E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Schweitzer Eine Kita für alle Religionen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83462-2
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neue Impulse für die Elementarpädagogik
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-451-83462-2
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit dieser Veröffentlichung wird die deutschlandweit erste Kindertagesstätte in interreligiöser Trägerschaft – christlich, muslimische, jüdisch – vorgestellt, die vor wenigen Jahren gegründet wurde und inzwischen erfolgreich arbeitet. Dabei geht es insbesondere um das (religions-)pädagogische Konzept sowie um die Erfahrungen, die in den Jahren seit der Eröffnung gesammelt werden konnten. Darüber hinaus soll deutlich werden, welche Erwartungen für die verschiedenen Religionsgemeinschaften leitend sind und was eine solche Einrichtung für eine Stadt oder Gemeinde bedeutet.
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1 Warum brauchen Kinder Religion? Die Themen in diesem Kapitel sind ? Kinderrechte ? Kinder als transzendenzoffene Wesen ? Kinder und die „großen Fragen“ ? Notwendigkeit religionspädagogischer Begleitung ? Das Recht des Kindes auf Religion bedeutet keine Pflicht, religiös zu sein Das Recht des Kindes als Ausgangspunkt
»Kommt man in den Himmel, wenn man tot ist?« »Musst du auch sterben?« »Kann man Gott sehen?« »Wie sieht Gott eigentlich aus?1 « Manchmal wäre es Eltern und pädagogischen Fachkräfte sicher lieber, wenn Kinder keine solchen Fragen stellen würden. Wie soll man nur darauf antworten? Es sind die berühmten »großen Fragen«, vor die Erwachsene sich durch die Kinder gestellt sehen und auf die sie auch selbst oft keine Antwort wissen. Warum stellen Kinder eigentlich solche Fragen? Offenbar nehmen Kinder wahr, dass die Welt nicht einfach im Alltag aufgeht und es hinter, unter oder über diesem Alltag noch etwas anderes gibt, das geheimnisvoll und spannend ist. Davon lassen sie sich faszinieren. Mit ihren Fragen erkunden sie die Welt und alles, was sie sich darüber hinaus vorstellen können – auch Gott. Kinder sind transzendenzoffene Wesen
Kinder sind offen für eine Welt voller Geheimnisse und für die Suche nach Gott, die sie deshalb so spannend finden, weil hier auch die Erwachsenen oft nicht weiterwissen. Kinder sind neugierig, was mit den Toten geschieht und ob Tot-sein wehtut. Sie hören neugierig und gespannt zu, wenn es besondere Geschichten über solche Geheimnisse gibt – zum Beispiel bei den großen Festen wie Weihnachten und Ostern, Ramadan und Chanukka oder Îda Êzî. Kinder lieben Rituale – wiederkehrende Lieder, besondere Bewegungen und Gebete. Kinder sind transzendenzoffene Wesen. Erwachsene haben oft vergessen, dass sie auch einmal Kinder waren. Manche berichten davon, wie sie mit Kindern die vergessene transzendenzoffene Dimension ihres Lebens wieder neu entdecken konnten. Andere haben Zweifel: Wozu soll das gut sein? Ist Religion nicht einfach überflüssig – für aufgeklärte Menschen, die auch ihre Kinder ohne Religion erziehen wollen? Fragen und Einwände der Erwachsenen
Vielen Menschen, auch Eltern und pädagogischen Fachkräften im Elementarbereich, ist heute unklar, warum Kinder (noch) Religion brauchen sollten. Was soll das den Kindern bringen? Und leben wir nicht in einer Zeit, in der gerade die Kirchen und Religionsgemeinschaften allzu viel Vertrauen verspielt haben – durch Missbrauchsfälle oder Aggression bis hin zu Fundamentalismus und Terrorismus? Lange Zeit war religiöse Erziehung eine selbstverständliche Aufgabe, im Elternhaus ebenso wie im Kindergarten oder in der Schule. Davon ist heute zumeist nicht mehr auszugehen. Die Eltern haben allerdings sehr unterschiedliche Erwartungen. Im christlichen Bereich scheint vielen Erwachsenen Religion nicht mehr so wichtig, muslimische Eltern zum Beispiel sehen das hingegen ganz anders und legen großen Wert auf Religion. Aber wie steht es mit den Kindern selbst? Auch dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Deshalb ist es unumgänglich, hier mit der Frage zu beginnen: Warum brauchen Kinder Religion? Überzeugende Antworten auf diese Frage lassen sich heute nur noch vom Kind und von seinen Rechten her begründen. Die Anerkennung von Kinderrechten als entscheidender Fortschritt
Es hat sehr lange gedauert, ehe die Überzeugung, dass Kinder eigene Rechte haben, allgemeine Zustimmung gefunden hat. Die Kinderrechtsbewegung durchzog das ganze 20. Jahrhundert. Ihre Wurzel lag in der Reformpädagogik der damaligen Zeit, die etwa mit der schwedischen Philosophin Ellen Key darauf drängte, dass das 20. Jahrhundert ein »Jahrhundert des Kindes« werden sollte. Ähnlich berühmt ist der polnisch-jüdische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak, dessen Buch »Das Recht des Kindes auf Achtung« (Erstauflage 1928) ein Klassiker der Pädagogik, vielleicht sogar der Weltliteratur geworden ist. Die erste Kinderrechtserklärung überhaupt wurde vor 100 Jahren vom Völkerbund in Genf verabschiedet. Der Text aus dem Jahre 1924 ist sehr kurz. Die Erklärung umfasst nur fünf Punkte. Gleich der erste Punkt betrifft die spirituelle Entwicklung des Kindes: WISSEN Genfer Erklärung (Völkerbund 1924): Die erste Erklärung von Kinderrechten 1. Das Kind soll in der Lage sein, sich sowohl in materieller wie in geistiger (spiritueller) Hinsicht in natürlicher Weise zu entwickeln. 2. Das hungernde Kind soll genährt werden; das kranke Kind soll gepflegt werden; das zurückgebliebene Kind soll ermuntert werden; das verirrte Kind soll auf den guten Weg geführt werden; das verwaiste und verlassene Kind soll aufgenommen und unterstützt werden. 3. Dem Kind soll in Zeiten der Not zuerst Hilfe zuteilwerden. 4. Das Kind soll in die Lage versetzt werden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und soll gegen jede Ausbeutung geschützt werden. 5. Das Kind soll in dem Gedanken erzogen werden, seine besten Kräfte in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen. An der Erklärung des Völkerbundes ist zunächst bemerkenswert, dass sie den Kindern überhaupt eigene Rechte zuspricht und solche Rechte offiziell anerkennt. Damit wurde ein wichtiger Fortschritt nicht zuletzt im pädagogischen Denken erzielt, der sich in Praxis und Theorie allerdings erst in einem langwierigen Prozess durchsetzen konnte. Bis heute kommen keineswegs alle Kinder tatsächlich in den Genuss solcher Rechte. Schon die Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit Wohn- und Schlafmöglichkeiten und Medikamenten ist in vielen Ländern nicht für alle Kinder gewährleistet. Und der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, also etwa einer Kita oder einer Schule, steht keineswegs allen Kindern auf der Welt offen. Die hier wiedergegebene Übersetzung der Kinderrechte macht zugleich auf ein Problem aufmerksam, das für dieses Buch besonders wichtig ist. In der deutschen Übersetzung der Kinderrechtserklärung ist bei Punkt 1 nur von einer natürlichen Entwicklung in »geistiger« Hinsicht die Rede, während im französischen Original von »spirituell« gesprochen wird (»spirituellement«). Vor 100 Jahren stand demnach vor Augen, dass Kinder auch ein Recht auf Entwicklungsmöglichkeiten in spiritueller oder religiöser Hinsicht haben. Die Wiedergabe mit »geistig« unterdrückt den tatsächlichen Sinn des Textes. In der Sicht der Kinderrechtserklärung von 1924 haben Kinder aber ohne Zweifel auch spirituelle Bedürfnisse. Deshalb wurde dieses Wort im Text oben in Klammern hinzugefügt. In der Gegenwart sind es die Vereinten Nationen, deren Erklärungen für Menschen- und Kinderrechte maßgeblich sind. Allerdings hat es nach der ersten Kinderrechtserklärung von 1924 tatsächlich 65 Jahre gedauert, ehe die Vereinten Nationen im Jahre 1989 eine allgemeine Erklärung zu den Rechten von Kindern verabschiedet haben. Diese umfassende Erklärung gilt als Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte. Denn die Erklärung von 1989 lässt keinerlei Zweifel daran, dass Kinder ebenso anerkannt sein müssen wie die Erwachsenen und dass ihre Rechte genauso wichtig sind. Dass diese Kinderrechtserklärung auch Kindern ein Recht auf spirituelle Entwicklung zuspricht, ist allerdings weithin unbekannt geblieben. Und das liegt erneut an einer problematischen Übersetzung. Denn auch in diesem Falle weicht die deutsche Übersetzung der Kinderrechtsrklärung genau dort von der englischen und französischen Fassung ab, wo es um die spirituellen Rechte des Kindes geht (Art. 27 Absatz 1). Wiederum wird das Wort »spirituell« mit »geistig« wiedergegeben, und so geht im Deutschen die religiöse Dimension verloren. »Jedes Kind hat ein Recht auf seine Religion!« Friedrich Schweitzer, evangelischer Religionspädagoge Kinder und die »großen Fragen«
Dass Kinder ein Recht auf Religion haben, lässt sich am leichtesten an den »großen Fragen« ablesen, die sie gerne den Erwachsenen stellen. Die diesem Kapitel vorangestellten Fragen sind dafür das beste Beispiel: »Was passiert mit den Toten?« »Wie sieht Gott eigentlich aus?« Engel von einem Kind gemalt Daneben stellen Kinder auch Fragen, die sich auf den Sinn des Lebens und Zusammenlebens beziehen. Kindern wird zum Beispiel gerne erklärt, dass sie andere fair behandeln sollen, schon weil sie selber so behandelt werden wollen. Was aber, wenn dann ein Kind ganz zu Recht feststellt: »Aber die anderen sind doch auch unfair zu mir! Warum soll ich es nicht genauso machen?« Ganz rasch geht es dann um Überzeugungen und Hoffnungen – dass es in der Welt auch anders zugehen könnte, ohne Gewalt und Verletzungen, friedlich und respektvoll. Genau das ist gemeint, wenn es im bekanntesten...