E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Polster / Roberts / Doubrawa Das Herz der Gestalttherapie
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7481-0422-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beiträge aus vier Jahrzehnten
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-7481-0422-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erving Polster und seine 2001 verstorbene Frau Miriam zählen zu den international bekanntesten Gestalttherapeut*innen. In mehr als 40 Jahren haben sie Gestalttherapeut*innen auf der ganzen Welt ausgebildet und in besonderer Weise geprägt: Immer wieder machten sie deutlich, dass es Wohlwollen und Achtung durch die Therapeut*innen sind, die es den Klient*innen in der Gestalttherapie ermöglichen, sich zu öffnen und so neue, bereichernde Erfahrungen zu machen. Aus ihrer therapeutischen Arbeit und ihrer Lehrtätigkeit sind Publikationen hervorgegangen, welche zu den Klassikern der Gestalttherapie zählen. Ihre wichtigsten Beiträge sind in diesem Buch versammelt und werden allen ans Herz gelegt, die sich professionell und/oder persönlich weiterentwickeln möchten.
Erving Polster, Ph.D. (geb. 1922) gehört zu den bekanntesten Gestalttherapeuten der Welt. In den 1970er Jahren veröffentlichte er - gemeinsam mit seiner 2001 verstorbenen Ehefrau Miriam - das Grundlagenwerk "Gestalttherapie: Theorie und Praxis der integrativen Therapie". Doch schon weit länger war er u.a. im Rahmen des von ihnen gemeinsam geleiteten Gestalt Training Center San Diego/Kalifornien als Gestalttherapeut und Ausbilder tätig. Aus seiner intensiven Therapie- und Lehrtätigkeit sind zahlreiche weitere Veröffentlichungen hervorgegangen - u.a. die hier folgende Sammlung ihrer Artikel zur Praxis der Gestalttherapie. Weitere Beiträge in deutscher Sprache erschienen in der Gestalttherapie-Zeitschrift Gestaltkritik (www.gestaltkritik.de).
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Als wir diese Artikelsammlung – nicht ohne ein gewisses Gefühl von Nostalgie – noch einmal durchsahen, fragten wir uns, ob es einen thematischen Zusammenhang zwischen den frühen und den späteren Arbeiten geben, und worin dieser bestehen könnte. Beim Lesen des ersten Artikels, Zeitgemäße Psychotherapie, den Erv vor 32 Jahren geschrieben hat, stellten wir mit Erstaunen fest, daß die zentralen Themen bis heute die gleichen geblieben sind. Es kam uns vor, als hätte Erv damals unwissentlich die Einführung in eine theoretische Fragestellung geschrieben, die erst sehr viel später aktuell wurde. Die in der Folge entstandenen schriftlichen Arbeiten wiesen in ganz unterschiedliche Richtungen, alle wurzeln jedoch in denselben ursprünglichen theoretischen Prämissen. Vielleicht gestalten die Menschen ihr Leben nach einem ähnlichen Muster, indem sie von frühen Empfindungen ausgehen und diese im Laufe ihres Lebens dann immer wieder neu verarbeiten, manchmal kaum nachvollziehbar, und auch ohne sich dabei zu wiederholen, aber immer in einer kaleidoskopischen Neuanordnung dessen, was ihnen bereits von Anfang an wichtig war. Das soll nicht heißen, daß die Vergangenheit die Gegenwart verursacht, sondern vielmehr, daß beide miteinander verbunden sind – als ganzheitliches Thema, das sich selbst in diesen Schriften zu erkennen gibt. Wir schauen uns um, ausgestattet mit einem Gehirn, zwei Augen und unzähligen Neuronen und halten die unglaubliche Leistung, eine endlose Zahl von Ereignissen in einer einheitlichen Erfahrung vereinigt zu finden, für selbstverständlich. Das geschieht auf natürliche Weise in jedem von uns, dank eines Gestaltungsreflexes, der all diese Erfahrungen miteinander verbindet. Aber das Gelingen dieses Reflexes ist nie gewährleistet, denn wir werden immer wieder aus dem Gleichgewicht geworfen und durch unzählige, unzusammenhängende Verhaltens- und Gefühlsmöglichkeiten jedesmal aufs Neue herausgefordert. Aus einer solchen Herausforderung entstand auch die Gestalttherapie. Sie verband die scheinbar kaum miteinander zu vereinbarenden Arbeiten unterschiedlicher Denker, darunter eine ganze Reihe psychoanalytischer Dissidenten, Gestalt-Lerntheoretiker und Existentialphilosophen, die innerhalb der Freudschen Psychoanalyse sämtlich als nicht assimilierbar galten. Diese Integration erzeugte einen Zusammenhalt, der gerade aus der Verschiedenartigkeit der Positionen genährt wurde, und war darüber hinaus auch für die Theorie der Gestalttherapie tonangebend, die eine grundlegende Gastfreundschaft gegenüber dissonanten oder gegensätzlichen Kräften entfaltete. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß die gestalttherapeutische Theorie auf das Konzept der Spaltung zurückgreift, um die neurotischen Wirkungen der Zerrissenheit zu erkennen und die Identifikation und Synthese der entfremdeten Aspekte der Persönlichkeit wiederherzustellen (Perls, Hefferline und Goodman 1951b, S. 23ff). Die Radikale Mitte Das Konzept der Radikalen Mitte ist ein Ansatzpunkt für die Koordination von Einheit und Vielfalt. Der Begriff der Radikalen Mitte ist nicht so widersprüchlich wie es zunächst scheinen mag. Im Gegenteil, einige Wörterbücher erklären nicht nur, daß das Wort »radikal« auf die Wurzel oder die Basis von etwas hinweist, sondern auch die Bedeutung von In-der-Mitte-Sein annehmen kann (Webster’s Dictionary, zweite Auflage). In der allgemeinen Auffassung hingegen hat »radikal« die Bedeutung von »extrem« und steht im Gegensatz zu einer moderaten, gemäßigten Mitte. Der sich daraus ergebende Widerspruch zwischen »radikal« und »Mitte« ist problematisch, weil ihm die falsche Annahme zugrundeliegt, daß Energie, Neuerung, Fortschritt und Kreativität, die immer wieder mit Radikalismus assoziiert werden, mit extremen Positionen verknüpft sein müßten. Fälschlicherweise wird die Mitte häufig als weniger bedeutsame Quelle von Lebenskraft angesehen, oft genug als bloßer Kompromiß, und manchmal sogar lediglich als Resignation vor dem Einfluß gegensätzlicher Extreme. Als die Gestalttherapie der reinen Erfahrung das Gewahrsein gegenüberstellte, um dadurch die übermäßige Betonung der Bedeutung abzuschwächen, nahm sie gegenüber der Psychoanalyse eine extreme Position ein. Dabei sollte jedoch auch berücksichtigt werden, daß die Gestalttherapie sich – trotz ihres Widerspruchs zur Psychoanalyse – schon in ihren Anfängen an der radikalen Mitte orientierte, als Perls nämlich Friedländers Begriff der »Kreativen Indifferenz« als primäres Orientierungskriterium heranzog. Aus dieser Position heraus schrieb Perls: »In seinem Buch ›Schöpferische Indifferenz‹ stellt Friedlaender die Theorie auf, jedes Ereignis stehe in bezug zu einem Nullpunkt, von dem aus eine Differenzierung in Gegensätze stattfinde. Diese Gegensätze zeigen in ihrem spezifischen Zusammenhang eine große Affinität zueinander. Indem wir wachsam im Zentrum bleiben, können wir eine schöpferische Fähigkeit erwerben, beide Seiten eines Vorkommnisses zu sehen und jede unvollständige Hälfte zu ergänzen« (Perls 1947, S. 16; zweite Hervorhebung durch die Autoren). Extreme Positionen sind insofern von großem Nutzen, als sie zu dem System, dessen Teil sie sind, neue Perspektiven beisteuern. Dennoch sind sie immer auch Teil des Systems und von diesem nicht zu trennen, selbst wenn sie sich durch spezifische Merkmale abheben. Um Ganzheitlichkeit zu erreichen, muß man einen Weg finden, auftauchende Dissonanzen gezielt in das bestehende System einzubinden. Aus dieser Position heraus, aus der die Unteilbarkeit der Prinzipien deutlicher wird, läßt sich der Kampf widersprüchlicher konzeptueller Beziehungen leichter rekonstruieren. T. S. Eliot hat diese Unteilbarkeit auf den Punkt gebracht. Er spricht von dem Ruhepol der Weltbewegung, der ohne Ausgangspunkt und ohne Ziel ist und an dem Vergangenheit und Zukunft sich begegnen. An diesem Ruhepol, schreibt Eliot, findet der Tanz statt (Eliot 1943, S. 15). Eine ähnliche Bedeutung kommt dem »Tanz« als der zentralen Kraft der Mitte auch bei Martin Heidegger zu, dessen Denken sich z.T. in der Theorie der Gestalttherapie wiederfindet. Heidegger betrachtet die Mitte, so scheint uns, als Quelle sowohl des Seins als auch der Sorge, wenn er schreibt, daß sowohl die Enden als auch das, was zwischen ihnen ist, in der einzig möglichen Weise existieren, nämlich als Sorge (Heidegger 1927, S. 323ff). Nietzsche, der große Held des freien Geistes, sagt, Kunst sei »die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit« (Nietzsche 1872, S. 73), und weiter: »In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch! […] Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht […]. Mag nämlich auch die Sprache, hier wie anderwärts, nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt« (Nietzsche 1886, S. 41). Eliots »Tanz«, Heideggers »Sorge« und Nietzsches »Freude« sind belebende Anmerkungen. Sie spiegeln die Kraft wider, die aus einer nach Einheit drängenden Mitte entspringt. Deshalb kann man Gestalttherapie niemals wirklich begreifen, wenn man nur ein Element der dialektischen Komplexität herausgreift. Gestalttherapie ist keine bloß prozeßorientierte Therapie, sondern eine, die Prozeß und Inhalt miteinander verbindet und sie als unteilbare Facetten menschlicher Erfahrung betrachtet. Im Hinblick auf Prozeß und Inhalt scheint diese Verwobenheit recht offensichtlich zu sein. Aber die weithin zu beobachtende Vermeidung dieser offensichtlichen Unteilbarkeit verdeutlicht nur die Existenz eines Vereinfachungsreflexes. Dieser Reflex führt dazu, daß Menschen der Klarheit selbst dann noch den höheren Stellenwert beimessen, wenn dies zu Lasten von Weite und Verhältnismäßigkeit geht. Die daraus resultierende Spaltung zwischen dem grundlegenden Bedürfnis nach nachvollziehbaren theoretischen Aussagen und dem gleichermaßen zwingenden Bedürfnis nach Verbindung unterschiedlicher Standpunkte stellt eine Gefahr für all jene Theoretiker dar, die sich um eine, die ganze Bandbreite der Theorie umfassende, kohärente Kommunikation bemühen. Die Attraktivität von Einfachheit, Klarheit, Sicherheit und klaren Beziehungen zu Gleichgesinnten verführt dazu, das eine oder andere Prinzip zu bevorzugen. Diese Einschränkung steht im Widerspruch zu einer ungeheuren Fülle an Erfahrungen. Mit diesem Konflikt muß sich jede Theorie auseinandersetzen, weil ihre Vertreter dazu neigen, manche Aspekte stärker zu berücksichtigen...