Simon Kirmeskind
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8425-1640-3
Verlag: Silberburg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 500 Seiten
ISBN: 978-3-8425-1640-3
Verlag: Silberburg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In Lichtengrün, einem kleinen Ort nahe Murrhardt, kämpft man noch mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs und den Härten der Nachkriegszeit. Hans, das uneheliche Kind einer unangepassten, lebenshungrigen Mutter aus dem Schausteller- Milieu, muss sich schon früh behaupten. Sein Vater, ein farbiger Soldat der US-Armee, hat sich aus dem Staub gemacht. Nach dem Willen der Fürsorge soll Hans in den Vereinigten Staaten zur Adoption freigegeben werden, notfalls gegen den Willen der leiblichen Mutter Caroline. Aber die kämpft wie eine Löwin um ihren Sohn.
Auch in der Schule muss sich Hans immer wieder gegen Angriffe zur Wehr setzen. Mit seinem fremdländischen Aussehen stößt er häufig auf Ablehnung, muss Hohn und Spott ertragen. Als Jugendlicher - inzwischen nennt er sich Django - versucht er schließlich auszubrechen. Sein Weg führt ihn unter die Schausteller auf dem Cannstatter Wasen und dem Hamburger Dom, er trifft die ersten Beatniks in Kopenhagen und landet später mitten in den Wiener Beatkrawallen. Doch der Preis für seine kühnen Ausflüge in die große weite Welt ist hoch …
»Kirmeskind«, ein spannender Außenseiterroman aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren im Schwäbisch-Hohenlohischen, kann man auch als Fortsetzung von »Hundsgeschrei« lesen. Es ist der zweite Roman von Titus Simon im Silberburg-Verlag.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Maronimann
Leonore Winter verließ mit beiden Kindern ihre Wohnung in der oberen Wallstraße. Seit es kalt geworden war, trug sie lange Hosen. Jetzt, Mitte der Sechzigerjahre, führte dies noch immer dazu, dass Männer freche oder gar schlüpfrige Bemerkungen machten. Und auch ihre Geschlechtsgenossinnen zeigten sich, wenngleich meist hinter vorgehaltener Hand oder hinter ihrem Rücken, empört. »Immer muss sie auffallen!« oder: »Wieder mal typisch!«, das waren noch die mildesten Kommentare, die über dieses als anzüglich empfundene Verhalten abgegeben wurden. Sie ahnte das, aber es berührte sie kaum. Schon als junges Mädchen hatte sie sich gegen alle Konventionen gewehrt und gegen Verbote aufgelehnt. Manches von dem, was sie getan hatte, war gefährlich. Und die heimliche Liebe zu dem Juden Jakob Winter, ihrem späteren Mann, während der Nazizeit brachte gleich mehrere Leben in Gefahr. Deshalb musste die Beziehung anfangs im Verborgenen bleiben. Als aber Jakob als Einziger seiner Familie aus der Hölle von Riga zurückkehrte, fanden sie sich erneut. Ihr kompliziertes Verhältnis schien in ruhigeren Bahnen zu verlaufen. Sie heirateten, es kamen zwei Kinder. Doch dann brach der rast- und heimatlos Gewordene, der vom Schicksal Getriebene nach Amerika auf. Das lag nun sechs Jahre zurück. Als Leonore endgültig genug hatte vom Warten, reichte sie die Scheidung ein. Jetzt war Aron neun, seine Schwester Helene acht Jahre alt. Es hatte zu schneien begonnen. Sie zog der Kleinen die Kapuze des Anoraks über die Wollmütze und schloss den Reißverschluss bis zum Anschlag. »Au«, klagte das Mädchen, »du tust mir weh.« Offensichtlich hatte sie ein zartes Fitzelchen Haut eingeklemmt. »Stell dich nicht so an«, sagte Leonore und nahm das Kind energisch an der Hand. Der Junge bestand darauf, alleine zu laufen. Auf dem unteren Teil der Wallstraße war nicht geräumt worden. Der Schnee knirschte unter den Sohlen. Die alten Gemüsegärten, in denen bereits in wenigen Jahren Einfamilienhäuser und ein Kindergarten gebaut werden sollten, lagen brach. Der Schnee bedeckte die abgeräumten Beete. An einzelnen Stellen ragten leere Strünke, aber auch Rosenkohl und anderes Wintergemüse empor. Als sie aus der Fornsbacher Straße in die Hauptstraße einbogen, rannte der Junge voraus, um dann sogleich wieder vor einem der Schaufenster des Bekleidungsgeschäfts Kronenladen stehen zu bleiben. Helene versuchte sich von der Hand ihrer Mutter zu befreien, was ihr nicht gelang. Fasziniert starrte der Junge auf einen übermannsgroßen Nikolaus. Wie von magischen Kräften angetrieben, bewegten sich dessen Glieder. Gleichmäßig hob und senkte sich der rechte Arm. Die Hand hielt eine Rute umfasst. Der Mechanismus im linken Arm brachte einen Jutesack zum Schwingen. Geheimnisvolle Ausbeulungen ließen darauf schließen, dass der Sack nicht leer sein konnte. Einige Minuten ließ Leonore ihre Kinder gewähren. Mit Helene an der Hand stellte sie sich neben Aron. Ihre eigene Kindheit kam ihr in den Sinn. Nur wenig gab es zu Nikolaus. Die Zeiten damals waren hart. Und zudem war der Vater Kommunist und als solcher den christlichen Bräuchen nicht besonders zugetan. Den Stiefel füllte die Mutter. Einen Apfel gab es, eine Handvoll Nüsse, selten mal eine Apfelsine. Jetzt hatten es die Kinder besser. Während das Mädchen mit kindlichem Respekt den riesigen Weihnachtsmann betrachtete, stand ihr Bruder fasziniert vor dem Wunder der Mechanik. Bis zu seiner Scheitelhöhe hatte sich auf der Schaufensterscheibe ein eisiger Beschlag gebildet. Der Junge hauchte dagegen und rubbelte mit dem Wollfäustling so lange kleine Sichtfenster in das dünne Eis, bis er auch die Stiefelspitzen der Figur sehen konnte. Er trat ganz nahe an die Scheibe heran und schaute nach oben. Am meisten beeindruckten ihn nämlich zwei große dunkle Augen, die sich über dem wallenden Rauschebart im Takt der Armbewegungen öffneten und schlossen. Natürlich wusste er, dass dies alles nicht durch Zauberhand geschah. Eine Maschine, vielleicht ein elektrischer Antrieb, musste dahinter stecken. Wie das mit Armen, Sack und Rute funktionierte, konnte er sich einigermaßen vorstellen. Aber das Öffnen und Schließen der Augen war ein Rätsel für ihn. Steckte da ein zusätzlicher Mechanismus dahinter? Und worauf beruhte dann die Gleichförmigkeit der Bewegungen von Augen und Armen? Er überlegte und kam dabei ins Träumen. Zwei halbwüchsige Burschen machten seinem Grübeln ein Ende. Unbemerkt waren sie neben ihn getreten. Er nahm die beiden erst wahr, als der eine grinsend zum anderen sagte: »Guck amol, dem seine Glotzböbbel.« Diese seltsam nüchterne, ja geradewegs abfällige Bemerkung zerstörte jeglichen Zauber. Sie riss Aron in die Wirklichkeit zurück. »Kommt jetzt«, mahnte die Mutter streng. Wenige Meter weiter passierten sie eine Baustelle, die man kurz nach Beginn der Kälteperiode eingestellt hatte. Halbhohe Mauern ruhten unter unberührtem Schnee, ließen ahnen, dass hier Großes entstand. Großes zumindest, wenn man die Maßstäbe der kleinen Stadt anlegte. Die Baustelle war abgesperrt. Obwohl es noch Tag war, brannten rußend bereits zwei Petroleumlampen, die man in Richtung der angrenzenden Gassen an den zu Gittern umfunktionierten Armierungsmatten verdrahtet hatte. Es war schwierig geworden, in die angrenzende NSU-Werkstatt einzufahren. Der Hauptstraße zu, wo die örtliche BP-Tankstelle ihren Platz hatte, war kein Betrieb. Im Herbst hatte Aron in Grüppchen anderer Kinder und auch erwachsener Schaulustiger noch fasziniert dabei zugesehen, wie eine an einem Autokran hängende Abrissbirne immer wieder aufs Neue gegen die Giebelwand eines altehrwürdigen Fachwerkhauses donnerte. Die Füllungen aus Stein und Putz wurden rasch eingedrückt. Allein das Gebälk, obwohl sichtlich morsch und angefressen von den Jahrhunderten, wehrte sich mit Vehemenz. Immer wieder mussten Zimmerleute in die Staubwolke hinaufsteigen und allzu Widerständiges durchsägen. Nur wenige Schritte vom Kronenladen entfernt drängte sich ein Rudel Kinder vor dem Schaufenster einer Buchhandlung, die im hinteren Teil auch Spielwaren feilbot. Man sagte immer noch Burckhardt, wie die einstigen Besitzer hießen, obwohl der Laden schon seit etlichen Jahren von zwei jungen Frauen geführt wurde, Schwägerinnen, die nicht der traditionsreichen Buchhändlerfamilie entstammten. Die Ursache des Gedrängels dieser großen Kinderschar war eine weihnachtlich geschmückte Installation, in der sich weitaus mehr bewegte als an dem riesigen Nikolaus im Schaufenster des Kronenladens. Mittels mehrerer kleiner Motoren und etlicher raffiniert angebrachter Transmissionen schien eine riesige Menagerie von Steifftieren lebendig geworden zu sein. Hirsche zogen einen Schlitten durch den weihnachtlichen Wald. Zwei kleine Bären in Lederhosen zersägten einen Stamm. Zwei noch kleinere saßen auf einer Wippe, die sich gleichförmig mal auf der einen, mal auf der anderen Seite hob. In einer Küche kochte die Igelmutter für ihre Jungen. Von hoch oben, das ganze Gewimmel und Gewusel kühn überblickend, winkte ein Affe den kindlichen Gaffern freundlich zu. »Nur ganz kurz«, bettelte Helene und zerrte erneut an der Hand ihrer Mutter. Leonore gewährte ihnen auch diese kleine Freude, wohl wissend, dass beide die bewegliche Menagerie während der letzten zwei Wochen schon mehrmals auf dem Nachhauseweg von der Schule und zu anderen Gelegenheiten bestaunt hatten. Sie ging einige Schritte weiter und studierte gelangweilt die Auslage eines mit Folie abgedeckten Zeitschriftenständers. Noch immer berichteten etliche Blätter über den Kennedy-Mord. Seriöses wurde mit immer wilderen Verschwörungstheorien verwoben. Es verlief, wie sie es zuvor vermutet hatte. Als mehrere sanfte Mahnungen nichts fruchteten, musste sie beide Kinder resolut von dem Schaufenster wegzerren. Erneut setzte leichter Schneefall ein. Die Menschen hasteten nun schneller auf beiden Seiten der Fahrbahn an den Geschäften vorbei. In einer Viertelstunde würden die Läden schließen. Und die wenigsten würden am Nachmittag nochmals aufmachen. Es war Heiligabend. Leonore hatte es nicht eilig. Zuvor hatte sie aus der Drogerie noch eine Tüte Hustenbonbons geholt. Dies tat sie ohne ernsten Anlass, nur zur Vorsorge, falls über die Festtage jemand krank würde. Gestern schon hatte sie Urlaub genommen und alles eingekauft, was die kleine Familie während der Weihnachtstage benötigte. Gemeinsam gingen sie auf der linken Seite die Hauptstraße hinunter, bis sie das Geschäft des alten Kachel erreicht hatten, der hochbetagt noch immer jeden Tag im Laden stand. Sie kaufte dort einen weiteren Satz Wachskerzen. Schon nach wenigen Schritten standen sie auf dem Marktplatz. Vor dem Rathaus war eine mächtige Weißtanne aufgestellt worden. Noch blieb die Beleuchtung ausgeschaltet. Etwas dahinter, ganz an die Wand neben der Rathaustreppe gerückt, befand sich eine winzige...