärzte auch Durchblutungsstörungen, eine Depression und andere behandelbare Krankheiten ausgeschlossen hatten.

Derartige Veränderungen treten nicht von einem Moment auf den anderen auf, aber irgendwann ist in der Selbstwahrnehmung eine Schwelle überschritten, und es fällt auf, dass etwas nicht stimmt.

Ich habe noch keinen passenden Ausdruck, ich sage einfach, im Frühstadium sind Sie etwas schwächer, ich sage einfach, ich schwächel etwas, wenn ich in der Gruppe bin, ja, wir sind eine große Familie, die etwas schwächelt.

Diese große Familie ist ihre Selbsthilfegruppe. Regelmäßig treffen sie sich und tauschen Erfahrungen aus, Menschen im Frühstadium einer Demenz wie die frühere Simultandolmetscherin.

Ihren Zustand bezeichnet die immer noch eloquente Mittfünfzigerin also als Schwächeln: »Vor einem Jahr schwächelte ich sehr sprachlich, ich konnte die Sätze nicht richtig bilden, ich wollte etwas sagen und ich musste umschreiben, den Begriff.« Es war für sie eine Katastrophe: Jahrzehnte hatte sie, in mehreren europäischen Sprachen zuhause, als Dolmetscherin gearbeitet, vor allem auf medizinischen Kongressen simultan übersetzt. Und dann fehlten ihr die Worte:

Ich sage, ich will meine Hausschuhe und ich sage, ich such meine Hosenschuhe, also diese Wortverstellungen, die Orientierung ist sehr eingeschränkt, vor allem räumlich, und dieses Kurzzeitgedächtnis.

Wobei sie sich aber durchaus auf unser Gespräch konzentrieren kann. Auf dem Kongress in Stuttgart redet sie mit anderen Teilnehmern, zum Beispiel mit einem Neurologen und Psychiater, den ich Jahre zuvor als engagierten Chefarzt einer Klinik für Geriatrie und Rehabilitation kennengelernt habe. Neugierig sucht er das Gespräch:

Ich bin sozusagen jetzt sehr enthusiastisch, was ich hier mithöre, mitbegleite und miterfahre, welche gute Stimmung hier ist, es ist sozusagen mitreißend, es macht richtig Spaß, hier ’rumzugehen und zu hören, dass Menschen mit Demenzen sehr wohl zurechtkommen. Sie müssen sich erheblich mühen, müssen erheblich mehr aufwenden, aber sie machen mit, und das ist noch mal begeisternd.7

Gemeinsam mit einer Sozialarbeiterin, Anleiterin einer Selbsthilfegruppe, ist er nach Stuttgart gereist:

Die hat mich auch mit dazu gebracht, mitzugehen, das ist noch mal unterstützt worden von meiner Ehefrau, die gesagt hat, Nein mach das, ich freu mich, wenn du hingehst. Und wenn du dich in die Gesellschaft mit einbringst.

Es war nämlich nicht der volle Terminkalender, der den Endfünfziger hätte abhalten können, sich mit Helga Rohra und den anderen auf dem Kongress zu treffen: »Ich bin selber Demenzkranker auch, also ich hab mich untersuchen lassen und die Diagnose war eindeutig«, nachdem andere Ursachen für seine Störungen ausgeschlossen waren. Das, was die Kollegen bei ihm als Krankheitsbild erkannten, war ihm vertraut; er hatte es bei seinen Patienten oft genug erlebt. Aber nun war er der Patient, erinnert sich der Arzt:

Das ist etwa ein halbes Jahr, ich hab einen großen Schrecken gekriegt, als ich die Diagnose kriegte, war sehr deprimiert auch. Ich hab ’ne sehr gute Familie, mit vier Kindern und ’ner sehr toughen Ehefrau, und die hat gesagt, du machst weiter da. Also du bleibst dabei und läufst nicht weg. Du stellst dich dieser Diagnose und versuchst, damit zurechtzukommen, du wirst damit zurechtkommen.

Er ist damit zurechtgekommen, aber seine Karriere als Arzt und Klinikchef war beendet, lange vor dem Zeitpunkt der regulären Pensionierung. In Stuttgart macht er auf mich nicht den Eindruck eines bemitleidenswerten Opfers eines furchtbaren Schicksalsschlages – oder wie auch immer man im allgemeinen Sprachgebrauch eine derartige Diagnose bezeichnen mag: »Das, was ich jetzt hier mitbekommen hab, die sind ja noch viel schwerer betroffen, ich bin ja noch am Anfang, und das macht Mut.«

»Was ist das Problem?«, habe ich mich zunächst gefragt, als ich mit ihm und Helga Rohra ins Gespräch gekommen bin und sie interviewt habe. Das gelegentliche Ringen um Worte, die mitunter unklare Ausdrucksweise, das Versiegen des Redeflusses mitten im Satz ist etwas, das mich auch im Gespräch mit anderen Menschen bisweilen irritiert. Die immer noch beeindruckende Eloquenz dieser beiden Unter-Sechzig-Jährigen hätte sicherlich auch manch Jüngerer gern – im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Natürlich ist es einfacher, sich zu Wort zu melden, wenn man am Ende eines Satzes den Anfang nicht verloren hat. Aber auch daran kann man sich gewöhnen – wie Helga Rohra:

Mitten im Redefluss weiß man dann nicht mehr, weiß ich dann nicht mehr, was ich sagen, weitersagen möchte, aber wenn Sie den richtigen Gesprächspartner haben, der, ›ah, du hast ja davon gesprochen‹ sagt. Dann ist es so wie ein Link, wissen Sie, und dann kann es wieder weitergehen.

Diese schlichte Berücksichtigung von Schwierigkeiten in der Kommunikation – ohne dem Gegenüber mit demonstrativer Rücksichtnahme das Gefühl zu geben, es nicht ernst zu nehmen – präge den Kongress, erklärt der Veranstalter Peter Wißmann:

Wir wollen dem Gedanken eine Tür öffnen, dass Menschen mit Demenz nicht nur das sind, was sich die meisten Menschen vorstellen, Kranke, Hilfebedürftige etc., sondern viele, viele Hunderttausende Menschen, die durchaus in der Lage sind, ihre Interessen selber zu vertreten. Zu sagen, was sie sich wünschen, wie sie ihre Situation erleben.

Das bedeutet, dass trotz aller kommunikativen Schwierigkeiten Menschen mit Demenz das Programm mitgestaltet haben. Dabei war es – wie bei anderen Veranstaltungen auch – die...


Plemper, Burkhard
Burkhard Plemper ist Soziologe, freier Journalist, Filmemacher und Moderator, berichtet für Fernseh- und Hörfunkredaktionen der ARD, lehrt an einer Hochschule für Soziale Arbeit, hat früher in der Justiz mit Straftätern gearbeitet und zur Situation von Opfern geforscht. Er produziert Informationsfilme für soziale Einrichtungen, moderiert die Diskussions-Sendung „Redezeit“ auf NDR-info sowie zahlreiche Veranstaltungen und Kongresse. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Gesundheits- und Sozialpolitik, vor allem die Situation der Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen. Er arbeitet – ehrenamtlich – im Vorstand der Aktion Demenz. 1983 ist er mit dem Preis „Reportagen aus der Arbeitswelt“ für einen Bericht über seine Arbeit in der Justiz ausgezeichnet worden, im Jahre 2002 für sein Hörfunkfeature „Leben bis zum letzten Atemzug“ über eine Palliativstation mit dem Deutschen Sozialpreis.



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