E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Sanders Mein Herz ist eine Insel
Originalausgabe 2017
ISBN: 978-3-641-19507-6
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-19507-6
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Isla Grant ging es schon mal besser. Ohne Wohnung und ohne Job bleibt ihr keine andere Wahl, als nach Hause zurückzukehren, nach Bailevar, eine winzige Insel an der rauen Westküste Schottlands. Und das, obwohl sie kaum Kontakt zu ihrer Familie hat. Als sie auch noch ausgerechnet ihre Jugendliebe Finn wiedertrifft, sind alle unliebsamen Erinnerungen zurück. Ihr einziger Lichtblick ist die alte Dame Shona, die wie keine andere Geschichten erzählt, besonders gern die Legende von der verschwundenen Insel. Doch schon bald erkennt Isla, welch tragisches Geheimnis Shona zu verbergen versucht. Und auch ihre eigene Vergangenheit holt Isla unaufhaltsam ein …
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1 Isla Wenn ich an Bailevar denke, denke ich an Krabben. Tonnen davon. Eimerweise hässliche rotbraune Schalentiere, mit starren Augen und klackernden Scheren, und dann an das Knirschen, das diese Schalen erzeugten, wenn meine Mutter sich ihrer annahm. Ich sitze mit einem Malbuch am Küchentisch, und krrrrrk. Ich spiele mit den Filzpuppen, und knackknackknackknackknack. Meine Mutter, die dünnen Arme in viel zu großen Gummihandschuhen, bis zu den Ellbogen in Krustentierleichen vergraben. Der Gedanke bereitet mir Gänsehaut, auch jetzt noch. Der Gedanke an diese Insel, an mein Elternhaus, an dieses Bild und all die anderen beschwört einen Widerstand in mir herauf, so stark, dass er eigentlich den Bus zum Stillstand zwingen müsste, in dem ich gerade sitze. Nur tut er es nicht. Die Räder holpern über Viehgatter, die schmale Straße entlang, vorbei an grünen Weiden, dunklen Waldstücken, farnbedeckten Hügeln. Wie oft ich diese Strecke gefahren bin. Von Oban nach Craignure nach Fionnphort nach Bailevar. Mein halbes Leben habe ich auf Fähren und in diesem Bus verbracht, so kommt es mir jedenfalls vor. Und dass ich heute noch einmal hier sitze, auf dem Weg in mein sogenanntes Zuhause, ohne Plan und ohne Rückfahrkarte, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Nicht vor einem Jahr, nicht vor einer Woche. Nicht bis gestern, als mir Eric eröffnete … als er mir sagte … Ich kneife die Augen zusammen und drücke den Hinterkopf in die Lehne meines Sitzes. Ich kann jetzt nicht an Eric denken. Wenn ich an Eric denke, verliere ich das letzte bisschen Verstand. Der Bus hält am Fährpunkt von Fionnphort, und es beginnt zu regnen, was absolut nicht überrascht. Das Klima an der Westküste ist rau, auf den Inseln rauer, und nun, Anfang September, ist es rau und nicht selten nass. Gott, ich klinge wie ein Reiseführer. Das ist es, was Bailevar mit mir macht. Es gibt so vieles, woran ich hier nicht zurückdenken möchte, dass ich mich freiwillig mit dem Wetter beschäftige. Und wenn ich schon dabei bin – der Wind ist stark. Meine Haare wirbeln aus der Kapuze meiner Regenjacke, mir ins Gesicht, während ich den Koffer zur Fähranlegestelle zerre und meine Leinentasche, die ich in der anderen Hand halte, so nervtötend oft gegen mein Schienbein schlackert, als wolle sie mich piesacken. Soll ich das als Zeichen verstehen? Was, wenn ich gar nicht heimkehren, sondern mein blödes Gepäck zurück in den Bus hieven und mich schleunigst in die andere Richtung davonmachen sollte? Ich seufze. Als könnte ich irgendwohin. Hätte ich in Edinburgh bleiben sollen? Wohl kaum. Nach dem Streit mit Eric wollte ich nur eines: weg. Dass ich in Bailevar enden würde, wurde mir erst klar, als ich am Bahnhof stand und das Ticket nach Oban in der Hand hielt. Und was sagt das jetzt über mich aus? Dass ich in der Krise meines Lebens genau dorthin flüchte, von wo ich seinerzeit nicht schnell genug fortkommen konnte? Von wo ich annahm, schon die schlimmsten Miseren meines Lebens hinter mir gelassen zu haben? Nun, gut gemacht, Isla. Mit deinen zweiunddreißig Jahren bist du genauso planlos, wie du es mit zweiundzwanzig warst. Wobei, das ist nicht ganz richtig. Mit zweiundzwanzig, da hatte ich Pläne, Myriaden davon. Ich weiß noch genau, wie ich damals auf diesem Schiff stand, draußen an Deck, Kyles alten Rucksack umgeschnallt, die Nase in den Wind gereckt, den Kopf voller Ideen. Studieren stand ganz oben auf der Liste, und ja – aus Sicht der schottischen Fischerfamilie schien diese Idee geradezu aufständisch. Die eigenen vier Wände. Weg vom Vater. Von den Brüdern. Der Insel. Den Erinnerungen. Ein ganz neues Leben. Die Sohlen meiner Stiefel klackern über das Metall der Laderampe, und dann wuchte ich Koffer und Tasche ins Innere der muffigen Kabine, an schäbigen Sitzbänken vorbei in den hinteren Teil, wo ich vor einem Fenster stehen bleibe, mit dem Rücken zum Raum. Dieses Schiff war schon alt, als ich ein Kind war. Und es knarzt und riecht und schwankt genauso wie damals. Überhaupt ist alles genau wie damals. Die alte Fähre, das raue Meer, die Insel Iona, Bailevars berühmte Nachbarin, auf die das Boot zusteuert, bevor es links daran vorbeizieht. Ich blicke aus dem Fenster, doch durch die regenverhangenen Scheiben kann ich die Abbey kaum erkennen, gerade mal Ionas verschwommene Konturen zeichnen sich ab. Die meisten, die in Fionnphort auf die Fähre steigen, wollen dorthin, die wenigsten nach Bailevar, denn da gibt es nichts zu sehen. Von da wollen die Menschen weg. Ich zumindest, ich wollte das. Ich und meine Mutter. Ich sehe aus wie sie. Weshalb ich die Kapuze meiner Jacke auch im Innern des Schiffs aufbehalte. Die bleiche Haut, die roten Locken, das alles ist zu auffällig, um nicht aufzufallen. Aus dem Augenwinkel sehe ich mich nach den anderen Passagieren um, die mit dem Rücken zu mir auf den Sitzbänken ausharren. Ich hoffe wirklich, dass ich hier niemanden treffe, den ich nicht treffen möchte. Dass mich niemand anspricht, bevor ich mir überlegt habe, was ich auf all die Fragen antworten werde. Bailevar ist klein, wirklich winzig. Es leben kaum sechzig Menschen dort, und die kennen alle und jeden und wissen alles und mehr, und das hat mich damals verrückt gemacht und wird es diesmal wieder. Ich bin mir ziemlich sicher, auf diesem Schiff sind einige, die mich kennen. Wer sonst sollte auf die Fähre steigen? Zumal es die letzte ist, die heute ablegt. Nach achtzehn Uhr ruht die See. Dann gibt es kein Entkommen mehr, kein Hin und kein Zurück, zumindest nicht für die, die nicht selbst ein Boot besitzen. Ist das Lilian McIntyre da vorne? Oh, Mist. Ich hoffe, sie entdeckt mich nicht. Solange niemand bemerkt hat, dass ich hier bin, ist es vielleicht auch nicht wahr. Ich ziehe die Kapuze ein Stück tiefer in die Stirn und wende den Blick wieder dem Fenster zu. Die Fahrt dauert fünfundzwanzig Minuten, die nach Iona nur zehn. Das bedeutet, dass wir auf Bailevar noch ein ganzes Stück weiter draußen liegen, da, wo sich nichts mehr vor uns auftürmt außer den eisgrauen Wellen des Nordatlantiks. Das Leben auf der Insel ist ruppig, und die Menschen sind es auch. Ich frage mich, wieso Lilian McIntyre immer noch hier ist. Weshalb es überhaupt jemand vorzieht, auf diesem Eiland zu bleiben, statt in der Zivilisation zu leben, ist mir ein Rätsel. Wobei, natürlich, es ist ihr Zuhause. Und das hat schon manche daran gehindert zu gehen. Meinen Vater, meine Brüder, den alten Graham und all die anderen Farmer und Fischer, und Shona natürlich. Allerdings nicht Finn. Das Letzte, was ich von Finn weiß, ist, dass er in irgendeinem angesagten Restaurant in London in der Küche stand. Also gut, nicht in irgendeinem – in dem Restaurant. Eric hat zwei Monate lang darauf gewartet, einen Tisch zu bekommen, was ich erst dann erfuhr, als wir unsere Koffer für das Wochenende packten und er mir eröffnete, dass mein Ex inzwischen wohl sehr gut mit dem Kochlöffel umgehen könne, und fragte, ob das eventuell auf andere seiner Qualitäten schließen ließe (zwinker, zwinker). Letztlich sind wir nicht nach London geflogen, aber es gab keinen Streit deswegen. Man muss Eric zugutehalten, dass er mich nicht ärgern oder provozieren wollte, sondern tatsächlich überraschen: Er dachte, ich würde mich freuen, Finn wiederzusehen, zumal dieses hypergehypte Lokal an sich schon den Flug nach England wert gewesen wäre, ganz abgesehen davon, dass ich mit einem der Köche geschlafen hatte, aber das habe ich nicht laut gesagt, sondern lediglich in Gedanken hinzugefügt. Ich hätte es genauso gut aussprechen können. Wenn Eric etwas nicht war, dann eifersüchtig – offensichtlich –, und auch wenn mich das zu Beginn unserer Beziehung einige Male irritierte, habe ich es mir mit den Jahren abgewöhnt, es persönlich zu nehmen. Besser gesagt, es nicht auf Erics Gefühle zu mir zu beziehen. Er war nicht deshalb nicht eifersüchtig, weil ich ihm nicht wichtig war. Er hat mir vertraut. Und ja, er war ein von sich eingenommener Pfau, der nicht im Traum daran gedacht hätte, ich würde ihn mit einem dahergelaufenen schottischen Inselkoch betrügen. Aber er hat mir auch vertraut. Und ich ihm. Bis gestern Abend. Ich kann jetzt nicht über Eric nachdenken. Wenn ich an Eric denke, setzt mein Herz aus. Also gut. Finn. Ich bin froh, dass er nicht auf Bailevar ist. Unsere gemeinsame Geschichte ist so alt wie Methusalem und so unaufregend wie Toastbrot, aber irgendwie bin ich froh, dass ich mich ihr nicht auch noch stellen muss. Wenn ich es recht bedenke, fühle ich mich im Augenblick überhaupt nicht in der Lage, mich irgendwem oder irgendetwas zu stellen, und ja, die Ironie entgeht mir nicht: In einer solchen Situation meinem Vater gegenüberzutreten ist womöglich nicht die glanzvollste Idee. Ich seufze. Und dann bleibe ich einfach stehen und lasse das Meer an mir vorüberziehen. »Isla?« Oje. Ich starre weiter aus dem Fenster. Durch den Regen schimmert die überschaubare Küste Bailevars, die Reihe der kleinen Cottages am Wasser, der schmale Steg. Womöglich vier Minuten noch, dann legen wir an, und beinahe hätte ich die Überfahrt ohne Zwischenfälle überstanden. Mist. Mist, Mist, Mist. »Isla Grant?« Ich nehme einen tiefen Atemzug, dann drehe ich mich zu Lilian um. »Lilian, hey«, sage ich, redlich bemüht um einen entspannten Gesichtsausdruck. »Das ist aber eine Überraschung! Dich habe ich ja ewig nicht gesehen. Wie geht es dir?« Lilian blinzelt verwirrt, und ich kann es ihr nicht verübeln. Ich bin selbst erstaunt über diesen Redeschwall. Angriff ist eben die beste Verteidigung. »Du siehst sehr gut aus«, lege ich nach. »So …...