E-Book, Deutsch, 113 Seiten
Rautenberg Transgender und non-binäre Menschen in der Psychotherapie
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8444-3087-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Diagnostik, Beratung und Begleitung
E-Book, Deutsch, 113 Seiten
ISBN: 978-3-8444-3087-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Menschen, die sich nicht dem ihnen zugewiesenen Geschlecht zugehörig empfinden, verspüren häufig einen großen Leidensdruck. Der Großteil fühlt eine Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht (transgender), ein weiterer Teil kann sich weder als männlich noch als weiblich einordnen (non-binär). Allen Betroffenen ist gemein, dass sie eine Diskrepanz zwischen ihrer Geschlechtsidentität und ihrem zugewiesenen Geschlecht erleben und den großen Wunsch haben, dies zu „korrigieren“. Für diesen sogenannten „Anpassungs“- bzw. Transitionsprozess benötigen sie oft psychotherapeutische Begleitung und Unterstützung.
Der vorliegende Band führt in die besonderen Bedingungen der Diagnostik und begleitenden Behandlung von Transgender- und non-binären Menschen ein. Er informiert einleitend über zentrale Konzepte, die wesentlichen Gesetze, Standards und Leitlinien sowie über Theorien zur Ätiologie und Prävalenzstudien. Praxisnah und anhand von Fallbeispielen werden das diagnostische Vorgehen und die Besonderheiten der psychotherapeutischen Begleitung erläutert, und es wird ein Überblick über die wesentlichen Schritte im Transitionsprozess gegeben. Zentrale Aufgabe der Psychotherapeutin oder des Psychotherapeuten ist es, die Diagnose abzusichern und Indikationen für weitergehende geschlechtsangleichende Maßnahmen zu stellen. Materialien für die Praxis ergänzen die Inhalte und können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden. Psychotherapeutische Fachpersonen finden in diesem Band notwendiges Hintergrundwissen sowie wertvolle Empfehlungen und Anregungen, um Menschen mit einer Variante der Geschlechtsidentität auf ihrem Weg fachkundig beraten, begleiten und unterstützen zu können.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeut_innen, Fachärzt_innen für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Endokrinolog_innen, Gynäkolog_innen, Klinische Psycholog_innen, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung
Autoren/Hrsg.
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|12|2 Grundlegende Konzepte und Begriffe
Für die psychotherapeutische Arbeit mit Transgender- und non-binären Menschen sind Kenntnisse über transgender und Non-Binarität als Normvarianten der Geschlechtsidentität (vgl. hierzu Kasten) von grundlegender Bedeutung. In diesem Kapitel sollen daher diese beiden zentralen Begriffe und ihre Begriffsgeschichte näher betrachtet werden. Darüber hinaus wird Grundwissen über Geschlecht und Geschlechtsidentität und deren Entwicklung vermittelt sowie schließlich eine Abgrenzung der o.?g. Phänomene der Geschlechtsidentität von Transvestitismus und Intersexualität vorgenommen. Merke Normvarianten der Geschlechtsidentität sind durch ein anhaltendes und starkes Unbehagen und Leiden an dem bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht charakterisiert. Sie gehen in der überwiegenden Zahl der Fälle einher mit dem Wunsch oder der Beteuerung, dem anderen Geschlecht anzugehören und entsprechend leben zu wollen (transgender), oder aber mit dem Wunsch, sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen zu müssen (non-binär). 2.1 „Transsexualismus“ – Transgender
Normvarianten der Geschlechtsidentität sind zeit-, länder- und kulturübergreifend beschriebene Phänomene und bereits seit der Antike bekannt (Green, 1966; Hänsel, 2006). Tatsächlich erscheinen sie – im Gegensatz zu den Normvarianten der sexuellen Orientierung – sogar allgemein akzeptierter. Nicht wenige wird es daher vielleicht verwundern, dass der Iran das Land mit den meisten geschlechtsangleichenden Operationen bei Transgender-Menschen ist. In der europäisch geprägten Welt wurden Transgender-Menschen jedoch mindestens bis zum frühen 20. Jahrhundert entweder verfolgt oder als geisteskrank betrachtet. Ein Schicksal, welches sie mit Angehörigen anderer Normvarianten, beispielsweise bezüglich der sexuellen Orientierung, teilten, mit welchen sie dann meist verächtlich in einen Topf geworfen wurden. |13|Auch aus diesem Grund gibt es kaum belegte Geschichten von Transgender-Personen aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert. Wenn überhaupt darüber berichtet wurde, dann eher rückblickend, und meist wurden die Betreffenden auch nicht als transgender im heutigen Verständnis gesehen, sondern als Transvestiten oder Homosexuelle (Dekker & van de Pol, 1993; Hirschauer, 1993; Steinkühler, 1992). Gleichwohl berichtet Sigusch (1995b), es habe bereits im 18. Jahrhundert geschlechtsangleichende Operationen gegeben. Auch andere Autoren und Wissenschaftler beschrieben durchaus schon im 19. Jahrhundert „Störungen der Geschlechtsidentität“, ordneten diese aber meist Begriffen wie „Homosexualität“, „Transvestitismus“ oder „Hermaphroditentum“ unter. Magnus Hirschfeld schließlich verwendete 1923 erstmals den Begriff „Transsexualismus“, um damit eine Abweichung von der (damals gültigen) Norm in Bezug auf die Geschlechtsidentität bzw. eine Normvariante der Geschlechtsidentität zu beschreiben, nachdem er bereits zuvor Abgrenzungen zur Homosexualität vorzunehmen versuchte. Er vermischte Transsexualismus (auch „Transsexualität“) jedoch noch weitgehend mit Transvestitismus (das Tragen von „typischer“ Kleidung des anderen Geschlechts) und blieb in der Fachdiskussion zunächst unbeachtet (Hirschfeld, 1923). Größere Aufmerksamkeit erhielt dieses Phänomen einer Variante der Geschlechtsidentität erst durch die Forschungsarbeiten von Harry Benjamin. Dieser grenzte 1953 in einem Aufsatz „Transsexualismus“ erstmals vom „Transvestitismus“ ab und begründete schließlich 1966 mit seiner Abhandlung The transsexual phenomenon das Verständnis der Normvariante der Geschlechtsidentität als behandlungswürdige Krankheit (Benjamin 1953, 1966). Gleichzeitig war Benjamin einer der ersten Wissenschaftler, der „Transsexualität“ nicht als psychische Krankheit, sondern allenfalls als körperliche Erkrankung betrachtete. Zudem betreute er bereits seit den 1940er Jahren viele Betroffene in den USA, die dann in der Folge dort auch bereits seit dieser Zeit eine sogenannte gegengeschlechtliche Hormonbehandlung erhalten konnten. Zu einer Zeit, in welcher andernorts versucht wurde, die „Transsexualität“ mit Elektroschocktherapie oder einer Zwangsbehandlung mit dem biologischen Geschlecht entsprechenden Hormonen zu heilen. Die von Harry Benjamin gegründete „Harry Benjamin Foundation“ ist bis heute eine der bedeutendsten Fachgesellschaften. Aus ihr ist die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) hervorgegangen, die beispielsweise die Standards of Care (WPATH, 2012) als Empfehlungen zur Versorgung von Menschen mit einer Normvariante der Geschlechtsidentität herausgibt. Magnus Hirschfeld kommt dennoch eine große Bedeutung zu. Er berichtete erstmals über geschlechtsangleichende Operationen. Im Berlin der 1920er Jahre stellte er Transpersonen von der Polizei akzeptierte Atteste aus, die es den Betroffenen ermöglichten, ohne die Gefahr einer Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in Frauen- resp. Männerkleidung vor die Tür zu gehen. Im Umfeld von Hirschfeld wurden dann auch einige Personen, die sich den ersten geschlechtsan|14|gleichenden Operationen unterzogen, bekannt (Abraham, 1931). Genannt werden sollen hier Lilli Elbe und Dorchen Richter, die sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag haben.3 Deutschland sollte erst viele Jahre später wieder an diesen Entwicklungsstand und an diese aufgeklärte Betrachtung aller Normvarianten anknüpfen. Mit der ersten medial beachteten geschlechtsangleichenden Operation einer Transfrau in Dänemark 1952 und den Arbeiten von Harry Benjamin „begann eine neue Ära in der Geschichte des ‚Transsexualismus‘?“ (Rauchfleisch, 2016, S. 15). Eine auch in Fachkreisen weitverbreitete Akzeptanz ließ dennoch noch lange auf sich warten. Seit etwa den 1970er Jahren beschäftigten sich deutsche Sexualwissenschaftler mit – die subjektive Geschlechtsidentität akzeptierenden – Behandlungsmethoden. Es geht nun also nicht mehr darum, die Variante der Geschlechtsidentität zu „heilen“ oder zu korrigieren, sondern die Betroffenen auf ihrem Weg hin zur Angleichung zu begleiten. Seit den 1980er Jahren werden die entsprechenden Behandlungsmaßnahmen (begleitende Psychotherapie, Hormonbehandlung und geschlechtsangleichende Operationen) vor dem Hintergrund eines Leidensdruckes von den Krankenversicherungen übernommen. 1981 trat das „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen“ (Transsexuellengesetz – TSG) in Kraft, welches es Transmenschen ermöglicht, ihren Vornamen und ihren Personenstand zu ändern. Seit Oktober 2018 ist die AWMF-S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit gültig, welche den medizinischen Standard im Bereich Diagnostik, Beratung und Behandlung definiert (derzeitige Version: Februar 2019; DGfS, 2019). Erst mit Verabschiedung der ICD-11 durch die Weltgesundheitsorganisation WHO im Jahre 2019 (World Health Organization, 2018) wird transgender als Normvariante der Geschlechtsidentität nicht mehr unter den psychischen Krankheiten geführt, sondern als eine Zustandsform der sexuellen Gesundheit („condition of sexual health“) definiert. Wann die ICD-11 in Deutschland eingeführt wird, ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Bandes noch nicht klar; es wird dann jedoch allein der Leidensdruck, der mit der Inkongruenz zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität einhergeht, einen Behandlungsbedarf rechtfertigen. Damit wäre eine Variante der Geschlechtsidentität endgültig entpathologisiert. |15|2.2 Non-Binarität
Aktuelle Studien zum erlebten Geschlecht belegen, dass es eine durchaus beachtenswerte Anzahl von Menschen gibt, die sich keinem der beiden Geschlechter männlich oder weiblich eindeutig zugehörig empfinden, unabhängig vom biologischen Geschlecht (vgl. Abschnitt 2.3.1 sowie Abschnitt 2.4 zur Intersexualität). In der wissenschaftlichen Literatur wird dieses Phänomen unter dem Begriff der „Transidentität“ subsumiert: „Trans als Selbstbeschreibung würdigt die verschiedenen Lebensrealitäten vieler...