E-Book, Deutsch, 155 Seiten
Rummel / Gaßmann Sucht: bio-psycho-sozial
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-17-036374-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die ganzheitliche Sicht auf Suchtfragen - Perspektiven aus Sozialer Arbeit, Psychologie und Medizin
E-Book, Deutsch, 155 Seiten
ISBN: 978-3-17-036374-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2 Die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung – Entstehungshintergründe, Konzept, Umsetzung in Deutschland, Entwicklungsperspektiven
Uwe Prümel-Philippsen
2.1 Entstehungshintergründe der Ottawa-Charta
Methodologische Diskurse, nicht nur der Geschichtswissenschaft, lehren uns, dass es eine zwingende Kausalkette von Ereignis A zu Ereignis B zu Ereignis C etc. nicht gibt – wenngleich auch immer wieder gerne behauptet und seit jeher ersehnt. So mögen deshalb auch die nachfolgenden Ausführungen zu den »Entstehungshintergründen der Ottawa-Charta« eher als Streiflichter in einem weiträumigen Gelände denn als Komplett-Illumination eines geradlinigen Entwicklungspfades der Charta aufgenommen werden. Halbwegs gesicherten Grund betritt, wer die Entstehung des Konzepts der »Gesundheitsförderung« mit der Gründung der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) im Jahr 1946 verbindet. Allerdings lassen sich bereits im 19. Jahrhundert als Gegenentwurf zum seinerzeit vorherrschenden »biomedizinischen Modell«, welches Gesundheit lediglich als Abwesenheit von Krankheit betrachtet, Ansätze »Sozialer Medizin« oder der »Sozialhygiene« aufzeigen, die die Bedeutung der Lebensbedingungen für die Entstehung (und den Verlauf) von Krankheiten hervorheben. Es darf vermutet werden, dass der 1946 von der WHO konzipierte neue Gesundheitsbegriff, der die am 22. Juli 1946 in New York unterzeichnete Verfassung der WHO als erster von neun Grundsätzen für »das Glück aller Völker, für ihre harmonischen Beziehungen und ihre Sicherheit« (WHO 1946/47) anführt, konzeptionell an diese Sichtweise anknüpft: »Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.« (WHO 1946/47) Allerdings standen in den Anfängen der WHO-Aktivitäten eher die Aufgaben im Vordergrund, Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und Kinderlähmung einzudämmen und die Ausrottung der Pocken in Angriff zu nehmen. Anlässlich des 70. Geburtstages der WHO zitiert der Bayerische Rundfunk den Politologen und UN-Experten Helmut Volger mit der folgenden Einschätzung: »Im Grunde genommen gab es bei der Gründung einen Konflikt zwischen zwei Gruppen. Eine Gruppe war eigentlich nur an einer Epidemie-Bekämpfung interessiert. Die andere Gruppe, vor allem Europa, hatte eher sozialmedizinische Vorstellungen: Sie versprach sich davon auch, die Lebensbedingungen in den Staaten der Dritten Welt zu verbessern, um so die Gesundheitslage der Menschen zu bessern – also ein stark idealistischer, humanitärer Ansatz.« (Bayerischer Rundfunk 2018) Die (aus heutiger Sicht betrachtete) »Rückbesinnung« auf den engen Zusammenhang von Umwelt, sozialen und politischen Rahmenbedingungen und Gesundheit wurde erst mit Beginn der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in gewisser Weise neu (und durchaus massiv) durch nationale und internationale soziale Bewegungen aus der Mitte der Zivilgesellschaft heraus thematisiert – wie auch durch neue Forschungs- und damit verbundene neue (gesellschaftliche) Handlungsansätze. Exemplarisch erwähnt seien an dieser Stelle die Frauen-, Ökologie-, Friedens-, Anti-Atomkraft-, Gesundheits- und Selbsthilfebewegungen; Ansätze der Gemeindepsychologie und der Antipsychiatrie, des Empowerments und der Gemeinwesenarbeit; Social-Support-Konzepte sowie die Stärkung von Laienpotenzial und eine selbstbewusste Patientenaktivierung einschließlich der Gesundheitsselbsthilfe. Die »roten Fäden« dieser Bewegungen und Ansätze in toto waren: Forderung nach Teilhabe an Entscheidungsprozessen, nach Beachtung der Ganzheitlichkeit und nach Ermöglichung von Selbstverwirklichung (vgl. hierzu auch Ruckstuhl 2011). Die kritische Sensibilität für ein neues Konzept von »Gesundheit« wird zu jener Zeit zugleich beflügelt durch die Krise der Medizin selbst, die im internationalen Raum insbesondere von Ivan Illich in seinem 1975 erschienenen Buch »Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens« (ursprünglicher Titel: »Die Enteignung der Gesundheit«) aufgegriffen wird. »Das soziologische Konzept der Medikalisierung zielt auf die Kritik an einer wachsenden medizinischen Definitionsmacht über Körperprozesse und Verhaltensweisen, durch die soziale Problemlagen auf medizinisch-biologische Phänomene reduziert und damit dem politischen Diskurs entzogen würden.« (Laufenberg 2017, S. 113) In Deutschland kam in diesem Zeitraum zusätzlich eine intensive Debatte über das Phänomen der »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen in Gang. Dieser Begriff wurde dem damaligen Sozialminister in Rheinland-Pfalz, Heiner Geißler, zugeschrieben, der sich dieser Problematik in einer Studie über die seinerzeit aktuellen und zukünftig erwartbar aus dem Ruder laufenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung widmete. Darin war auch vom »Verschwinden der Patienten« und der »Durch-Ökonomisierung« des Gesundheitswesens die Rede. In diese Situation hinein katapultiert sich die WHO mit ihrer am 12.09.1978 verabschiedeten Erklärung von Alma-Ata auf die Höhe des (im Kern »westlichen«) Zeitgeistes: »Ein zentrales Ziel für Regierungen, internationale Organisationen und die Weltgemeinschaft insgesamt sollte in den kommenden Jahrzehnten darin bestehen, allen Völkern der Welt bis zum Jahr 2000 ein Gesundheitsniveau zu ermöglichen, das ihnen erlaubt, ein gesellschaftlich aktives und wirtschaftlich produktives Leben zu führen. Die primäre Gesundheitsversorgung ist der Schlüssel zur Verwirklichung dieses Ziels im Rahmen einer Entwicklung im Sinne sozialer Gerechtigkeit.« (WHO 1978) Die »primäre Gesundheitsversorgung richtet sich auf die Hauptgesundheitsprobleme der Gemeinschaft und umfasst (gemeindeorientierte) gesundheitsfördernde, präventive, kurative und rehabilitative Dienste« (BZgA 2011, S. 146). In Konsequenz beschließt die WHO 1980 das gesundheitspolitische Konzept »Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000« mit den Themenbereichen »Lebensweisen und Gesundheit«, »Risikofaktoren für die Gesundheit und Umwelt« sowie »Neuausrichtung des Gesundheitswesens«. Die WHO Europa greift dies sehr schnell auf und stellt 1981 ihr Regionalprogramm »Gesundheitserziehung und Lebensweisen« mit drei Aktionsbereichen (»präventive Gesundheitserziehung«, »unterstützende Gesundheitserziehung« und »Gesundheitsförderung«) vor – eingeführt wird der Begriff der »positiven Gesundheit«. Die Gesundheitsförderung mit ihrem Fokus auf Gesundheit durch Verbesserung der Lebensqualität wird zum Gegenstück der Krankheitsprävention, die primär die Senkung der Morbidität und Mortalität im Blick hat. Das Lebensweisen-Konzept verbindet dabei Gesundheit und Krankheit mit den Lebensbedingungen, der individuellen und kollektiven Lebensgestaltung, aber auch mit den individuellen sozialen und materiellen Ressourcen und betrachtet so Gesundheit als historisches und vergesellschaftetes Phänomen (vgl. BZgA 2011, S. 365 ff). 1984 erarbeitete eine internationale Arbeitsgruppe das Dokument »A discussion document on the concept and principles of health promotion«, das als »das erste eigenständige – wenn auch inoffizielle – Grundsatzdokument der Gesundheitsförderung«, und damit auch als direkte Grundlage der späteren Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung, gilt (vgl. BZgA 2011, S. 148). 2.2 Das Konzept der Ottawa-Charta
»Vor dem Hintergrund der WHO-Strategien und eines zunehmenden Interesses an einer ›New Public Health‹ veranstaltete die WHO 1986 zusammen mit der Canadian Public Health Association und Health and Welfare Canada in Ottawa eine Weltkonferenz. Diese erste Internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung mit 240 Teilnehmenden aus 35 überwiegend Industrieländern verabschiedete die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Die Charta fasst die in der mehrjährigen Programmentwicklungsphase erarbeiteten wichtigsten Ziele und Prinzipien des Handlungskonzepts Gesundheitsförderung zusammen und ergänzt sie um spezifische Handlungsprinzipien und Handlungsbereiche der Gesundheitsförderung.« (BZgA 2011, S. 149) Das relativ schmale Dokument – sechs DIN-A4-Seiten in der deutschen Fassung – hebt...