E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Schoen / Doubrawa Die Nähe zum Tod macht großzügig
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7481-2764-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Therapeut als Helfer im Hospi
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-7481-2764-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Psychologe David hadert mit dem Altwerden. Er entscheidet sich, ehrenamtlich in einem Zen-Hospiz zu arbeiten, um sich mit Vergänglichkeit und Tod auseinander zu setzen. David erfährt, auf welch unterschiedliche Weise Menschen dem Tod nahe sind. Und er lernt, dass die Nähe zum Tod großzügig macht: die Sterbenden, die Begleiter und nicht zuletzt auch ihn selbst. »Loszulassen und mit den Verlorenen der Vergänglichkeit anzuhängen - das ist der Weg, der so schwer zu gehen ist, insbesondere in einer Kultur, die den Verlust nicht mag, sondern nur den Gewinn und die Sicherung der Bestände.« FAZ, in einer Rezension der Erstausgabe des Buches von Stephen Schoen am 28. 07. 2006.
Stephen Schoen, 1924-2018, war Psychiater und Gestalttherapeut in freier Praxis in San Rafael/Kalifornien. Zu seinen Lehrern gehörten Fritz Perls, Harry Stack Sullivan, Milton Erickson und Gregory Bateson, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Er lehrte viele Jahre lang Gestalttherapie in den USA und in (Ost-) Europa. Zahlreiche Fachartikel zu Theorie und Praxis der Gestalttherapie. In der gikPRESS erschien »Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten. Gestalttherapie als spirituelle Suche«. Eine Neuauflage seines Romans »Greenacres« ist in Vorbereitung.
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2. Diese unbeschreibliche Zerstreutheit
Und doch – ist es nicht eigentlich gerade der richtige Ort für mich? Auch ich sterbe doch. Nicht so schnell wie die Patienten des Hospizes zwar, und nicht an einer bestimmten Krankheit. Aber als ich vor sechs Wochen mitten in der Nacht aufwachte – es war kurz vor meinem sechsundsiebzigsten Geburtstag –, meine Frau Trudi mit einem Gefühl der Vorfreude küsste und dann dachte, dass nichts so wertvoll ist, dass ich dafür zu sterben bereit wäre, stieg der Nebel der Angst wie der in mir hoch – wie schon seit Monaten. Ich stand auf und ging zu meinem Schreibtisch. Ich wollte die Spur dieser Angst aufs Sorgfältigste verfolgen, sie sezieren und zerlegen so weit mein analytischer Verstand das vermochte. Was war es, das mich so sehr zu ängstigen begann? Weder in meiner Ehe noch in meinem Beruf als Psychotherapeut gab es Hinweise auf irgendeine Art von Verfall. Es waren auch nicht die normalen Anzeichen von Alter oder Krankheit, wie etwa dass ich Augentropfen gegen den grünen Star nahm oder ein Hörgerät brauchte. Ja nicht einmal das Nachlassen des sexuellen Antriebs, denn immerhin gab es ja solche modernen und äußerst effektiven Hilfsmittel wie Hormonspritzen oder diese Pillen, die sich auf Niagara reimen und dafür sorgen, dass man nicht mitten im Akt schlappmacht. Nein, es war etwas anderes, das vor einigen Wochen begonnen hatte, und anfänglich durchaus amüsant gewesen war. In meinem Adressbuch las ich einen Namen, den ich nicht wieder erkannte, und mitten in der Nacht musste ich an einen entfernten Bekannten denken, dessen Name mir nicht mehr ein fiel. Ich war mir sicher, dass er irgendwo in meinem Adressbuch stehen musste, aber – lebte er überhaupt noch? Könnte ich ihn erreichen, wenn ich wollte? Das führte mich zu einer allgemeineren, eher moralischen Frage: Sollte man überhaupt Wert darauf legen, Freundschaften aufrechtzuerhalten? Wie hieß noch mal der französische Dramatiker des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der so hervorragend über moralische Skrupel geschrieben hatte? Solcherart streiften meine Gedanken umher, bis plötzlich in mir die Panik ausbrach. Wie eine Marionette – von fremder Hand geführt – sprang ich aus meinem Bett und stürmte in meine Bibliothek, um unter den französischen Dramen nach dem Buch dieses Dichters zu suchen – nur um seinen Namen wieder zu finden! Habe ich das Buch überhaupt? Sicher habe ich es. Ich hatte es doch. Aber es war nicht da. Konnte es woanders stehen? Nein. Und was, wenn mir der Name nicht mehr einfällt und ich das Buch nicht finde? Das ist noch kein Weltuntergang. Nicht? Aber irgendein Untergang ist es, auch wenn ich nicht weiß, was für einer. Mit einer einzigen kräftigen Bewegung fegte ich sämtliche Dramen aus dem Regal. Und da, hinter ihnen, flach auf dem Regalbrett liegend, sah ich das Buch, das ich gesucht hatte. Von Gabriel Marcel. Ich setzte mich hin – und zitterte vor Erleichterung. Ich konnte mich an den Namen erinnern, zumindest wenn ich ihn sah! Aber ist das wirklich so wichtig – abgesehen von einem beiläufigen Test der eigenen Bedeutung? Ja. Denn meine Erinnerung steht auf dem Spiel – und mit ihr alle meine guten und bereichernden Erfahrungen, mein Urteilsvermögen, meine Erkenntnis über die Welt, die feinen Unterscheidungen, der Reichtum des Herzens, mein ganzer Sinn für die Kontinuität und den Wert meines eigenen Daseins. Das alles zu verlieren hieße, nichts mehr zu haben, was ich bewahrenswert fände. Moment mal – immer langsam! Hat denn das Vergessen nicht auch seine guten Seiten? Natürlich nicht bei einem erdrutschartigen Verfall des Bewusstseins, wie bei der Alzheimer-Krankheit. Aber wenn man von den banalen Einzelheiten einmal absieht, spricht man in solchen Momenten ja auch wohlwollend von der Zerstreutheit des Alters. Könnte ich es nicht einfach so hinnehmen, als natürliche und keineswegs unwürdige Begleiterscheinung des Älterwerdens, dass ich mich beispielsweise letzte Woche nicht mehr ganz spontan an den Spruch auf dem T-Shirt meines Sohnes erinnern konnte, sondern nur ganz allmählich wieder darauf kam: »Vielleicht bin ich nicht perfekt, aber manches an mir ist hervorragend«? Ich fing an, mich zu entspannen. Diese Ausdünnungen, Auslassungen und Abweichungen, die zu einer wortlosen Tiefe führen – wie nennt man den Zustand jenseits aller Worte? Ich konnte mich nicht erinnern. Plötzlich – wieder Panik. Ich griff zu meinem Wörterbuch, dessen 2600 Seiten nur spöttisch mit den Achseln zu zucken schienen. Nun gut; habe ich nicht zumindest irgendeinen Anhaltspunkt? Vielleicht das Präfix. »Meta…?« Ich blätterte mich durch das immense Buch. Drei unbrauchbare Spalten: »Metazestoden«, »Metabolie«, ja so gar »Metasprache.« Na gut! Dann versuche ich es mit »Epi…«. Mein Gott, welcher Teufel reitet mich hier! Es ist sicher nicht »Epi….« Ich kann jetzt nicht klar denken. Ich gehe lieber wieder ins Bett, vergesse die ganze Sache und frage morgen Frances; die wird es wissen. Zwanzig Sekunden liege ich im Bett. »Peri…«? – Nein, nein! Aber was, wenn mir ein Synonym ein fiele? Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf, laufe zurück und nehme das Wörterbuch. »Unsäglich.« Gott, nein, das ist es nicht. »Unsagbar.« Nein. Aber das bringt mich zu »unaussprechlich.« Warum muss ich das hier tun? Wenn ich das Wort fände, würde ich zur Ruhe kommen, oder zumindest atmen – wie ein Ertrinkender, der an die Oberfläche kommt und nach Luft schnappt. »Unaussprechlich: unsäglich, unsagbar, unbeschreiblich.« »Ja, ja natürlich, mein Gott!«, rufe ich laut und zeige mit dem Finger auf dieses Wort, erleichtert, begeistert, als hätte ich einen Schatz entdeckt, ein Orgasmus, das Geschenk des Lebens selbst. Ich gehe langsam zurück an meinen Schreibtisch, schreibe das Wort in großen Lettern auf ein Stück Papier und gehe zurück ins Bett. Es ist viertel vor drei. Ich möchte Trudi wecken, ihr sagen, wie erleichtert ich bin, aber sie schläft. Und eigentlich ist es ja auch nur ein Wort. Dafür wecke ich sie nicht auf. Schnell schlafe ich wieder ein. Als ich am nächsten Morgen den Frühstückstisch abräume, hat sich die nächtliche Hysterie gelegt. »Was hat dich mitten in der Nacht so aufgeregt?«, fragt Trudi. »Hast du mich gehört? Ich habe nach einem Wort gesucht, das ich vergessen hatte. Ganz plötzlich!« »Wie beunruhigend! Ich bin sicher, wenn du dich entspannt hättest, wäre es dir heute Morgen beim Aufstehen wieder eingefallen.« Ich will ihr nicht sagen, dass ich mich an meine Selbstkontrolle klammere, voll Furcht vor jeder Art von Verzögerung durch die Details meiner Erinnerung. Das heißt, eigentlich versuche ich bei jedem noch so kleinen Hinweis auf den Verlust meines Gedächtnisses augenblicklich zu beweisen, dass es keinen Verlust gibt. Und dieser Verlust erscheint sehr dunkel, als sei der Tod eingetreten – und zum ersten Mal – um zu bleiben. Ja! Der Verlust, den ich nun fürchte, ist der Tod. Meine Eltern starben vor Jahren, über achtzigjährig, aber das war ein erwarteter, in gewisser Weise einfacher Abschied gewesen. Und noch Jahre danach, wenn Freunde starben – mit fünfzig, sechzig, vielleicht fünfundsechzig –, erschien mir ihr Tod immer noch natürlich. Und wenn meine Patienten mich fragten, wie ich mich fühle, habe ich oft gesagt: »Sehr gut. Heute ist ein guter Tag zum Sterben.« Was habe ich seitdem vergessen? Auf der einen Ecke unseres Frühstückstisches stand mitten unter dem anderen Geschirr ein kugelförmiger Behälter aus waldgrünem Kristall, außen mit Diamantschliff, und innen ganz weich; irgend jemand hatte ihn als Geschenk mitgebracht, und wir hatten ihn mehrere Tage nicht weiter beachtet. Man hebt den gewölbten Deckel mithilfe einer speziell dafür vorgesehenen Öffnung an seinem oberen Ende, und dann kommt ein Docht zum Vorschein, der auf einem großen, flachen Wachsbett steht. Ich nahm den Deckel ab und sah eine kleine tote Spinne in der Nähe des Dochts; ihre Beine waren angewinkelt und wurden von einem kleinen Stück Netz bedeckt, das sie als letztes Symbol eines Zuhauses gesponnen hatte. Sie war durch die obere Öffnung der Kuppel hineingefallen und wusste nicht, wie sie wieder hinauskommen sollte. Es wären nur ein paar wenige, sichere Schritte gewesen, nichts, das sie nicht hätte schaffen können. Aber sie konnte es nicht. Ich setzte mich, zitternd – und froh, dass Trudi hinausgegangen war, denn ich wollte nicht, dass sie mich so sah, in meiner verrückten Nervosität, zitternd den nächsten Moment erwartend, in dem mein Gedächtnis mich verlassen könnte. Welche Schritte – notwendig und beherzt – würde ich vergessen? – Wie nennt man zwei stark betonte Silben am Ende einer Verszeile? Nicht Trochäus. Spielt das eine Rolle? Nein. Ja. Auch nicht Daktylus. Was ist das? Diesmal kam mir nach fünf endlos langen...