E-Book, Deutsch, 159 Seiten
Rassenhofer / Hoffmann / Hermeling Misshandlung und Vernachlässigung
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8444-2668-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 159 Seiten
Reihe: Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie
ISBN: 978-3-8444-2668-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sind weit verbreitete, belastende und potenziell traumatische Kindheitsereignisse, die oftmals weitreichende Folgen auf psychischer, somatischer und psychosozialer Ebene haben. Kinderschutzfälle lösen bei Medizinern und Therapeuten häufig starke Verunsicherung aus. Wie soll weiter vorgegangen werden? Was darf ich tun? Was muss ich tun? Ziel des vorliegenden Leitfadens ist es, Klinikern Sicherheit im Umgang mit Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, bzw. Verdachtsfällen zu vermitteln
Dazu werden aktuelle Erkenntnisse zur Epidemiologie von Misshandlung und Vernachlässigung, zu Folgeerscheinungen, zu rechtlichen Rahmenbedingungen, zur Diagnostik von Folgestörungen und zur Interventionsplanung dargestellt. Kernstück des Bandes sind Handlungsempfehlungen und Leitlinien für das Erkennen von Misshandlung und Vernachlässigung bzw. einer Kindeswohlgefährdung, den Umgang mit Hinweisen darauf, die Gesprächsführung mit betroffenen Patienten und ihren Bezugspersonen sowie die Vernetzung von Klinikern mit der Jugendhilfe und dem Rechtssystem. Weiterhin wird das Vorgehen bei der Diagnostik von Folgestörungen und bei der Planung sowie Durchführung von Interventionen mit Betroffenen und ihren Bezugspersonen, beschrieben. Materialien für die Praxis und Fallbeispiele ergänzen den Leitfaden.
Zielgruppe
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater, Kinder- und Jugendmediziner, Schulpsychologen, Lerntherapeuten, Lehrkräfte, Heilpädagogen, (Sozial-) Pädagogen sowie Mitarbeiter der Jugendhilfe.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Kindesmissbrauch, Sexueller Missbrauch, Häusliche Gewalt
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Kinder- & Jugendpsychiatrie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Kriminalpsychologie, Forensische Psychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Weitere Infos & Material
|V|Einleitung
Misshandlung und Vernachlässigung sind Formen von Gewalt gegen Kinder. Sie verursachen erhebliches Leid bei den betroffenen Kindern und sind häufig mit beträchtlichen und nachhaltigen negativen Entwicklungskonsequenzen für sie verbunden. Dabei lässt sich ableiten, dass das Risiko von Entwicklungsstörungen und psychischen Störungen ebenso wie von gesundheitlichen Belastungen in empirischem Zusammenhang mit der Häufigkeit und der Dauer von Misshandlungen steht, die Menschen in ihrer Kindheit und Jugend erleben. Tatsächlich sind Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen in der Kindheit mit den höchsten Risiken verbunden, später psychische Störungen oder gesundheitliche Beeinträchtigungen zu entwickeln (vgl. Goldbeck, 2018). Weithin üblich werden vier Formen von Misshandlung unterschieden: Körperliche Misshandlung, psychologische bzw. emotionale Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch (U.?S. Department of Health & Human Services, 2008). Mit Ausnahme der Misshandlungsform des sexuellen Missbrauchs, für den ein eigener Band in der Reihe „Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie“ verfasst wurde (Goldbeck, Allroggen, Münzer, Rassenhofer & Fegert, 2017), werden alle Formen in diesem Band behandelt. Sie beziehen sich auf die Definitionen und Operationalisierungen, die eine Expertengruppe der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in einem umfangreichen Konsultationsprozess und unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses erarbeitet hat (Leeb, Paulozzi, Melanson, Simon & Arias, 2008). Die Ergebnisse dieses Konsultationsprozesses markieren eine qualitative Weiterentwicklung auf dem Weg zu einer einheitlichen Definition der Formen von Misshandlung und Vernachlässigung bzw. einer „gemeinsamen Sprache“ als Grundlage zumindest für systematisches Risikoscreening und Diagnostik, und zwar in einem bei Fällen von Misshandlung und Vernachlässigung nahezu immer zwingend notwendigen interdisziplinären Kontext. Als Herausforderung für die Praxis bleibt, dass die Grenzen zwischen Normalität, Belastung und Entwicklungsgefährdung beziehungsweise Misshandlung und Vernachlässigung fließend sind. Misshandlung und Vernachlässigung sind auf einem Kontinuum angesiedelt, das sich von einzelnen und vorübergehenden, leichteren Episoden bis hin zu chronischen und schwerwiegenden Gewalterfahrungen oder gravierender Vernachlässigung erstreckt, die oft tief in den Beziehungsalltag der betroffenen Kinder hineinreichen. Die Mehrzahl der Fälle von Kindesmisshandlung spielt sich im Graubereich zwischen noch ausreichender Fürsorge und nicht mehr ausreichender Fürsorge ab (Thyen, Meysen & Dörries, 2010). Wenige Fälle sind eindeutig. Sie treten am ehesten bei körperlicher Misshandlung auf, wenn sie differenzial- bzw. röntgendiagnostisch festgestellt und z.?B. von unfallbedingten Stürzen abgegrenzt werden können. Typisches Beispiel ist etwa die Vorstellung eines Kleinkindes in der Notfallambulanz der Kinderklinik, meist in den frühen Morgenstunden wegen eines vorgeblichen Sturzes (Bett, Wickeltisch). Das Unterlassen einer Handlung, wie bei Vernachlässigung, ist deutlich schwieriger einzuschätzen als eine aktive Handlung, psychische Folgeschäden bei emotionaler Misshandlung sind oft nicht unmittelbar ersichtlich. Diese Formen von Gewalt sind aber die häufigsten (Witt, Brown, Plener, Brähler & Fegert, 2017). |VI|Misshandlung und Vernachlässigung finden weitgehend im häuslichen Umfeld und durch die Eltern1 bzw. durch nahe Familienmitglieder statt. Dies betrifft insbesondere Kinder zwischen 0 und 14 Jahren (Pinheiro, 2006). Insofern lassen sie sich auch als interpersonelle oder beziehungsbezogene Gewalt beschreiben. Dabei wird nicht selten übersehen, dass beziehungsbezogene Gewalt gegen Kinder neben direkter körperlicher oder psychischer Gewaltausübung auch indirekte Gewalt umfasst, nämlich dann, wenn sie Zeuge von Partnerschaftsgewalt werden (Ziegenhain, Künster & Besier, 2016; UNICEF, 2014). Miterleben von Partnerschaftsgewalt wird zunehmend als eine Form emotionaler Misshandlung erkannt, mit vermutlich ebenso langfristigen psychischen Entwicklungsrisiken wie bei direkt erlebter körperlicher Gewalt (Kindler, 2002). Insgesamt erleben Kinder und Jugendliche mehr Gewalt als andere Gruppen in der Gesellschaft (Finkelhor, 2007). Bei beziehungsbezogener Gewalt geht es immer auch um die Verletzung eines tiefgreifenden Vertrauensverhältnisses zwischen Kindern und ihren engen Beziehungspersonen bzw. um die Verletzung von Verantwortungsprinzipien bei den Eltern (Ziegenhain & Fegert, 2018). Letztlich lassen sich Misshandlung und Vernachlässigung als „destruktive Entgleisung“ einer Eltern-Kind-Beziehung beschreiben. Eine solche beziehungsbezogene Sichtweise knüpft insbesondere an die ethologische Bindungstheorie an. Danach sind Kinder fundamental auf emotionale Zuwendung und Fürsorge sowie auf Schutz und (emotionale) Sicherheit angewiesen. Diese Angewiesenheit ist biologisch disponiert und tief in der Evolution verankert. Vermutlich lässt sich daraus die starke Disposition von Säuglingen ableiten, sich an nahestehende Bezugspersonen zu binden, und zwar auch an diejenigen Bezugspersonen, die sie vernachlässigen oder misshandeln. Bindung lässt sich als psychobiologischer Mechanismus beschreiben, über den Emotionen und Stress in engen Beziehungen reguliert werden. Im Falle von Misshandlung und Vernachlässigung versagen Eltern in ihrer biologisch angelegten Aufgabe, ihr Kind regulativ zu unterstützen, ihm emotionale Sicherheit zu geben und es zu schützen. Vielmehr sind sie es, die ihr Kind schlimmstenfalls bedrohen. Die betroffenen Kinder befinden sich damit in einer emotional ausweglosen Beziehungssituation mit ihren Eltern: Sie leiden unter deren dysfunktionalem, gewalttätigem oder vernachlässigendem Verhalten und sind dennoch emotional an sie gebunden (Ziegenhain, 2014; Witt, Brown, Plener, Brähler & Fegert, 2017). Misshandlung und Vernachlässigung sind immer auch verbunden mit der Frage nach einer Kindeswohlgefährdung. Kindeswohlgefährdung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der den Rahmen für das Eingreifen des Staates in die Rechte der Eltern umreißt. Hierbei gilt es zwischen der jeweils sozialpädagogischen bzw. psychotherapeutischen Einschätzung, welche Förderung und Unterstützung ein Kind ggf. benötigt, und der bei einer Kindeswohlgefährdung notwendigen Bestimmung der sogenannten „Erheblichkeitsschwelle“ zu unterscheiden. Letztere Einschätzung hat Auswirkungen darauf, inwieweit in Fällen, in |VII|denen Eltern nicht bereit sind, Unterstützung anzunehmen, dennoch gegen deren Willen Hilfen gewährt werden können. Unter diesen ist die Inobhutnahme die invasivste Option im Kontext von intensiveren sogenannten Hilfen zur Erziehung und im Kinderschutz. Inobhutnahmen sind zeitlich begrenzte Kriseninterventionen zum Schutz von Kindern meist in der Folge von vorhergehender Misshandlung und/oder Vernachlässigung. Sie dienen, neben ihrer Schutzfunktion, auch der Klärung der familiären Situation und der Gefährdungslage für das Kind. Diese kann ggf. auch zu einer längerfristigen oder dauernden Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder im Heim führen. In der Regel aber ist der Königsweg, Eltern zu einer Kooperation zu bewegen. Meist gelingt es selbst in schwierigen Situationen, wie im Kontext von Misshandlung und Vernachlässigung, im persönlichen Gespräch mit Eltern ihre Zustimmung für weitergehende Hilfen zu erwirken und ggf. mit ihnen einen Kontakt zum Jugendamt herzustellen. Bei einer psychotherapeutischen Begleitung von misshandelten oder vernachlässigten Kindern und Jugendlichen ist interdisziplinäre Kooperation mit anderen professionellen Akteuren im Hilfesystem, insbesondere aber dem Jugendamt, zwingend. Angesichts der chronischen und vielfältigen psychosozialen und meist auch biografisch bedingten Risikokonstellationen, denen Familien mit Misshandlungs- und Vernachlässigungsrisiko ausgesetzt sind, geht es gewöhnlich auch um längere Unterstützung und therapeutische Begleitung. Insofern müssen interdisziplinäre Kooperationen auch über längere Zeiträume hinweg verlässlich gestaltet werden. Mit dem Auf- und Ausbau der Frühen Hilfen in den vergangenen Jahren sind lokale Netzwerkstrukturen entstanden, die auch jenseits des Frühbereichs für die interdisziplinäre Zusammenarbeit professioneller Akteure im Kinderschutz genutzt werden können. Das Bundeskinderschutzgesetz und die...