E-Book, Deutsch, 554 Seiten
Schneider Grundriss Geschichte der Metaphysik
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2018
ISBN: 978-3-7873-3593-0
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von den Vorsokratikern bis Sartre. Eine Einführung
E-Book, Deutsch, 554 Seiten
ISBN: 978-3-7873-3593-0
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unter den philosophischen Disziplinen ist die Metaphysik die älteste. Ihre Bedeutung war in vormoderner Zeit so groß, dass sie nachgerade
mit der Philosophie überhaupt gleichgesetzt wurde. Nur wer Metaphysik betrieb, konnte nach älterem Verständnis den Anspruch erheben, als Philosoph ernst genommen zu werden. In zweitausend Jahren Philosophiegeschichte haben sich zahlreiche große philosophische Systeme herausgebildet, die wir als 'metaphysisch' klassifizieren würden.
Ob der Ursprung des Terminus 'Metaphysik' tatsächlich auf den Zufall zurückgeht, dass Andronikos von Rhodos (1. Jh. v. Chr.) beim Redigieren der Werke des Aristoteles vierzehn Bücher unter dem Titel meta ta physika (hinter den Büchern über die Physik) zusammenfasste, oder ob dies in den Bereich der Legende gehört – die beiden Grundpfeiler metaphysischen Denkens, Ontologie und natürliche Theologie, finden sich bereits in der aristotelischen Schrift gleichen Namens. Gleichzeitig
ist die Geschichte der Metaphysik auch eine der Infragestellung ihrer Gewissheiten: bereits in der Antike durch den Skeptizismus, im 18. Jahrhundert durch den Bruch, der eine dogmatische Metaphysik fortan unmöglich machte, sowie durch die sich anschließende erkenntnistheoretische Wende. In einem materialreichen, gleichwohl von leichter Hand geschriebenen Durchgang durch die Philosophiegeschichte von den milesischen Naturphilosophen bis Heidegger und Sartre stellt der Autor in drei großen
Kapiteln die klassische Metaphysik dar, wie sie im vormodernen, im mittelalterlichen Denken und in der Moderne seit der Frühen Neuzeit und dann seit der Aufklärung, insbesondere seit Kant, betrieben wurde. Eine Besonderheit des auch als Nachschlagewerk zu gebrauchenden Bandes ist sein ausführliches Glossar metaphysischer Grundbegriffe
mit Erläuterungen und Literaturhinweisen.
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Aristoteles
a) Die Metaphysik
Im Gegensatz zu Platon verfuhr sein Schüler Aristoteles weitgehend erfahrungsorientiert. Berühmt ist sein tode ti, das „Dies da“, womit das konkrete Einzelding gemeint war. Von ihm ging Aristoteles aus, nicht von einem nur behaupteten Ideenhimmel. Wir hatten schon gleich zu Beginn vermerkt, dass die erste Abhandlung, die den später zum philosophischen Gattungsnamen verallgemeinerten Titel Metaphysik trägt, die des Aristoteles ist. Er selbst hat die Bezeichnung aber gar nicht gebraucht, sondern sie wurde erst spät, im 1. Jahrhundert v. Chr., von Andronikos aus Rhodos eingeführt. Dieser war der zehnte Leiter der von Aristoteles begründeten peripatetischen Schule. Benannt war diese Einrichtung nach dem Ort, an dem Aristoteles seinen Unterricht abhielt: Es war eine Wandelhalle (perípatos), in der man sich philosophierend „erging“. Aristoteles (384-322), aus dem thrakischen Stageira stammend (daher wurde er früher oft auch „der Stagirite“ genannt), war der Sohn des makedonischen Leibarztes Nikomachos, der selbst einer Familie von Ärzten entstammte. Mit dieser Familientradition hat man es, wohl nicht zu Unrecht, erklärt, dass Aristoteles zeitlebens naturwissenschaftliche Studien trieb und nur selten die Nähe zum empirisch Wissbaren verließ. Früh verwaist, kam er als Jüngling nach Athen und wurde bald Schüler Platons, der ihn „den Leser“ nannte. Er blieb fast zwanzig Jahre, bis zum Tod des Meisters, in diesem Kreis, der im Hain des Akademos (daher: „Akademie“) philosophische Gespräche führte. Dann aber folgte er der Einladung des Königs Philipp von Makedonien, welcher ihm die Erziehung seines Sohnes Alexander auftrug. Bevor dieser seinen großen Feldzug nach Asien antrat, kehrte Aristoteles wieder zurück nach Athen und gründete dort im Süden vor den Stadtmauern (zusammen mit Theophrast) seine Schule im Lykeion (danach der spätere Name Lyceum), einem Hain, der dem Apollon Lykeios geweiht war. Hier befand sich die genannte Wandelhalle. Wie Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.) berichtet (Noctes Atticae, 9. Buch),77 habe Aristoteles morgens „akroamatische“ Vorträge gehalten, d. h. solche, die zum Hören bestimmt waren und die, da sie ein Vorwissen erforderten, als „esoterische“ bezeichnet werden. Nachmittags dagegen trug er in etwas populärerer Form für ein breites Publikum seine „exoterischen“ Texte vor. Nur zwölf Jahre blieb Aristoteles in Athen. Dann zog er es vor, da er der Gottlosigkeit bezichtigt wurde (der wahre Grund war aber wohl seine Nähe zu den Makedoniern), die Stadt zu verlassen. In Anspielung auf das Schicksal des Sokrates sagte er, er wolle den Athenern nicht ein zweites Mal die Gelegenheit geben, sich an der Philosophie zu versündigen.78 Bald danach starb er im Alter von 62 Jahren an einem Magenleiden. Zu den akroamatischen Schriften gehört auch die Metaphysik. Die Arbeit daran zog sich über viele Jahre hin. Die Anfänge werden in den Jahren 348–345 vermutet, zum Abschluss soll Aristoteles erst in der Zeit von 335–322 gekommen sein. Was unter diesem Titel vor uns liegt, ist ein Werk späterer Redaktion, die zahlreiche Textbruchstücke einigermaßen zu einem kohärenten Ganzen vereinheitlichen wollte. Absolut widerspruchsfrei konnte das nicht gelingen, und so erklären sich die vielen Brüche, Wiederholungen, Querverweise usw. Bis heute beschäftigt die Forschung die Entstehungsgeschichte des Werks, zu der früh Werner Jaeger Bahnbrechendes beigetragen hat, so dass seine Untersuchung geradezu als klassisch gelten kann.79 Er hat z.B. die vielen voneinander abweichenden „Dubletten“ in der Metaphysik sichtbar gemacht: „Sie müssen ihren Ursprung der Vorlesungstätigkeit des Philosophen verdanken. Bei mehrfacher Lesung eines Kollegs wurden bald kleinere Partien, bald größere Stücke umgewandelt und verändert vorgetragen.“80 Auf all diese komplizierten philologischen Probleme können und brauchen wir hier nicht einzugehen. Stattdessen versuchen wir im Folgenden, die Grundgedanken der aristotelischen Metaphysik herauszuarbeiten. Wir hatten erwähnt, dass Aristoteles selbst den (primär aus bibliothekarischer Anordnung entstandenen) Begriff der Metaphysik gar nicht kannte. Sein später damit bezeichnetes Werk hätte nach seinem Verständnis eher den Titel prote philosophia (Erste Philosophie) erhalten. Denn sie ist eine Wissenschaft, die allen anderen gedanklich-systematisch noch vorgelagert ist, weil sie in ihren Fragestellungen weit über die anderen theoretischen Disziplinen wie Himmelskunde, Mathematik und Physik hinausgeht. Als Fundamentalwissenschaft stellt sie hauptsächlich die Frage nach den Gründen (aitíai), nach dem Warum (dihóti), und bescheidet sich nicht – wie die Erfahrungswissenschaften – mit dem bloßen Dass (to hóti). Dieses weiterreichende Fragen eignet als Spezifikum allein dem Menschen, in dessen Natur der „Trieb nach Erkenntnis“ liege: „Allgemein in der menschlichen Natur liegt der Trieb nach Erkenntnis. Das zeigt sich schon in der Freude an der sinnlichen Wahrnehmung, die auch abgesehen von Nutzen und Bedürfnis um ihrer selbst willen geschätzt wird, und vor allem der Gesichtswahrnehmung. Denn nicht bloß zu praktischem Zweck, sondern auch ohne jede derartige Rücksicht legt man auf die Gesichtswahrnehmung im Ganzen und Großen einen höheren Wert als auf jede andere, und zwar deshalb, weil gerade sie vom Gegenstande die deutlichste Erkenntnis vermittelt und eine Fülle von unterscheidenden Beschaffenheiten an ihm erschließt. Wahrnehmungsvermögen haben die lebenden Wesen von Natur; bei einigen von ihnen aber läßt das Wahrgenommene keine dauernde Erinnerung zurück, dagegen wohl bei anderen. Die letzteren sind deshalb die intelligenteren und zum Lernen befähigteren im Vergleich mit denen, die das Vermögen der Erinnerung nicht besitzen. Geschickt, aber ohne das Vermögen zu lernen, sind diejenigen, die der Gehörswahrnehmung ermangeln, wie die Bienen und etwaige andere Gattungen von Wesen, die diese Eigenschaft mit ihnen teilen. Diejenigen dagegen, bei denen zu der Erinnerung auch noch diese Art von Wahrnehmungen hinzutritt, besitzen damit auch die Fähigkeit zu lernen. Die anderen Arten der lebenden Wesen nun leben in Vorstellungen und Erinnerungsbildern und bilden Erfahrungen nur in geringerem Maße; dem Menschen dagegen eignet bewußte Kunst und Überlegung. Beim Menschen bildet sich auf Grund der Erinnerung die Erfahrung, indem die wiederholte und erinnerte Wahrnehmung eines und desselben Gegenstandes die Bedeutung einer einheitlichen Erfahrung erlangt. Die Erfahrung hat an sich schon eine gewisse Verwandtschaft mit Wissenschaft und bewußter Kunst, und vermittelst der Erfahrung bildet sich denn auch beim Menschen Wissenschaft und Kunst: denn, wie Polus81 ganz richtig bemerkt, Erfahrung hat die Kunst hervorgebracht, Mangel an Erfahrung liefert dem Zufalle aus. Bewußte Kunst entsteht, wo auf Grund wiederholter erfahrungsmäßiger Eindrücke sich eine Auffassung gleichartiger Fälle unter dem Gesichtspunkte der Allgemeinheit bildet. Indem wir feststellen, daß dem Kallias, als er an dieser Krankheit litt, dieses bestimmte Mittel zuträglich war, und dem Sokrates auch, und ebenso mehreren anderen einzelnen, machen wir eine Erfahrung. Der Satz aber, daß allen unter diese Bestimmung Fallenden und begrifflich zu einer Gattung Gehörigen, die an dieser bestimmten Krankheit, etwa an Verschleimung oder an Gallensucht oder an hitzigem Fieber litten, eben dasselbe zuträglich gewesen ist, – dieser Satz bildet dann eine Theorie.“ (Metaphysik I [A], 1; 980a 5)82 Schon diese Eingangssätze der Metaphysik zeigen deutlich, wie systematisch und geschickt begriffszergliedernd Aristoteles vorgeht. Manche Forscher haben in dieser methodischen Praxis einen Anschluss an das Verfahren des Sokrates gesehen, der ja das Prinzip der dihairesis (d?aí?es??), der unterscheidenden Zergliederung, zugrunde legte.83 Von diesem war anfangs auch Platon ausgegangen – schließlich hat er es ja in seinen frühen Dialogen offenkundig affirmativ an Sokrates demonstriert –, aber spätestens seit der mittleren Periode ging Platon mehr zu einer Weise des intuitiven Erkennens über. Charakteristisch für die „Erste Philosophie“ ist nach Aristoteles, dass sie sich nicht – wie die einzelnen Wissenschaften oder Künste – mit einem Teil (oder Teilen) des Seins befasst (méros ti ontos), sondern mit dem Seienden als solchem. Während etwa die Mathematik das Seiende untersucht, insofern es Zahl ist, oder die Physik, sofern es Materie und Bewegung ist, geht die Erste Philosophie auf die Ergründung dessen, was dahinter liegt, nämlich auf die Erfassung des Wesens und der Eigenschaften des Seins. In der fortschreitenden Abstraktion gelangt Aristoteles schließlich zum obersten Seinsprinzip, das für ihn die Gottheit ist (vgl. Metaphysik VI, I, 19; XI, 7, 15). Bemerkenswert ist diese Erschließung der deutlich monotheistisch begriffenen Gottheit, die er gleichsam als Wesensbestimmung aus einer vergleichenden Analyse der mythischen Überlieferungen herausdestilliert: „Von den Vorfahren aus den ältesten Zeiten ist in mythischer Form die Überlieferung auf die Nachwelt gekommen, daß diese Wesenheiten Götter seien und die Gottheit die ganze Natur durchwalte. Das ist dann weiter in der Weise des Mythus ausgesponnen worden, um im Interesse der gesetzlichen Ordnung und des öffentlichen Wohles Eindruck auf den großen Haufen zu...