E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Rutz Zeitenwende!
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83661-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Impulse für eine starke Zukunft
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-451-83661-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ist der demokratische Rechtsstaat in Gefahr? Wie gehen wir mit der Klimakrise um? Und brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag? Wir leben in einer Zeit großer Veränderungen, die uns als Gesellschaft herausfordern. Expertinnen und Experten nehmen diese und weitere Fragen aus politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Perspektive unter die Lupe.
Dieser Band präsentiert ihre Ergebnisse in der Münsteraner Diskussionsreihe DomGedanken 2024.
Autoren/Hrsg.
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Michael Rutz
Zeitenwenden als Chance
»Zeitenwende« – so lautet der Titel dieses Buches. Der Begriff hat Konjunktur, seit ihn Bundeskanzler Olaf Scholz mit jener Bundestagsrede prominent gemacht hat, die er am Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hielt: »Der 24. Februar markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents«, sagte Scholz damals, »und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.« Scholz markierte mit diesen Worten, was eine Zeitenwende im Unterschied zu den vielen Zäsuren des Lebens definiert. Die Welt hat nicht nur einen vielleicht vorübergehenden Schock erlebt, sie ist tatsächlich eine andere geworden: Auf völkerrechtliche Verträge mit Russland ist kein Verlass mehr, die Souveränität von Staaten wird für Moskau wieder zur bloßen Verfügungsmasse, Menschenleben sind für die Protagonisten russischer Großmachtpolitik bedeutungslos geworden. Er hat uns deutlich gemacht, dass die »Wende« nach 1989 eben nicht das Ende der europäischen Feindschaften war. Vielmehr war der Verlust des sowjetischen Imperiums mit inneren Gärungen in Russland verbunden, die wir nicht wahrnehmen wollten und die sich nun in einer neuen, restaurativen Aggressionslust russischer Machthaber äußert, deren Landhunger mit der Ukraine nicht enden wird1. Auch hat der Überfall auf die Ukraine die westlichen Staaten (und vor allem Deutschland) daran erinnert, dass es im Gegensatz zu allen Hoffnungen nach 1989 doch noch darauf ankommt, verteidigungsfähig zu sein und ihre abgemagerten Verteidigungskräfte wieder aufzupäppeln. Er hat die westliche Verteidigungsgemeinschaft massiv gestärkt und erweitert. Das alles ist mehr als eine einfache Erfahrungszäsur. »Zäsuren strukturieren unser Leben, aber Zeitenwenden stellen es in Frage«, beschrieb das der Historiker Martin Sabrow,2 und oft genug erkennen wir sie im Moment ihres Geschehens nicht, vielmehr ergeben sich »Deutungszäsuren … aus der retrospektiven Festlegung von Zeitgrenzen durch die Nachlebenden«.3 Für den Ukrainekrieg wird man das sagen können – die Umbrüche, die wir im westlichen Denken, in der politischen Aktion, in der Neuformierung der Geopolitik erleben, sind nicht reversibel. Die Welt ist im Begriff, sich psychisch und machtpolitisch neu zu ordnen. Das alles ist keine einzigartige Erfahrung. Die Geschichte – gerade die des 20. Jahrhunderts – kennt Beispiele, in denen Großmachtpolitik leichthändig über Staatsgrenzen disponierte und dies als Friedenssicherung ausgab. Die Historikerin Claudia Weber, deren Aufsatz mit in dieses Buch aufgenommen wurde, illustriert das, indem sie die europäische Geschichte der letzten 200 Jahre vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges Revue passieren lässt. Und sie bilanziert die letzten 35 Jahre: »Mit dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung verknüpft, dass der ›lange Frieden‹ global in eine Zeit der demokratischen und marktwirtschaftlichen Prosperität führen würde. Momentan wird diese Hoffnung als sogenannte Friedensdividende bezeichnet, die in der Gegenwart aufgebraucht scheint.« Zeitenwende für den Nahen Osten
Diese Zeilen schreibe ich am 7. Oktober 2024, ein Jahr nach dem Überfall der Hamas auf Israel, bei dem diese Terrororganisation 1139 Menschen ermordete – darunter feiernde Zivilisten – und mehr als 200 entführte. Der Krieg, den Israel seither an allen Fronten führt, um sich und sein Existenzrecht zu verteidigen, hat dramatische Folgen für die politische Ordnung der Region, für die Chancen auf ein friedliches Zusammenleben dort, für das Potenzial an Hass und Feindschaft. Auch das: keine Zäsur, sondern eine Zeitenwende, nach der die Welt (nicht nur) dort nicht mehr so sein wird wie zuvor. Dieses Massaker der Hamas und auch die Zerstörungen in Gaza und im Libanon durch die militärischen Operationen Israels gegen die Hamas und die Hisbollah werden nicht vergessen werden. Der erst vor wenigen Jahren mit den Abraham Accords4 angestoßene Prozess einer Aussöhnung in der Region zwischen Israel und arabischen Nachbarstaaten hat sein abruptes einstweiliges Ende gefunden, weil es die beiden Terrororganisationen, die sowohl Palästina als auch den Libanon unterwandert haben, nicht zulassen wollten, dass ein dauerhafter Friede ihre Machtbasis zerstört und gar noch so etwas wie eine gefestigte Demokratie aufkommt. Weltweit zeigt sich nun ganz offen ein oft gewaltbereiter Antisemitismus, häufig als Kritik an Israel verbrämt, der das Leben für Juden wieder gefährlich macht, der ihre Synagogen und damit ihr religiöses Leben bedroht und der auch an Schulen und Hochschulen wieder reüssiert. Antisemitische Straftaten nehmen sprunghaft zu. Es ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte von besonderer Schwere, dass sich all das auch auf deutschen Straßen abspielt. Die Spaltungsversuche haben auch hierzulande Konjunktur, linker und rechter Antisemitismus vereinen sich zu einer politischen Melange, die durchaus Wirkungsmacht erzielt. Es ist kein Trost, dass ein beachtlicher Teil der antisemitischen Umtriebe von Menschen befeuert wird, die arabischen Migrationshintergrund haben und die ihren ewigen Hass auf Israel mit im Gepäck hatten. Sie leben nun in Deutschland, und daran wird sich nichts ändern. Auch das: nicht nur eine Zäsur, sondern eine Zeitenwende. Überhaupt hatte die Migrationswelle, die die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 ins Land ließ, Folgen, die man damals nicht absehen konnte oder in Kauf nahm. Nicht nur versiegte der Strom von Migranten auch nach 2015 nicht und hält bis heute an. Vielmehr veränderte sich auch die Rezeption dieser Zuwanderungsbewegung in der Bevölkerung – von einer Willkommens- zu einer Ablehnungskultur, deren politische Folgen in den Wahlergebnissen der Wahlen des Jahres 2024 zu besichtigen sind. Das Grundgesetz – ein Juwel
Politiker, die damit zu tun haben, sind um ihren Auftrag nicht zu beneiden. Joe Chialo ist in Berlin Senator für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt, ein Titel, der die Schwierigkeit der Aufgabe bereits beschreibt. Wer in einer Zeit wachsender gesellschaftlicher Risse Zusammenhalt herstellen will, der braucht klare Vorstellungen von dem, was eine Gesellschaft zusammenhält. Und es braucht Optimismus, dass man das auch schaffen kann, dass bei den Menschen eines Landes (und gerade denen in Berlin) Einsicht und der Wille zu Freiheit, Menschenwürde und Demokratie Gegnerschaft und feindliche Emotionen überlagern. Das bedarf großer Überzeugungskraft und eines klaren Kompasses, den Chialo nicht nur aus seinem Glauben, sondern vor allem auch aus dem für uns alle grundlegenden Grundgesetz unseres Landes zieht und den er in diesem Buch beschreibt. Denn es ist offenkundig, dass die Millionen Migranten, die nun in Deutschland leben, unsere Gesellschaft verändern, nicht nur im Straßenbild. Es ist schwieriger geworden, gemeinsame Prinzipien des Zusammenlebens in einer freiheitlichen, gleichberechtigten und demokratischen Gesellschaft zu vermitteln. Die Lehrer unserer Schulen wissen davon ein Lied zu singen und unsere Sicherheitskräfte auch. Notwendig wäre ein neuer Gesellschaftsvertrag, an den sich alle binden ließen. Aleida Assmann, die kluge Anthropologin, mahnt immer wieder – und auch in diesem Buch –, dass man Menschenrechte nicht in Anspruch nehmen kann, ohne sich seiner Menschenpflichten bewusst zu sein. Wenn Aleida Assmann auf das Grundgesetz verweist, so deshalb, weil sie es für ein »Wunder der Kontinuität und Stetigkeit [hält] nach all den schnellen und dramatischen politischen Wechseln, die Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in seiner Staatsform erlebt hat«. Das Grundgesetz war also so etwas wie ein ganz neuer Gesellschaftsvertrag, der trotz aller vorausgegangenen Geschichte möglich wurde, eine »Neugründung der Bundesrepublik 1949 als eine kollektive Konversion«. Assmann zitiert den ehemaligen FDP-Politiker Gerhart Rudolf Baum, der schrieb, damals »saß nicht die Jugend, die ein neues Leben beginnen konnte, im Plenarsaal, sondern lauter gestandene Männer. Und sie haben sich gelöst von einer Entwicklung, die ihre ganze Geschichte bestimmt hat, nämlich eine völkische Gesinnung, eine auf Rasse und Volk und Volkstum und Volksgemeinschaft und Nationalismus gegründete Gesellschaft. Die ist abgelöst worden durch das Grundgesetz. Aus Untertanen sind Staatsbürger geworden.« Dass dieses Grundgesetz ein Meisterwerk seiner Väter war, weiß niemand besser als ein Verfassungsrichter. Peter Michael Huber, heute wieder Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, übte dieses Amt zwölf Jahre lang aus. Er ist unverändert fasziniert von dem Perspektivenwechsel, der mit dem Grundgesetz im Entwurf des Herrenchiemseer Konvents für den Artikel 1 einherging: »Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates Willen.« Von dieser Idee ist das Grundgesetz durchdrungen, in seiner Garantie der Menschenrechte bis hin zu den Regelungen unseres Zusammenlebens. Es sei deshalb »Ausdruck einer funktionierenden Gewaltenteilung und einer lebendigen Verfassungsordnung«, schreibt Huber in diesem Buch, und »insoweit wahrlich ein ›living instrument‹«. Aber auch er sieht die Gefahren, die die vorbeschriebenen Epochenbrüche für die Akzeptanz des demokratischen Rechtsstaats und seiner Institutionen und damit auch für das Grundgesetz bedeuten können. Es sei deshalb wichtig, »dass sich Bürgerinnen und Bürger ernst genommen fühlen, dass man ihnen wirklich zuhört, statt...