Schivelbusch | Rückzug | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Schivelbusch Rückzug

Geschichten eines Tabus
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26304-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten eines Tabus

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-446-26304-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dass es immer vorwärtsgeht, gehört zu den Überzeugungen der Moderne: Der Rückzug ist nicht vorgesehen. Und doch befindet sich der Westen – seit dem Ende der Kolonialreiche und dem Aufstieg Chinas – auf dem Rückzug. Aber er meidet dieses Wort. Lieber spricht man von einer "Exit-Strategie" oder von der "Globalisierung", wenn von militärischen Niederlagen oder dem Verlust der Hegemonie auf den Weltmärkten die Rede ist. Wolfgang Schivelbusch zeigt an fünf Beispielen von der Französischen Revolution bis zum Vietnamkrieg, wie der Tabubruch des Rückzugs in unterschiedlichen Situationen gerechtfertigt wurde – und entdeckt verstörende Parallelen zu unserer Gegenwart.

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Flucht und Rückzug
Es ist ein biologisches Gesetz, dass jeder Organismus vor einer als übermächtig empfundenen äußeren Bedrohung zurückweicht. Diese Bewegung kann die innere Form der Kontraktion, also der Verringerung der bedrohten Angriffsfläche, annehmen oder als Gewinn von Abstand im äußeren Raum — als Flucht — stattfinden. Die Molluske kontrahiert, das höhere Tier flüchtet. Der Mensch hat die Wahl. Er kann flüchten. Sich dem Kampf stellen. Oder die Form der Selbsterhaltung wählen, die zwischen Flucht und Kampf liegt: den Rückzug. Wie Don Quijote nach einem seiner unglücklich verlaufenen Abenteuer seinem Knappen erklärt: Wer sich zurückzieht, flieht noch nicht … Ich räume daher auch ein, dass ich mich zurückgezogen habe, aber nicht, dass ich geflohen bin; und hierin habe ich vielen Helden nachgeahmt, die sich für bessere Zeiten aufsparen. Eine Urszene menschlichen Fluchtverhaltens findet sich im 22. Buch der Ilias. Hektor geht zuversichtlich in den Zweikampf mit Achill vor den Mauern der Stadt. Nichts in seinem früheren Verhalten lässt auf eine weniger als heldenhafte Performance schließen. Wie er selbst erwartet der Hörer oder Leser von dem Epos, dass er dem nach Patroklos’ Tod rachedurstigen Achill todesverachtend entgegentritt. In diesem Sinne verabschiedet er sich von seinen Angehörigen, die ihn vergebens zurückzuhalten suchen. Dann erfolgt der unerwartete Umschlag. Den Anblick des in schimmernder Rüstung auf ihn zustürzenden Achill erträgt Hektor nicht. Ohne Besinnung ergreift er die Flucht. Es kommt zur Verfolgung. Dreimal umkreisen die beiden die Stadtmauer. Flucht und Verfolgung werden dabei zum athletischen Agon, dem die versammelten Armeen wie Publikum in einem Stadion beiwohnen. Dieses retardierende Zwischenspiel lässt zeitweise das Skandalon der Heldenflucht in den Hintergrund treten. Im Moment der physischen Erschöpfung Hektors ist dieser Exkurs beendet. Die Urszene tritt erneut in ihr Recht. Hektor richtet einen letzten Friedens- oder vielmehr Gnadenappell an Achill, den dieser kalt zurückweist. Der Rest, einschließlich des hinterhältig-sinntäuschenden Tricks, mit dem Athene Hektor in die tödliche Irre führt, ist bekannt. Die seit der Antike immer wieder gestellte Frage lautet: Macht die Flucht Hektor zum Feigling? Übereinstimmend verneinen die Homerkommentare diese Möglichkeit. Hektors vorübergehende Schwäche wird so wenig als Feigheit, Gesichtsverlust und Schande gesehen wie Jesu Anrufung Gottes im Garten Gethsemane, ihm den bitteren Kelch der Kreuzigung zu ersparen. Neben der Flucht Hektors finden sich in der Ilias aber auch andere Weisen, sich in Sicherheit zu bringen. Odysseus und Menelaos weichen vor einer feindlichen Übermacht, die Übermacht auch deshalb ist, weil die Götter auf ihrer Seite stehen. Aber sie rennen nicht davon, sondern bewegen sich rückwärts kämpfend-verteidigend und vor allem: mit dem Gesicht und dem Schild in Richtung des Gegners. Ihr Verhalten ist das Urbild des geordneten Rückzugs. Mit Homers Bild zu sprechen: Sie ziehen sich kämpferisch aus der brenzligen Affäre zurück wie der Löwe vor den die Herde verteidigenden Hirten und Hunden.1 Die Rede vom geordneten Rückzug hat nach den Erfahrungen des totalen Krieges und der totalen Propaganda im 20. Jahrhundert jede Glaubwürdigkeit verloren. Allzu oft diente sie der durchschaubaren Verhüllung tatsächlicher Niederlagen. Militärisch und militärgeschichtlich hingegen hat sie ihre Gültigkeit behalten. Ein Blick auf die Darstellung des Rückzugs der Grande Armée Napoleons 1812 aus Russland verdeutlicht das. Denn während die allgemeine ›zivile‹ Geschichtsschreibung den Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt dieses Rückzugs, den Übergang über die Beresina, als militärische Katastrophe darstellt, erscheint er in der Militärgeschichte als der größte Geniestreich Napoleons schlechthin, vor Austerlitz, Jena und Auerstedt. Von der Flucht unterscheidet den Rückzug die Kontrolle, die der Zurückweichende über seine Situation behält. Die Kontrolle setzt die Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung voraus, welche ihrerseits von der Aufrechterhaltung der Disziplin abhängt. Was militärische Ordnung und Disziplin bedeuten, zeigt sich im Moment ihres Zusammenbruchs. Dann verwandelt sich die eben noch kampffähige Einheit in eine gestaltlose Menschenflut. In der antiken Militärliteratur wird eine in Flucht aufgelöste Einheit in der Regel mit Lämmern verglichen, die sich widerstandslos abschlachten lassen. Das gilt im Übrigen für beide Seiten, den Flüchtenden und den Verfolger. Wie bei Hektor an die Stelle des Heldenmuts die kreatürliche Todesangst (der phobos), so tritt bei Achill an die Stelle der Kriegertugend der gleichermaßen enthemmte Blutrausch (lyssa, von lyxox = Wolf). Wen die lyssa ergreift, hört auf Krieger zu sein und wird Berserker oder Amokläufer. So konträr Todesangst und Blutrausch zueinander stehen, militärisch wirken sie gleichermaßen destruktiv, weil sie die Grundlage aller militärischen Aktion infrage stellen. Die klassischen griechischen und römischen Anweisungen zur richtigen Kriegsführung verurteilen den aus der Reihe fliehenden Feigling ebenso wie den aus der Reihe tanzenden und den Gegner individuell verfolgenden Krieger. Das byzantinische Strategicon sieht für beide die Todesstrafe vor. * Den Truppenkörper unter allen Umständen und um jeden Preis als Einheit zusammenzuhalten ist die raison-d’être des Militärischen schlechthin. Vormarsch und Angriff — der winkende und von allen erwartete Sieg — bilden die natürliche Motivations- und Kohäsionskraft. Umgekehrt, wenn sich das Blatt wendet. Jede in ihrem Vormarsch unterbrochene und zum Rückzug gezwungene Truppe erleidet einen Absturz ihrer Moral. Deshalb bezeichnen die Militärtheoretiker aller Zeiten den Rückzug als die schwierigste militärische Operation überhaupt und als wichtigste Voraussetzung ihres Gelingens die Aufrechterhaltung ihrer Einheit, ihrer Ordnung und Disziplin. Johann von Nassau, der Begründer der modernen Militärdisziplin, nennt den Rückzug eine »ebenso große Kunst und Tapferkeit, wo nicht größer, als den Feind freudig anzugreifen«. Und: »einen rechtschaffenen Kapitän (erkennt) man eher bei einer Retraite als einem Angriff«.2 Aber was geschieht eigentlich, wenn eine militärische Einheit sich in Flucht auflöst? Schon der Begriff der Fluchtmasse, den Elias Canetti benutzt, weist darauf hin, dass hier durchaus Einheit und Ordnung herrscht. Zwar nicht die künstlich durch Disziplin geschaffene des Militärs, wohl aber die des biologischen Instinkts, der im entscheidenden Moment an die Stelle des militärischen Drills tritt. Man flieht zusammen, weil es sich so besser flieht … Solange man beisammen ist, empfindet man die Gefahr als verteilt … Unter so vielen nimmt keiner an, dass er das Opfer ist.3 Das entscheidende Bindemittel wäre also gar nicht die künstlich auferlegte militärische Disziplin, sondern der Instinkt. Er immunisiert die Masse gegen die individuelle Todesfurcht. Immer handelt die kriegerische Masse so, als wäre außerhalb von ihr Tod.4 Ein Tier, das herausspringt und eine eigene Richtung einschlägt, ist mehr gefährdet als die anderen. Ganz besonders aber fühlt es die Gefahr mehr, weil es allein ist, seine Angst ist größer.5 Was ein französisches Trainingsbuch zu Beginn des 20. Jahrhunderts über den Infanteristen sagt, klingt wie die militärische Anwendung dieses biologischen Prinzips: Er braucht unbedingt das Gefühl, nicht allein, sondern in Gemeinschaft zu kämpfen.6 * Kernstück der militärischen Revolution der frühen Neuzeit war die Wiederentdeckung und Wiedereinführung der Disziplin nach dem antiken Vorbild der Phalanx und der Legion. Sie setzte an die Stelle der individuell-impulsiv kämpfenden Haufen von Rittern und Landsknechten die mathematisch-geometrisch wie eine Maschine geordnete Infanterieeinheit. Constantia (Beständigkeit, Gleichmut) an die Stelle der Dämonen des phobos und der lyssa zu setzen war das Ziel. Die constantia manifestiert sich darin, dass keine affektive Bindung die Sachrichtung des Handelns beeinträchtigt.7 Dies galt für den einzelnen Soldaten wie für die aus der...


Schivelbusch, Wolfgang
Wolfgang Schivelbusch, geboren 1941 in Berlin, Historiker, Literaturwissenschaftler und Publizist, lebt nach vielen Jahren in New York wieder in Berlin. 2013 erhielt er den Lessing-Preis der Stadt Hamburg. Bei Hanser erschienen zuletzt:  Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945-1948 (1995), Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalismus und New Deal. 1933-1939 (2005) und Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion (2015).



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