Rose / Sinha / Torrès | Wir empfehlen zum Reinlesen unsere Spitzentitel Herbst 2015 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 139 Seiten

Reihe: Wir empfehlen zum Reinlesen

Rose / Sinha / Torrès Wir empfehlen zum Reinlesen unsere Spitzentitel Herbst 2015

TRANSIT, EDITION NAUTILUS, LOUISODER, EDITION FÜNF, ASSOZIATION A, A1 VERLAG

E-Book, Deutsch, 139 Seiten

Reihe: Wir empfehlen zum Reinlesen

ISBN: 978-3-88747-328-0
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Sechs packende, spannende, wichtige und coole Romane - vorgelegt von sechs unabhängigen, anspruchsvollen und einfallsreichen Verlagen. Das ideale Angebot für Leserinnen und Leser, die sich oder ihre Bekannten mit ganz besonderen Büchern beschenken oder betören wollen.
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Weitere Infos & Material


Transit Buchverlag: C.D. Rose, Das bibliographische Lexikon vom literarischen Scheitern
Edition Nautilus: Shumona Sinha, Erschlagt die Armen!
Louisoder: Tereska Torrès, Frauenkaserne
Edition fünf: Ein Haus mit vielen Zimmern, Autorinnen erzählen vom Schreiben
Assoziation A: Luiz Ruffato, Ich war In LIssabon und dachte an dIch
A1 Verlag: Ivan Vladislavic, Double Negative


DER MANN, DER EINEN GUAVENBAUM IM GARTEN HATTE
Er schaute die ganze Zeit mit großen, verblüfften Augen in die Welt. Ich weiß noch, dass ich ihn mehrmals fragen musste, ob er mich verstünde. Mehrmals dachte ich, er sei geistig zurückgeblieben. Er brauchte immer einige Sekunden, bevor er den Mund öffnete wie ein Fisch an der Luft, um seine Spucke zu schlucken, dann erst bekam er ein paar Worte heraus. Zögerlich. Unhörbar. Verängstigt. Ich wusste mittlerweile, dass es in seinem Kopf nur einen dünnen Erzählfaden gab, auf dem er zittrig balancierte. Ein Akrobat war er nicht. Eher ein Dorfjunge, den der Wanderzirkus tollpatschig genug gefunden hatte, um sich über ihn lustig zu machen und ihn vorzuführen. Man ließ ihn auf dem Seil tanzen. »Wir jagen die Leute, die über die Grenze kommen. Aber was ist mit denen, die sie herlocken? Die sie illegal arbeiten lassen, die dieses Sklavensystem aufgebaut haben?« Die Beamtin ist aufgebracht. Eine selbstsichere Mittvierzigerin. Kurze Haare, goldener Pagenschnitt, mit einer schnellen Handbewegung streicht sie sich von Zeit zu Zeit eine Strähne aus der Stirn, aufgeregt und angespannt wie eine Katze vor einer allzu blöden Maus. »Sklaven?« Ich halte mich zurück, aber es fällt mir schwer, meine Freude zu verbergen: Mir scheint es, als entdeckte ich gerade eine der großen Wahrheiten des Lebens. »Genau! Man lockt sie zum Arbeiten her. Und wer verdient daran? Dreimal dürfen Sie raten! Die lassen sich alles bezahlen, den Pass, die Reise und die Geschichte auch.« »Wollen Sie damit sagen, dass sie sogar ihre Geschichte kaufen?!« Sie zieht die Schultern hoch. Und die Augenbrauen. Es liegt auf der Hand. Sie spricht es nicht aus, aber ich verstehe trotzdem. Sie zerdrückt ihre Kippe und ich trinke einen letzten Schluck von meiner Orangenlimo. Auf der grauen, bis in den Himmel ragenden Verglasung der Gebäudekomplexe gleiten weiße Wolken, schweben, plustern sich zur doppelten Größe auf, zerfallen und setzen sich zu Wolken von fernen, unerforschten Planeten neu zusammen. Sie dringen in die schlichte Geometrie der Scheiben ein, drängen vorwärts wie ein unbekanntes Gas, wie der Rauch eines Brandes, beängstigend, penetrant. Dann nahmen wir das Interview mit dem kleinen Dorfzirkus wieder auf. »Haben Sie Geschwister?« »Ja.« »Wie viele?« »Zwei.« »Zwei was? Brüder? Schwestern?« »Nein, nein, drei.« »Drei was?« »Ein Bruder und eine Schwester.« »Und der dritte?« »Der ist tot.« »Gut. Warum haben Sie ihn nicht gleich erwähnt?« »Weil er tot ist.« »Wie kam es dazu?« »Die Terroristen haben ihn umgebracht.« »Okay. Sind Sie verheiratet?« »Nein.« »Haben Sie Kinder?« Der junge Mann vom Zirkus heult auf wie ein Clown, der die falsche Maske aufgesetzt hat. Empört möchte er wissen, wie man ihn nach Kindern fragen kann. Hat er nicht gerade angegeben, dass er ledig ist? Die Beamtin versucht zu verstehen. Wo liegt das Problem? Ich vermeide eine sozio-moralische Diskussion und erkläre ihr knapp, dass er sich die außereheliche Zeugung von Kindern nicht vorstellen könne. »Na, so schwer ist das aber nun nicht!«, murmelt die Beamtin. Schwamm drüber, wir machen weiter. »Haben Sie gearbeitet, bevor Sie hierher kamen?« »Nein.« »Wovon haben Sie gelebt?« »Mein Vater hatte ein Geschäft. Ich war immer in unserem Geschäft.« »Gut. Sie haben also bei Ihrem Vater gearbeitet.« »Ich habe nicht gearbeitet, das habe ich doch gerade gesagt. Wir hatten ein Geschäft. Da haben wir so Sachen verkauft, Sachen zum Essen.« »Sie haben also in Ihrem Lebensmittelgeschäft gearbeitet.« »Ich habe nicht gearbeitet. Ich habe Sachen verkauft.« »Wie viele Tage pro Woche? Und wie viele Stunden pro Tag?« »Von Montag bis Sonntag. Freitags geschlossen. Von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends.« »Dann haben Sie aber viel in Ihrem Geschäft gearbeitet!« »Ich sage doch, ich habe nicht gearbeitet. Ich hatte ein Geschäft.« Jetzt schaut mich die Beamtin verwirrt an. »Gibt es ein Problem? Verstehen Sie einander? Versteht er Sie? Oder gibt’s ein Sprachproblem?« Er versteht mich genau. Ich beruhige sie. Vielleicht ist es das Wort arbeiten, das ihn stört. Für ihn bedeutet arbeiten angestellt sein. Er aber ist der Besitzer dieses Ladens. Also steht er über denen, die arbeiten, die für andere arbeiten. »Nun gut, lassen wir das. Sonst werden wir nie fertig«, sagt die Beamtin und haut mit ihrem Zeigefinger, dessen Nagel vom Tippen zu vieler zersetzender Märchen angegriffen ist, auf die Enter-Taste. »Was hat Sie dazu gebracht, Ihr Land zu verlassen?« »Die Terroristen überall… Sie verfolgen uns. Ich bin Hindu, die Fundamentalisten foltern uns.« »Welcher Vorfall hat Sie gezwungen, Ihr Land zu verlassen?« »Die Terroristen, die Fundamentalisten.« »Was war der genaue Grund, Ihr Land zu verlassen? Was haben die Ihnen getan? Seien Sie präzise.« »Eine junge Frau aus meinem Dorf hat sich umgebracht. Deswegen…« »Was hat das mit Ihnen zu tun?« »Sie war muslimisch. Sie war mit einem Freund von mir zusammen.« »Was hat das mit Ihnen zu tun?« »Ähm, mein Freund ist Hindu, wie ich.« »Aber wo liegt das Problem?« »Der Bruder von diesem Mädchen war ein Terrorist in unserem Dorf. Er hat den Freund seiner Schwester verprügelt. Er hat ihm den Umgang mit seiner Schwester verboten. Das Mädchen hat sich erhängt. Und mir wollte man den Mord in die Schuhe schieben.« »Aber inwiefern waren Sie dafür verantwortlich? Sie waren doch nicht ihr Freund!« »Nein… aber der Terrorist und seine Männer haben die Leiche der Frau zu mir gebracht und an meinen Guavenbaum gehängt.« »Warum? Gab es bei dem anderen keinen Guavenbaum?« Ich unterdrücke ein Lachen. Unmöglich, mich zu beherrschen und ihm die Frage zu übersetzen. Er starrt mich mit seinen großen, verblüfften Augen an. Ein Lachanfall vor einem verzweifelten Mann. Ich könnte vor Scham im Erdboden versinken. Mir auf die Zunge beißen. Die Stirn auf die Tischplatte legen und heimlich weiterlachen. Ich denke an das Unglück der Welt. An das Unglück, das mir widerfahren ist. Das mir noch widerfahren wird. Von einem Auto erfasst zu werden, bevor ich mein Pausenbrot mit kaltem Braten und Pflaumen kosten kann. Ein Blumentopf, der von einem Balkon geradewegs auf meinen Kopf fällt. Schädelbruch und mein Telefon, das genau in diesem Moment vergeblich klingelt. Man könnte meinen, die Blumen wären schon für meine Beerdigung niedergelegt worden. Ich sterbe. Ich weine. Ich weine für die Menschen, die um mich getrauert hätten. Nichts zu machen. Mein Körper schüttelt sich vor Lachen, als würde ein Schwarm Spatzen in meinem Brustkorb herumflattern, herumwirbeln, schwatzen. Ich weiß noch, dass ich auf dem Rückweg im Vorstadtzug meine Stirn an die Scheibe gelegt habe. Ein offenes Buch auf den Knien. Hin und wieder nahm ich es in die Hand. Legte es sofort wieder hin. Eine leere Dose rollte von einer Ecke in die andere und zog meinen Blick auf sich. Die Stationen folgten aufeinander. Mal waren die Bahnsteige auf Kopfhöhe, mal auf Höhe meiner Füße. In die rosafarbene Wand des Wagons hatte jemand mit einer dünnen Klinge den Tod von einem und die Liebe für eine andere geritzt. Ich dachte an nichts, an niemanden, außer an eine Frau, die wie eine Fontäne aus Licht vor meinen Augen erschien. Ihr Gesicht begleitete mich während der ganzen Fahrt. Lucia war eine Beamtin, mit der ich hin und wieder gearbeitet hatte. Sie war kein erotisches Versprechen, sie war neutral wie eine Landschaft in der Dämmerung, ein verschneiter Berggipfel, überzogen mit einem rosafarbenen Leuchten, unerreichbar, ein unvollendeter Traum, ein schlummerndes Verlangen. Bis ich zu Hause ankam, war ich zu einem leeren Käfig geworden, den jeder Windstoß hin- und herschaukelte, wie es ihm passte. Mein Kopf verlangte nach einer Pause. Alle Lichter in der Wohnung löschen, die Stecker vom Computer...


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