E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Preißmann Überraschend anders: Mädchen & Frauen mit Asperger
2. Auflage 2020
ISBN: 978-3-432-11201-5
Verlag: Enke
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-432-11201-5
Verlag: Enke
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Gesundheitsinteressierte
Autoren/Hrsg.
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Asperger-Mädchen und -Frauen sind anders anders
Als Minderheit einer Minderheit sind Mädchen und Frauen mit Autismus doppelt benachteiligt. Da Jungen und Männer häufiger betroffen sind, beziehen sich viele Diagnosekriterien auf die männliche Ausprägung des Autismus. Bei Mädchen wird das Asperger-Syndrom oft erst sehr spät erkannt – wichtige Fördermaßnahmen bleiben aus. Bislang ging die Fachwelt von einem Geschlechterverhältnis von einem Mädchen auf 6–8 Jungen aus; inzwischen aber wird deutlich, dass die »wahre Verteilung« eher bei ca. 1 : 4 oder gar bei 1 : 2,5 liegt (Jenny 2011, Hubbard 2010). In vielen europäischen Ländern wird von einer steigenden Anzahl von Mädchen und Frauen mit einer Diagnose aus dem autistischen Spektrum berichtet (Gould 2011), die sich oft erst als Jugendliche zur diagnostischen Einschätzung vorstellen. Die betroffenen Mädchen und Frauen unterscheiden sich vom männlichen Geschlecht in der Ausprägung der autistischen Symptomatik. Außerdem sind sie anderen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt. Oft erhalten sie daher erst sehr spät die richtige Diagnose und eine effektive Förderung. Die geltenden Diagnosekriterien beschreiben nämlich eher die männliche Ausprägung des Autismus. Mädchen, die sich davon unterscheiden, werden mit diesen Kriterien häufig gar nicht erfasst. Typische Unterschiede
Die Kernsymptome des Autismus sind natürlich bei beiden Geschlechtern dieselben, aber sie scheinen, insbesondere im Fall von High-Functioning Autismus und Asperger-Syndrom, häufig subtiler und weniger stark ausgeprägt als bei Jungen. Die betroffenen Mädchen werden daher oft lediglich als »seltsam« wahrgenommen, nicht jedoch als umfassend beeinträchtigt. Sie zeigen dieselben Auffälligkeiten wie Jungs, aber oft in anderer Ausprägung. Manches können sie besser, anderes dagegen fällt ihnen schwerer, und auch für geübte Fachleute ist es deshalb nicht selten schwierig, die Symptome richtig einzuordnen – insbesondere dann, wenn die betroffenen Frauen eben nicht in den vermeintlich typischen »Autistenberufen« wie in der Informatik oder auf ähnlichen Gebieten arbeiten, sondern manchmal auch recht erfolgreich im sozialen Bereich tätig sind. Autistische Mädchen sind in der Regel ruhiger und können ihr Verhalten besser kontrollieren. Bei ihnen stehen daher seltener die Aggression und das Stören des Unterrichts, sondern vielmehr passives Verhalten und der Rückzug im Vordergrund. Dies entspricht dem gesellschaftlichen Rollenbild von Frauen (still, schüchtern, unschuldig, bescheiden), was auf andere Menschen weit weniger störend wirkt und daher nicht nach sofortiger Intervention verlangt. Während Jungen mit Autismus daher in der Regel bereits im Kindesalter schwerwiegende soziale und kommunikative Probleme aufweisen, fallen diese Schwierigkeiten bei autistischen Mädchen oft erst im Jugend- und jungen Erwachsenenalter auf (McLennan et al. 1993). Dann bemerkt man häufig ihre soziale Unsicherheit und Naivität, auf der anderen Seite aber auch ihre Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft; meist sind sie besonders darauf bedacht, dass alle gerecht und gleichbehandelt werden und können manchmal gar nicht verstehen, weshalb es »Rangordnungen« unter den Menschen geben sollte. Auch der mangelnde Blickkontakt wird bei Frauen eher auf eine Schüchternheit geschoben, die für das weibliche Geschlecht nicht ungewöhnlich erscheint und daher nicht zu der Annahme einer autistischen Störung führt. Autistische Mädchen können ihre Schwierigkeiten oft »tarnen«
Betroffene Mädchen können soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten meist schneller erlernen als Knaben. Außerdem gelingt es ihnen besser, ihre Schwierigkeiten zu »tarnen«. Sie beobachten aufmerksam und versuchen, andere Mädchen nachzuahmen oder sogar zu kopieren (z. B. deren Mimik und Gestik, aber auch soziale Verhaltensweisen), um nicht aufzufallen und »unsichtbar« in der Gruppe mitlaufen zu können. Oder sie versuchen, die Dinge auswendig zu lernen, die ihnen im sozialen Kontakt schwerfallen. Wenn autistische Mädchen an sozialen Spielen beteiligt sind, werden sie oft von Gleichaltrigen »geführt«, sodass sie bei der Kontaktaufnahme nicht selbst aktiv werden müssen. In der Grundschule werden sie häufig von anderen Mädchen »bemuttert«, in der weiterführenden Schule von diesen jedoch eher geärgert und gehänselt. Mobbingerfahrungen beginnen also oft später als bei Jungen, nicht selten erst in der Pubertät, weil dann die Unterschiede zu den Gleichaltrigen besonders groß werden (s. u.). Mädchen und Frauen mit Autismus sind außerdem häufiger sozial veranlagt als Knaben und können durchaus eine beste Freundin haben. Insgesamt zeigen sie oft ein größeres Interesse an Freundschaften und Beziehungen als Jungen und können soziale Situationen, soziale Kommunikation oder Freundschaft häufig gut reflektieren. Auch sind die betroffenen Frauen oft selbstständiger und haben bessere lebenspraktische Fähigkeiten als autistische Männer. Mit Autismus werden aber in der Regel eher Unzulänglichkeiten verbunden. Auch deshalb wird die Diagnose Frauen mit guten Kompetenzen in diesem Bereich häufig vorenthalten. Die Spezialinteressen sind häufig alterstypisch
Die Betroffenen pflegen im Schulalter bezüglich der Themenwahl oft weniger auffällige und manchmal sogar alterstypische Spezialinteressen, nicht selten solche aus sozialen und weniger aus technischen Bereichen. Diese werden aber in der Regel genauso exzessiv, obsessiv und repetitiv ausgelebt wie die Vorlieben der Jungen. Meist ist es also nicht so sehr das besondere Interessengebiet, das autistische Mädchen von ihren Alterskameraden unterscheidet, sondern es sind vielmehr die Intensität und die Qualität dieser Interessen. Autistische Jungen dagegen wählen nicht selten solche Favoriten aus, mit denen sich Gleichaltrige in der Regel nicht beschäftigen (Toilettenspülung, Strommasten etc.). Gemeinsamkeiten autistischer Kinder
Autistische Mädchen und Frauen geben sich in der Regel große Mühe, die Erwartungen ihrer Umgebung zu erfüllen, es wird jedoch deutlich, dass sie dabei immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Soziale Auffälligkeiten
Es fällt autistischen Menschen schwer, sich auf andere Menschen einzustellen, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen und in Gang zu halten, obwohl sie sich oft durchaus für ihr Gegenüber interessieren. Mädchen haben auf einer ähnlichen kognitiven Ebene in der Regel bessere sprachliche Fähigkeiten als Jungen. Sie beherrschen aber ebenso wenig die Kunst des Small Talks, der von Frauen gesellschaftlich jedoch erwartet wird. Auch haben sie nur wenig Verständnis von sozialen Hierarchien und wissen oft nicht, wie man mit Personen mit einem anderen sozialen Status kommuniziert. Undeutliche, mehrdeutige Bemerkungen oder Ironie können sie meist nicht verstehen, Metaphern werden wörtlich genommen. Oft besteht ein »Denken in Bildern« (u. a. Grandin 1997, 19). Es gelingt autistischen Menschen nur schlecht, Mimik, Gestik oder Blickkontakt anzuwenden und bei anderen richtig zu interpretieren. Daher entgehen ihnen im Gespräch viele Informationen, die andere Menschen ganz selbstverständlich nebenher aufnehmen können. Diese Schwierigkeiten werden bei betroffenen Frauen noch häufiger beobachtet als bei Männern mit Autismus (Gillberg u. Kopp 2010). Es fällt schwer, Freunde zu finden oder auch den Begriff der Freundschaft überhaupt zu definieren, auch wenn die Schwierigkeiten bei Mädchen oft nicht so auffällig sind wie bei Jungen. Autistische Menschen erscheinen als »eigen« und werden oft ausgelacht. Wichtig Sozio-emotionale Unreife Oft sind Hilfe und Anleitung bei scheinbar leichtesten Aufgaben, insbesondere alltagspraktischen Erledigungen, notwendig, während schwierige Anforderungen manchmal nahezu mühelos erledigt werden können. Auffällig ist dabei insbesondere eine sozio-emotionale Unreife. Die Betroffenen wirken daher in der Kindheit ebenso wie im Jugend- und auch noch im Erwachsenenalter auf ihre Umgebung oft merkwürdig und geben den anderen viele Rätsel auf. Spezialinteressen
Asperger-Betroffene zeigen auffallend intensive Interessen mit repetitivem Charakter, die insbesondere dann eine große Rolle spielen, wenn sie sich unsicher, gestresst oder überfordert fühlen. Sie haben Probleme mit Veränderungen aller Art und unvorhergesehenen Ereignissen, auch wenn es sich um scheinbar banale Variationen handelt. Oft reagieren sie darauf mit großer Angst. Motorische und sensorische Besonderheiten
Vor allem beim Asperger-Syndrom fällt häufig eine Ungeschicklichkeit beim Gehen und bei der motorischen Koordination auf, daher haben die betroffenen Mädchen im Gegensatz zu anderen Mädchen auch oft kein Interesse an Schönschrift, Ausmalen oder Verzieren. Häufig bestehen Auffälligkeiten im sensorischen Bereich (Über- bzw. Unterempfindlichkeiten). Der Weg zur Diagnose
Die beschriebenen Besonderheiten bei autistischen Mädchen machen nachvollziehbar, warum das Erkennen des Asperger-Syndroms zurzeit nur selten frühzeitig gelingt. Im Moment scheinen die richtige...