E-Book, Deutsch, Band 1, 248 Seiten
Schacht / Seidel ... wenn Gott Geschichte macht!
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-374-04377-4
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
1989 contra 1789
E-Book, Deutsch, Band 1, 248 Seiten
Reihe: GEORGIANA. Neue theologische Perspektiven
ISBN: 978-3-374-04377-4
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Geschichtsphilosophen haben Gott aus der Welt nur verschieden hinausinterpretiert; es kommt aber darauf an, ihn in ihr wiederzuentdecken.
(Ulrich Schacht)
In den Staaten Ostmitteleuropas und in der DDR vollzog sich 1989/90 eine friedliche Revolution, die das kommunistische Herrschaftssystem stürzte. Initiatoren des gewaltfreien Prozesses in Ostdeutschland waren vornehmlich Gruppen und Personen, die aus den evangelischen Kirchen stammten oder in den geschützten Räumen der Kirche Aufnahme fanden.
Der aus christlichem Ethos erwachsene Charakter dieser Revolution verleiht dem Epochenereignis eine Qualität, die sich von der aller vorangegangenen europäischen Gewaltrevolutionen radikal unterscheidet. Daher erscheint es zwingend, nach dem ideellen Grund der 1989er Revolution zu fragen – ohne Angst vor Anknüpfungen an den scheinbar obsolet gewordenen Begriff der Heilsgeschichte. Ist die Friedliche Revolution etwa Gottes Antwort auf die Gottes- und Menschenfeindschaft der Französischen Revolution von 1789, die in einem Blutbad endete?
Mit Beiträgen von: Prof Seubert, Prof. Leiner, Prof. Küenzlen, Prof. Schuller, Dr. Kleinschmidt, Altbischof Dr. Knuth, Ulrich Schacht, Peter Voß.
[... If God is Making History!
1989 Versus 1789]
In the states of Eastern Central Europe and in the GDR a peaceful revolution took place in 1989/90 which overthrew the Communist system. Starting points of the non-violent process particularly in the SED-state have been primarily groups and persons from the Protestant churches or those who were received in the protected area of the church. The Christian signature of the events is therefore a fundamental fact which poses questions concerning the interpretation of the peaceful revolution.
The question arises whether there is a final justification of a ethically qualified revolution like that of 1989 as distinct from its bloody predecessors. The peaceful revolution of 1989, is it even an answer of God to the constitutive hostility towards God and man of the revolutions of 1789 and 1917?
kurz:
In den Staaten Ostmitteleuropas und in der DDR vollzog sich 1989/90 eine friedliche Revolution, die das kommunistische Herrschaftssystem stürzte. Ausgangspunkt des gewaltfreien Prozesses vor allem im SED-Staat waren vornehmlich Gruppen und Personen, die aus den evangelischen Kirchen stammten oder in den geschützten Räumen der Kirche Aufnahme fanden. Der dezidiert aus christlichem Ethos erwachsene Charakter dieser Revolution, der bahnbrechende Vorgänge in Polen um die katholische Gewerkschaftsbewegung »Solidarnosc« vorangegangen waren, hat dem Epochenereignis einen Charakter verliehen, der sich von den klassischen europäischen Gewaltrevolutionen radikal unterscheidet. Daher erscheint es geradezu zwingend, nach dem ideellen Grund der 1989er Revolution zu fragen. Ist die Friedliche Revolution von 1989 eine Antwort Gottes auf die geradezu konstitutive Gottes- und Menschenfeindschaft der in blutigen Herrschaftssystemen untergegangenen Revolutionen von 1789 und 1917?
Mit Beiträgen von Harald Seubert (Basel), Klaus Michael Kodalle (Jena), Hans Christian Knuth, (Eckernförde), Sebastian Kleinschmidt (Berlin), Wolfgang Schuller (Konstanz) Ulrich Schacht (Förslöv/Schweden) und Peter Voß (Hamburg)
Zur Reihe
GEORGIANA
Neue theologische Perspektiven
Herausgegeben von Ulrich Schacht und Thomas A. Seidel im Auftrag der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden
(www.georgsbruderschaft.de)
Das Christentum am Beginn des 21. Jahrhunderts steht vor allem in Europa und im Nahen Osten im Banne zweier radikaler Bedrohungen: Zeigt sich im Nahen Osten und in Teilen Nordafrikas der Versuch seiner physischen Vernichtung durch islamistische Terroristen, steht das Christentum in Europa einem Säkularisierungs-Furor gegenüber, dessen ökonomistischer Kern den alten totalitären Materialismus in neuestem Gewand zeigt. Wie seine Vorgänger, versucht er, das in Gott gegründete Menschenbild des Christentums final aufzulösen - zugunsten innerweltlicher Erlösungsprozesse, Stichwort: Globalisierung, in denen der Mensch aber nur ein weiteres Mal unter das Diktat einer „Maskerade des Bösen“ (D. Bonhoeffer) gerät. Diese Situation erfordert dreierlei: eine realistische theologische Analyse, das vor allem auch gemeindepraktische Ende der „Selbstsäkularisierung“ (W. Huber) von Kirche und Christentum sowie in der Folge eine offensive Apologie ihrer Wahrheit. Von hierher sollen all jene Normen für das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft wiedergewonnen werden, die im beschriebenen Prozess als ebenso bewusste wie wirksame Ableitungen verlorengingen. Die Reihe Georgiana der Ev. Bruderschaft St. Georgs-Orden versteht sich vor diesem Hintergrund als ein Ort geistig-geistlicher Debatten, an dem entschiedener Widerspruch und ermutigende Impulse gleichrangig auftreten.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Religionssoziologie
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religion & Politik, Religionsfreiheit
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Kirchengeschichte
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religionssoziologie und -psychologie, Spiritualität, Mystik
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- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Gesellschaft, Kirche und Politik
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Impressum;5
3;Warum dieses Buch?;6
4;Inhalt;12
5;Kapitel I;14
5.1;Wenn Gott Geschichte macht! 1989 contra 1789;16
6;Kapitel II;100
6.1;Die „Furie des Verschwindens“ und der Geist wahrer Freiheit. Zur Phänomenologie von zweierlei Revolutionen;102
6.2;Versöhnung. Zeichen für Gottes Wirken in den Revolutionen 1789 und 1989;134
6.3;„Gott widersteht den Hoffärtigen!“ Der 9. November 1989: Ein moralischer Gottesbeweis?;147
7;Kapitel III;176
7.1;Geschichtsgott oder Gott der Geschichte? Eine theologisch-philosophische Meditation in fünf Schritten;178
7.2;Am Punkt der äußersten Utopie. Was heißt es, theologische Fragen an die Geschichte zu richten?;185
7.3;„Kein Tropfen Blut ist geflossen!“ Kerzen, Glockengeläut und Choräle: Die gewaltlose Volksrevolution von 1989;194
7.4;„Um Mensch zu sein, sich weigern, Gott zu sein“. Revolte oder Revolution: Camus mittelmeerisches Denken;211
8;Anhang;228
8.1;Personenregister;230
8.2;Die Autoren;237
8.3;Kurze Geschichte der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden (St. GO);242
Harald Seubert Die „Furie des Verschwindens“ und der Geist wahrer Freiheit
Zur Phänomenologie von zweierlei Revolutionen1 Prolog „Was für ein Jahr! Im Jahr des 100. Geburtstages von Hitler eine reguläre bürgerliche Revolution! Und wir waren dabei!“2, so notierte Walter Kempowski am 31. 12. 1989 in sein Tagebuch. Im Jahr 1989, so Timothy Gordon Ash damals, ging ein Völker- und Bürgerfrühling durch Europa.3 Wahrgenommen wurde eine Revolution, die freilegte, schonte, begründete, die nicht tötete, und die sich damit von der „Mutter aller Revolutionen der Neuzeit“, der französischen, markant unterschied. I Zunächst das magische Datum: 1789. Das Phänomen der Französischen Revolution möchte ich in der Brechung durch die deutsche Geistesgeschichte, die es unmittelbar kommentierte und auf den metaphysischen Begriff brachte, anzeigen. Mit Faszination und gleichermaßen tiefem Erschrecken nahmen Kant, Schiller, Fichte, Hegel und viele andere wahr, wie die Revolution ihre Kinder fraß und sich gleichsam in einer umfassenden Zerstörungsmacht gegen sich selbst wandte. Hegel brachte dies auf die berühmte Formel von der „Furie des Verschwindens“,4 die entfesselt wurde, als sich die leere, abstrakte Freiheit verunendlichte und absolut setzte. Alles Einzelne wurde, so Hegel, zur Staatsaktion. Die großen universalen Parolen und ihre Realisierung lassen nichts neben sich bestehen, sie brechen mit christlicher Tradition, mit Herkunft, aber auch mit der Endlichkeit der menschlichen Natur. „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat.“5 Die absolute Freiheit treibt also den gleichfalls unbegrenzten Schrecken aus sich hervor. Im Tod, nirgends sonst, findet jene Freiheit ihr Gegenüber. In ihrem Sog zergeht Tradition zu nichts, was darin besonders sinnfällig wird, dass die verabsolutierte kalte Allmacht der Idee der absoluten Freiheit, die sich das Être supreme, einen neuen, aber auch seinerseits ganz und gar abstrakten Gottesbegriff, erdachte, auch die Zeit neu erfand.6 Sie „setzte“ einen von allem Habitus europäischen Ethos abgelösten leeren Tugendbegriff, der in jähem Umschlag in den Terror führte. Für die Vollstreckung jener totalen und zugleich gänzlich leeren Tugend firmiert wie eine Allegorie die Guillotine, ein auf äußerste Ökonomie gebrachtes Instrument massenhaften Tötens, unter dessen Ägide der leere Tod nach Hegel nicht mehr bedeutet, als ein durchschlagener Kohlstrunk und ein Schluck Wassers.7 Gleichwohl: der alte Immanuel Kant sah in der Französischen Revolution auch ein „Geschichtszeichen“ entworfen: was nichts anderes bedeutet, als dass die transzendentale Vernunftgeschichte in einem äußeren Ereignis zutage tritt und dass sinnfällig wird, dass die Natur sich für die Einung der Menschheit unter einer republikanischen Idee des Friedens verbürgt.8 II Das Gegenbild, die Revolution von 1989, hatte ein langes Vorspiel, auch in Deutschland selbst. Dazu gehört nicht nur der 17. Juni 1953, dazu gehören auch die Biographien jener Opposition, die sich dem „eisernen Band“ der Ideologie stetig wie der Tropfen und teilweise entwanden.22 Man sollte bedenken, dass ohne die schmerzliche, aber zugleich nicht zu beugende Prägung dieser Biographien durch Jahrzehnte hindurch 1989 nicht möglich gewesen wäre. Manche Lebensläufe, die zu früh endeten, die durch Gewaltwirkung zerbrochen wurden, deren Potenziale sich nicht entfalten konnten, sind erst in dem guten Ausgang gerettet und bewahrt. Nicht wenige von ihnen erkannten seit Mitte der fünfziger Jahre, dass, wie mein philosophischer Lehrer Manfred Riedel (1936 - 2009) formulierte, im Ulbricht-Umkreis „die Phrase in die Phrase verliebt“ sei. Diese Phraseologie empörte sie, diesseits und jenseits gängiger politischer oder geschichtsphilosophischer Klischees. Nicht wenige von jenen denkenden jungen Menschen wurden in die Produktion verschickt, ihr Leben aus der Bahn geworfen: Unfälle, früher Tod waren nicht selten. Das Gesicht der „kommoden Diktatur“ hatte die DDR nur für die, die schwiegen und sich anpassten, und vor allem für die Linke des Westens. Die Fratze der totalen Überwachung, der Demütigung, Erziehungsdiktatur lag nicht allzu weit unter der Oberfläche verborgen. Die Geschichte der DDR-Opposition bis in das Jahr 1989 legt auch eindrucksvoll darüber Rechenschaft ab, dass sich nicht nur Unmut angestaut hatte, dass keinesfalls Hass bestimmend und keineswegs ein arbiträrer „DM-Nationalismus“ (wie Jürgen Habermas damals dekretierte) leitend war (wie verständlich auch die Suche nach einem ökonomisch besseren Leben ist!). Wesentliche Quellen des Wandels sind vielmehr ein unbändiger, oft jugendlicher Lebenswille bei jenen Frauen und Männern um das 40. Lebensjahr, die die damalige Revolution trugen, eine Parrhesia, ein Sagen- und Erkennenwollen. Den gedämpften, ergrauenden Ton wollten – und konnten – sie nicht ertragen. Ein durchgehender Tenor: Es gebe nichts Kostbareres als die eigene Lebenszeit. Sie darf nicht vergeudet werden. Kirchliche Räume bedeuteten ein Asylon, ganz im antiken Klang des Wortes: einen Raum der Unverletzlichkeit. Eine andere Sprache war dort zu hören als die der Partei. Und allein dies schärfte den Blick für den falschen Zungenschlag, für die Leerformeln von „Freiheit“, „Gleichheit“, „Frieden“, „sozialistischen Brüdervölkern“. Ein wesentlicher Ort waren dabei die Sprachenkonvikte und theologischen Seminare in Naumburg, Leipzig, Erfurt und Ost-Berlin. Oppositionsgeist, Widerspruch durchziehen, keineswegs nur oder auch nur primär von Akademikern geprägt, die Geschichte der DDR: von Neugier, Unbeugsamkeit bestimmt, ständig davon bedroht, zerstört und zerbrochen zu werden – und doch im letzten unverloren. „Eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft im ganzen könnte sehr wohl das demokratische Band mürbe machen und die Art von Solidarität auszehren, auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist. Dann würde genau jene Konstellation eintreten, die Böckenförde im Auge hat: Die Verwandlung der Bürger wohlhabender und friedlicher liberaler Gesellschaften in vereinzelte, selbstinteressiert handelnde Monaden.“39 Wolfgang Schuller ist in der Summe dieser Beobachtungen voll und ganz zuzustimmen, wenn er meint, dass sich gemeinsames Geschichtsbewusstsein der Deutschen in Europa vor allem auch auf den Herbst 1989 gründen lassen könnte: „Ein Ereignis, das ohne jegliche Relativierung ein neues deutsches Selbstgefühl der Freiheit begründen könnte? Das wäre eine glückhafte neue Identität aller Deutschen, die die Höhepunkte früherer deutscher Geschichte in sich einschließen könnte.“40 Und Ehrhart Neubert fügt überzeugend hinzu: Erstmals sei die Zeile der Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ 1989 wieder mit Leben erfüllt worden.41 Die Revolution von 1989 hatte auch dezidiert deutsche Züge, ohne dass je der Bruch von 1933 – 1945 zurückgenommen worden wäre.42 Doch Phänomen und Vermächtnis der Revolution weisen über die deutsche Dimension hinaus. Man wird sagen können, dies sei die erste Revolution der Deutschen gewesen, die den Namen verdient! Was für eine Revolution aber, eine die den Revolutionsbegriff selbst verändert, in der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung vielleicht noch am ehesten der amerikanischen vergleichbar, ungleich näher aber der Reformation Luthers. 1968, aber auch 1918/?19 der Aufstand der Arbeiter- und Soldaten und die Räterepublik waren, wenn man sie „Revolutionen“ nennen soll, doch nur Surrogate, Filiationen von anderen großen Gärungen. III Spätestens hier kann man zum Fragekern vorgestoßen werden: Lässt sich eine geschichtstheologische Deutung dieser Revolution rechtfertigen, lässt sich gar begründet nahelegen, dass Gott...