E-Book, Deutsch, 228 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
Schwedler Der Business-Spagat
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-648-17382-4
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie wir das Kerngeschäft bewahren und Wandel vorantreiben
E-Book, Deutsch, 228 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
ISBN: 978-3-648-17382-4
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Schwedler ist führender Experte & Speaker für Ambidextrie und beidhändige Transformation. Neben seiner freiberuflichen Tätigkeit ist er als Stratege in einem Dax-Konzerns tätig und gestaltet dort die Arbeitswelt von morgen. Von 2004 bis 2012 war er auf beruflicher Weltreise, lebte und arbeitete in Sydney, London und Santiago de Chile.
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1.2 Legacy meets Fantasy: Die richtige Balance wird zur Überlebensfrage
Kannst Du Dir einen Sportler vorstellen, der Eishockey-Weltmeister und gleichzeitig Olympiasieger im Eiskunstlauf wird? Oder eine Gewichtheberin, die Ballett tanzt? Ziemlich abwegige Vorstellung. Spitzensport ist heute so anspruchsvoll und spezialisiert, dass nur eine absolute Fokussierung Höchstleistung ermöglicht.
Umso erstaunlicher, dass wir eine derartige Bandbreite und Vielschichtigkeit in unserer Geschäftswelt voraussetzen. Denn Führungskräfte und Manager müssen heute beides meistern: Stabilität und Wandel. Sie sollen ihr Kerngeschäft effizient managen und nebenher radikal innovativ sein. Dieser Spagat des Multitaskings wird durch die jeweiligen Extreme deutlich:
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Tagesgeschäft versus Zukunftsgestaltung,
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Tradition versus Transformation,
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Verlässlichkeit versus Überraschung,
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Stammgeschäft versus Disruption.
Diese gegensätzlichen Ausrichtungen erfordern ebenso widersprüchliche Kompetenzen, Mindsets und Arbeitsweisen:
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Null-Fehler-Toleranz versus Risikofreude,
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Standardisierung versus Individualität,
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Operative Exzellenz versus experimentelle Iteration,
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Wasserfallmodell versus agile Methoden.
In diesem Spannungsfeld trifft Vergangenheit auf Zukunft und Tradition auf Vision: Legacy meets Fantasy.
Die linke Seite dieser Aufzählungen bezieht sich auf das Tagesgeschäft, also auf das Hier und Heute, ist aber vergangenheitsorientiert: Die Arbeitsformen und Organisationsstrukturen sind die Summe aller in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen. Die Arbeitskultur ist das Ergebnis eines gewachsenen Prozesses. Für die Effizienzmaschinerie des Kerngeschäfts ist diese Legacy in erster Linie ein Erfolgsmodell: Tradition schafft Markenwert und Kundenvertrauen, Routine sorgt für Effizienz, Expertise für Qualität.
Die rechte Seite der Aufzählung zahlt auf die Zukunft ein, auf das Geschäftsmodell und Produktportfolio von (über-)morgen. Hinsichtlich Innovationskraft, Dynamik und Anpassungsfähigkeit werden die soeben skizzierten Legacy-Erfolgskriterien zum Ballast: Hier bremsen gewachsene Strukturen und alte Denkmuster. Agile Innovationsteams müssen eigenständige und neuartige Arbeitsformen finden und sich von organisatorischen Altlasten emanzipieren. Was in dem einen Kontext gut und richtig ist, erweist sich in dem anderen als Belastung.
Dieses Spannungsfeld betrifft uns alle. Um dies ins Bewusstsein zu rufen, frage ich auf Führungskräfte-Workshops zwei simple Fragen zum Einstieg:
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Ist Deine Organisation auf ein funktionierendes und profitables Tagesgeschäft angewiesen?
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Soll die Organisation auch in Zukunft existieren (oder gar erfolgreich sein)?
In all den Jahren hatte ich nur eine einzige Person, die eine Frage verneinen konnte. Das war der Eigentümer einer kleinen Firma, der sein Business ohne finanzielle Abhängigkeit als Selbstverwirklichung betrieb. Von solchen Einzelfällen abgesehen, befindet sich jede Organisation – ob Start-up, Mittelständler, Konzern, Behörde oder Non-Profit-Institution – in der gleichen Zerreißprobe. Wir bewegen uns permanent in zwei Parallelwelten.
Die zwei Welten
Die erste Welt dreht sich ausschließlich um das bestehende Geschäftsmodell. Wie ein kompliziertes Getriebe aus unzähligen Zahnrädern verrichtet sie gut geölt und streng kontrolliert den täglichen Dienst. Es ist eine vertraute und lang erprobte Umgebung, schließlich sind Arbeitskultur, Organisationsform und die Führungsprinzipien über hundert Jahre alt: Das erste in der Produktion eingesetzte Fließband wurde von Henry Ford eingeführt – das war 1914. Bis heute arbeiten wir weitestgehend nach den gleichen Denkmustern: Arbeitsteilung, Spezialisierung, feste Rollenbeschreibungen, die Trennung von ausführenden und von denkenden Management- und Führungsaufgaben.
Frederick Taylor schuf ein wahres Meisterwerk der Effizienzmaxime, das bis heute die Grundfeste des Managements bildet. Hier gelten harte Fakten. Quartalszahlen sind der Taktgeber und KPIs die Steuerungslogik. Nur was messbar ist, ist sinnvoll. Damit diese Maschinerie reibungslos schnurrt, sind Routine, Null-Fehler-Kultur, Standardisierung und inkrementelle Prozessoptimierung an der Tagesordnung. Es geht eher um Besitzstandswahrung.
Diese Ausrichtung beschreibe ich manchmal als die »süße Welt«, weil hier die »Low-Hanging Fruits« geerntet werden. Das bestehende Geschäftsmodell sorgt für den aktuellen Zahlungsstrom, für die heutige Profitabilität. Nicht umsonst sprechen Ökonomen von der »Cashcow-Phase«. Die entscheidenden Messgrößen und Bewertungsmaßstäbe der Investoren und Kontrollgremien richten sich ausschließlich nach dieser »süßen« Welt: Rendite und Quartalszahlen schauen auf das Ist, nicht auf Zukunftspotenziale. Das hat Nebenwirkungen: Wie bei guter Schokolade sorgt das Erfolgserlebnis guter Quartalszahlen für eine schnelle Endorphin-Ausschüttung – chronisches Suchtpotenzial vorprogrammiert.
Die andere Welt
Kommen wir zur zweiten Welt, in der es abenteuerlicher und unberechenbarer wird. Hier dreht sich alles um die Zukunft. Die zentrale Fragestellung lautet: Was müssen wir heute tun, damit wir (über-)morgen immer noch erfolgreich sind?
Es geht um Innovationskraft, Implementierung neuer Technologien und die Erschließung zukunftsträchtiger Geschäftsmodelle. Es geht aber nicht nur um technische Aspekte, sondern ebenso um neue Formen der Zusammenarbeit im Kontext von New Work und Co.
Diese zweite Welt darf nicht als kreativer Spielplatz der Selbstverwirklichung missverstanden werden. Ich sehe sie eher als Survival-Programm der Organisation. Im Kontext zunehmenden Wettbewerbsdrucks aus dem Silicon Valley, aus China sowie aus der wachsenden Start-up-Szene gilt es schlichtweg, den Anschluss nicht zu verlieren. Im Kontrast zur ersten Welt wird hier ständig Neuland betreten. Entsprechend gelten hier andere Regeln und Tugenden. Risikofreude, Fehlertoleranz, flachere Hierarchien, Agilität und Experimente sind die geltenden Spielregeln.
In dieser zweiten Welt herrscht erhöhte Ungewissheit, weil Wandel und Veränderung auch Widerstand erzeugen, weil Fehler und Scheitern dazugehören. Es fehlt die unmittelbare Belohnung in Form von kurzfristigen Gewinnen. Der Return-on-Investment liegt in der Zukunft und ist ungewiss. Die gängigen Messsysteme und KPIs decken die Wirkkraft dieser Welt nicht ab. Das Unternehmensradar stoppt quasi an der Grenze zwischen der ersten und zweiten Welt. Dieser Modus ist reine Zukunftssicherung. Für das Hier und Heute hat es keine Relevanz, keine Belohnung und keine Sicherheiten zu bieten. Das macht diese Ausrichtung, insbesondere für gewachsene Organisationen, so unklar und herausfordernd.
Wizard of Oz
Parallelwelten sind spannend. Ich muss dabei an den Literatur- und Filmklassiker »Wizard of Oz« denken, bei dem es verblüffende Ähnlichkeiten zur Unternehmenswelt gibt. Die Geschichte dreht sich um Dorothy, ein kleines Farmermädchen aus Kansas. Eines Tages wird sie von einem Sturm erfasst und samt Haus und Hund in das magische Land Oz katapultiert. Dorothy ist also nicht freiwillig in die Parallelwelt aufgebrochen, sondern wurde durch externe Kräfte dazu gezwungen. Ähnlich ergeht es den meisten Firmen, die selten freiwillig eine Transformation initiieren, sondern durch externe Marktkräfte getrieben werden. Der Wirbelsturm kann als Metapher für Disruption stehen.
Im fremdartigen Neuland angekommen, muss sich Dorothy vortasten, neue Partnerschaften eingehen, unbekannte Herausforderungen bestehen und dabei neue Fähigkeiten entwickeln. »Toto, ich habe das Gefühl, wir befinden uns nicht mehr in Kansas«, ist eines der berühmtesten Zitate des Films und steht für den radikalen Wechsel des Umfelds. Auch das klingt bekannt.
In unserer Businesswelt gibt es allerdings einen entscheidenden Unterschied. Die Heldin Dorothy befindet sich immer eindeutig und längerfristig in einer bestimmten Welt. Sie befindet sich nie zeitgleich in zwei Welten und springt auch nicht kurzzyklisch hin und her. Wenn Dorothy vom Zyklon erfasst wird, landet sie in der Parallelwelt und verbleibt dort für die Dauer des gesamten Abenteuers.
Die neue Herausforderung
Im Businesskontext finden die beiden Welten Kerngeschäft und Zukunftsgestaltung in der Regel zeitgleich statt. Das ist eine enorme Herausforderung, denn ein Unternehmen kann nicht sechs Monate Kerngeschäft betreiben, dieses anschließend für ein halbes Jahr schließen, um währenddessen in Ruhe Innovation zu gestalten.
Die Herausforderung besteht in der Gleichzeitigkeit beider Systeme. Soll ich als Manager nun eine Null-Fehler-Kultur einfordern oder Risikofreude zeigen? In welcher Welt befinde ich mich in diesem Augenblick? Brauchen wir jetzt Routine und Zuverlässigkeit oder Geschwindigkeit und Flexibilität? Das ständige Hin- und Herschalten zwischen den beiden Modi ist kein Selbstläufer. Kein Wunder, dass mehr und mehr Führungskräfte wie Mitarbeitende an ihre Grenzen kommen. Kein Wunder, dass Verunsicherung, Erschöpfung und Orientierungslosigkeit zunehmen.
Die gute Nachricht an dieser Stelle: Es gibt Erfolgskriterien, praxiserprobte Konzepte und Werkzeuge, um diese Zerreißprobe zu meistern. Genau davon handelt dieses Buch.
Wenn ich in Vorträgen oder Workshops die Herausforderung dieser Zerreißprobe aufzeige, gibt es immer einen Teilnehmer, der Folgendes hinterfragt: »Den Spagat zwischen Kerngeschäft und Innovation gab es doch seit...