E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Schroeder Höhepunkt 90
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-347-97044-1
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Zumutung fängt gerade erst an
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-347-97044-1
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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EINS Auf leisen Sohlen schleppen wir uns im Moment, mit immer geringer werdender Begeisterung, durch die hastig vorbeieilende Zeit. Allerdings sind wir noch auf Haltung bedacht. Nur gelingt uns das anscheinend weder am Morgen, was man ja vielleicht verstehen könnte, noch im Laufe des Tages, was schon bedenklicher erscheint und schon gar nicht am Abend. Nun gut, da sind wir meist zu müde. Einst haben wir uns trotzig gegen, uns nie sehr wohlwollende, Hochfluten gestemmt. Davon ist offenbar bloß noch ein kümmerliches Aufbäumen verblieben. Manch einer hält das aber eher für ein Wegducken unsererseits. Der Stuhl wippt. Es ist ein gutes Gefühl. Mir tut mein Hintern nicht so weh wie auf anderen Sitzgelegenheiten. Doch vermutlich habe ich mich schon lange nicht mehr so übertrieben gekränkt und verletzt gefühlt wie heute. Woran mag das wohl liegen? Leider führen immer mehr Erkundigungen über diesen Zustand nur zu recht mickrigen Resultaten. Oder hab ich die Antworten auf meine Fragen bereits falsch gestellt? Wenn ja, liegt der Ursprung dieses Grundgedankens gewiss schon etliche Momente zurück. Und so wird es wohl bei dem weitherzigen Versuch einer Bestandsaufnahme bleiben. Sicher, man kennt das, diese ewig nervigen Anfänge mancher Filme. Irgendetwas Wichtiges passiert – ein Mord zum Beispiel. Oder ein Mann hat sein Gedächtnis verloren oder sein Vermögen oder beides. Eine Frau hat ihren Einkauf vergessen und sieht ihren Mann mit einer fremden Frau hemmungslos herumknutschen oder sie erwischt die beiden im Bett – oder irgend so etwas Ähnliches. Und dann, kommt eine Einblendung: ›24 Stunden zuvor‹ oder ›eine Wochen vorher‹ oder ›Berlin 1945‹ oder ›am Montag vor zwei Wochen‹ oder … keine Ahnung und dann wird erzählt, wie die ganze Geschichte begonnen hat. Furchtbar. Oder? Könnte es etwa so gewesen sein? ›48 Stunden vorher.‹ Ich warte hinter dem Eingang auf Anne. Sie hat versprochen mich abzuholen. Aber nun stehen hier schon etwa acht Leute, die ich alle nicht kenne. Da kommt ein ziemlich großer Wagen um die Ecke. Es gibt ein großes Begrüßungsgeschrei. Anne steigt aus, geht um den Wagen und stellt sich vor die Beifahrertür. Die anderen fangen schon mal an, sich in das Auto zu drängen. Natürlich auch nach vorne. Aber Anne lässt da keinen rein. Mit dem Zeigefinger lockt sie mich an. »Du!« sagt sie und öffnet die Tür. Sie küsst mich auf den Mund. Hinten ist Gejohle. Worauf ich mich hier gerade einlasse, weiß ich nicht. Ob ich jemals selbst handle oder immer bloß tue, was man oder frau von mir will? Ist das, das Wesen der Freiheit? In Wirklichkeit hab ich Anne seit fünf Jahren nicht mehr gesehen – folglich muss es sich hier um eine Träumerei handeln. Oder doch eher so? ›24 Stunden später.‹ Eigentlich dachte ich, es wäre einfacher loszuquatschen … geht aber wohl doch nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Liegt es daran, dass … Ach ja, die Männer wollen immer nur das Eine. Aber was ist das eigentlich? Das Eine? Was sollte das bitteschön sein? Stellst Du dich jetzt nicht künstlich dumm, fragt Katharina. Und was ist daran schlimm? Eigentlich hab ich gedacht, Du willst… Das ist wieder typisch. Bei unseren letzten vier Unternehmungen war es so, dass Du entschieden hast, was wir machen. Es wäre schön, wenn Du mich … Nee, so geht das nicht. Ausreden. Einfach mal ausreden lassen. Aber, geht ja wohl bei Dir nicht. Wer nun hier das Sagen hat? Halt doch einfach mal die Klappe. Eigentlich fällt es mir schwer, nach einem solchen Tagesauftakt ruhig zu bleiben. Ich werde mir aber Mühe geben. Sicher nicht! Mann, Mann, Mann. So kann Frau sich auch verabschieden: Tür, knall, bumm. Danke. Denkst Du, das tut mich beeindrucken? Ach, vergiss es einfach. Fabian – kommst Du endlich mal! Alles, wirklich alles, bleibt an mir hängen. Das fing schon in meiner Kindheit an. Meine kleine Schwester Sigrid war schon immer eine nicht zu unterschätzende Belastung für mich. Das hat wohl keiner wahrgenommen. Gestreichelt wurde immer nur ihr blödes blondes Haar. Allerdings reicht das nicht. Wofür? Ich mach jetzt gleich ganz laut Musik an. Frau Lohmann, das ist nun wirklich nicht nötig. Keine Ahnung. Aber wenn Du mich nicht in die Planung einbeziehst, fühle ich mich übergangen und überrumpelt. Ob diese Episode – wann wird das gewesen sein – sich wirklich so zugetragen hat? Wahrscheinlich war es viel später. Viel früher? Das ›Kind‹ wird im April 16! Wir hatten uns das geteilt. Fabian brachte ich fort. Mein Mann Jürgen war am Nachmittag dran. Trotzdem, durchatmen. Ach Fabian, komm doch endlich. Eigentlich muss die Mutter da sonst nicht weinen. Wozu auch. Mach ich ja auch nicht. Wir müssen looos! Trödelkind geschnappt und auf zur Straßenbahn. Warum wird die heute Tram genannt? Es knallen ja bei uns nicht immer nur die Türen. Vorgestern waren es die Sektkorken und die ›Blitz- Knaller‹. Besser und lauter sind die ›Harzer-Knaller‹. Fabian mag die Knallerei nicht. Hat er nie gemocht. Früher vielleicht mal eine Wunderkerze oder zugucken, wenn ich eine Rakete starten lasse. Dann aber aus sicherem Abstand. Das neue Jahr hat gerade begonnen. Jetzt sind davon immerhin schon wieder zwei Tage um. Dienstag – Spätdienst. In der Zwischenzeit wurde aufgeräumt. Hier bei uns, Zuhause und am Brandenburger Tor. Da gab es einen Toten und fast 300 Verletzte. Eine 15 Meter hohe Videowand ist eingestürzt. Über 500 Leute waren auf dem Tor. Hochgeklettert. Das hat sich erst nach Mitternacht abgespielt. Am nächsten Tag war das in den Nachrichten und heute in der Zeitung. Wir waren natürlich brav daheim und es sind hier auch keine Schäden zu vermelden. Das unser Sohn noch mit dabei war, ist bald nicht mehr so selbstverständlich. Der hat sich am Nachmittag mit Freunden getroffen, aber um 12 hat er mit uns angestoßen. Eier und Spinat stehen auf meinem Einkaufszettel. ›Feinfrost Spinat‹! Hat Katharina extra gesagt. »Kein Spinat im Glas! Der schmeckt immer so säuerlich und knirscht manchmal auch zwischen den Zähnen. Jürgen, bring bitte ›Feinfrost Spinat‹ mit! Der ist in so’ner grünen Verpackung mit ‘nem Schneemann drauf.« »Und wenn‘s keinen gibt?« Das kennen wir ja zur Genüge. »Leergut kannst Du bitte auch gleich wegbringen.« Im vergangenen Jahr haben die in unserer Kaufhalle eingeführt, dass man nach der Auszahlung des Pfandbetrages die Flaschen selbst in die Kästen sortieren muss. Woanders gab‘s das wohl schon lange. Bei uns hat da immer noch ein Kaufhallenmitarbeiter gestanden und das gemacht. Nun ja. Durchatmen. Nicht aufregen. Warum auch. Bis ich zur Arbeit muss, ist noch Zeit. Ich schaff das. Erst mal trink ich einen Magenbitter. Und DANN. Dann suche ich die Flaschen zusammen. Über die Feiertage ist einiges zusammengekommen. Das wird gerade in die zwei Beutel passen. Oder auch nicht. Doch, doch, es geht. So langsam muss man aber doch mal nachdenken wie es weiter gehen soll. Es wird schon. Klig klong. Unsere Klingel hat eher einen sehr schnarrenden Ton. Nichts mit: Klig, Klong. Eher: Qureeeeeeck. Oder so ähnlich. Ich könnte es vormachen. Wenn es gewünscht wird. »Herr Jochen Lohmann? Guten Tag ich bin vom Deutschen Roten Kreuz.« »Nee, Jürgen Lohmann ist mein Name.« Wie blöd. Das müssen wir noch lernen. Ungefragt solche Antworten geben. Wer macht denn so etwas? Eigentlich wollte ich gerade Flaschen wegbringen und der Typ nervt jetzt. Deshalb übernehme ich sofort die Initiative. »Haben Sie schon mal was von einem Mann mit dem Namen Wassili Arkadjewitsch Rachmaninow gehört?« frage ich mein Gegenüber. Der Typ sieht mich etwas verwirrt an. Wie es scheint hab ich ihn aus seinem Konzept gebracht. Also fahre ich fort: »Das war der Vater von Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow. Wie? Nie gehört? Russischer Pianist und Komponist. Nicht Kommunist und auch nicht sowjetisch! Aber Hallo! Im letzten Jahr ist bei ›ETERNA‹ gerade die Platte mit seinem Zweiten Klavierkonzert rausgekommen.« Das Mühlrad in seinem Kopf scheint sich chaotisch zu drehen. Sollte ich ihm jetzt mal die Chance geben zu antworten? Lieber nicht. »Der Vater, war ein gutmütiger und geselliger Phantast. Seine Frau hatte ein Vermögen in Form von fünf Landgütern in die Ehe eingebracht. Wassili Arkadjewitsch fehlte jedoch jede wirtschaftliche Befähigung für eine Bewirtschaftung und so führte er die Betriebe innerhalb von zehn Jahren in den...