Simon | Kleinstadt-Hippies | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

Simon Kleinstadt-Hippies

Roman
1., 2017
ISBN: 978-3-8425-1778-3
Verlag: Silberburg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

ISBN: 978-3-8425-1778-3
Verlag: Silberburg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Mitglieder der Kleinstadt-Clique um Aron Winter, dem Sohn des Holocaust-Überlebenden Jakob, sind auf der Suche nach einem Platz im Leben. Ob Rockmusik-Festivals, Kriegsdienstverweigerung, das Herumexperimentieren mit Drogen und freier Liebe, politischer Aktionismus oder alternatives Landleben – sie lassen nichts aus, was in den Siebzigerjahren auch nur den Hauch einer Möglichkeit eröffnet, dem Mief des Heimatortes und den spießigen Elternhäusern zu entkommen.

Jeder hat dabei mit seinen besonderen Verhältnissen zu kämpfen, insbesondere Aron, der oft glaubt, er sitze zwischen allen Stühlen. Als Sohn eines Juden muss er antisemitische Anfeindungen ertragen, obwohl er selbst kein Jude ist. Auf den Spuren des Vaters begibt er sich nach Israel in einen Kibbuz, um sich über seine Rolle im Leben klar zu werden.

Ein Buch voller Momente der Erinnerung und des Wiedererkennens für alle, die in den Siebzigern bereits keine Kinder mehr waren, für Jüngere ein lebendiges Bild ihrer Elterngeneration mit aktuellen Bezügen bis ins Hier und Heute.

Ein Porträt einer bewegten Zeit und eine Geschichte, die für sich steht.

"Kleinstadt-Hippies" ist nach "Hundsgeschrei" und "Kirmeskind" der dritte Band der fesselnden Familiensaga von Titus Simon.

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Franziska macht Ernst
Das war es jetzt also. Gewissheiten waren verweht, Hoffnungen zerstoben. Und wieder einmal war er allein. Aron Winter sah aus dem Fenster. Die Landschaft Thüringens flog an ihm vorbei. Wobei der Begriff fliegen hier völlig deplatziert war. Der ICE hatte sich bereits zwischen Nürnberg und der ehemaligen Zonengrenze eher gemächlich fortbewegt, aber jetzt ruckelte er nur noch durch die dunklen, gewundenen Klüfte des Thüringer Schiefergebirges. Er passierte kleine Ortschaften, die sich ins Tal und an die angrenzenden, steil aufragenden Hänge schmiegten. Die meisten Häuser waren Altsubstanz, viele noch in DDR-Grau, von winzigen Vorgärten gerahmt. Manche zeigten ein auf- oder freigelegtes Spargelfachwerk, die Dächer waren, der hiesigen Tradition entsprechend, mit Schiefer gedeckt. Nur selten zuckte ein Sonnenstrahl durch die löchrige Wolkendecke und hellte einen winzigen Moment lang Flecken des tiefdunkelgrünen Waldes auf. Aron sah hinaus. Gerade schlich der Zug durch einen leeren Bahnhof. Nur mit Mühe konnte man den abblätternden Ortsnamen an der geklinkerten Außenfassade entziffern: Unterloquitz. Schon folgte freies Feld, abgeerntet, kilometerlang, so, wie es zu LPG-Zeiten geformt worden war: schmal und lang. In Kürze würden sie das Saaletal erreichen. Er war müde. Die beiden letzten Nächte hatte er kaum ein Auge zugetan. Die eintönige Fahrt ließ ihn mehrfach in einen unruhigen Schlaf verfallen. So wie draußen die Landschaft an ihm vorbeizog, zogen in mehreren von Kopfschmerzen geplagten Wachphasen Erinnerungen an sein Leben an ihm vorüber. Er war schlecht gelaunt. Nicht nur das, er war müde, traurig und deprimiert. Das erste Mal seit Kindertagen fühlte er sich einsam. Dabei hatte er ja Familie, war zweimal verheiratet gewesen, hatte aus seiner ersten Ehe mit Margret vier jetzt erwachsene Kinder und dazu einige gute Freunde und Kollegen. In diesem Augenblick fühlte sich aber alles nach einer Reihe von Misserfolgen an, denn immerhin waren ja beide Ehen gescheitert – und jedes Mal war es überraschend für ihn gekommen. Schon damals, kurz nach der Jahrtausendwende, als Margret nach achtundzwanzig Ehejahren plötzlich die Scheidung wollte. Und später genauso bei Juliette, seiner zweiten Frau, mit der er nur ein paar Jahre verheiratet gewesen war. Obwohl sie fast fünfundzwanzig Jahre jünger war als er, hatte doch in ihrer Ehe, in der es fast nie zu Konflikten kam, für ihn nichts darauf hingedeutet, dass sie mit ihm nicht glücklich war. Er schloss die Augen und wusste sofort, dass er nicht noch mal einschlafen würde. Auch zum Dösen oder zum Davon-gleiten in hoffentlich angenehme Tagträume würde er nicht kommen. Ihm schräg gegenüber saß auf der anderen Seite des Ganges ein Paar, das sich bereits seit der Abfahrt in Nürnberg – also seit Stunden – lautstark unterhielt. Sie nervten, aber er konnte nichts tun, konnte sich höchstens einen anderen Platz suchen. Sie lärmten nicht, redeten aber ununterbrochen. Die Frau hatte ein schmales Gesicht, einen energischen Mund, die Augenbrauen waren stark betont. Ihre dünnen Haare standen in sämtliche Himmelsrichtungen vom Kopf. Grundlos setzte sie hin und wieder eine riesige, silbergrau gefasste Sonnenbrille auf. Ihr Begleiter hatte Ähnlichkeit mit den mittlerweile in jedem Asia-Shop erhältlichen Buddhafiguren. Das schwarze Haar war kurz geschoren, geltriefend, das Gesicht glattrasiert. Seine enge, grobe, weiße Leinenhose betonte unvorteilhaft seine fetten Oberschenkel. An den Füßen trug er graue Wollsocken und Haferlschuhe. Ein voluminöser Bauch zerrte die Rüschen seines weißen Baumwollhemdes wüst auseinander. Sie redeten vor aufgeklappten Laptops über Termine in Berlin, Präsentationen und Preisgestaltungen. Gesprächsfetzen ließen erahnen, dass sie mit Schuhmode zu tun hatten. Immerhin: Mit einem Mal stand der Kerl auf und streifte eine viel zu enge und auch zu kurze hellgrüne Pilotenjacke über seinen unförmigen Leib. Die Frau erhob sich ebenfalls. Noch stiegen sie nicht aus, gingen wohl in den Speisewagen. Als Juliette die Scheidung eingereicht hatte, konnte er zu seiner eigenen Verblüffung damit ganz gut umgehen. Er hatte immer geahnt, dass die Euphorie und die Bewunderung einer jungen Frau für einen wesentlich älteren Mann nicht ewig tragen würden, auch wenn er nach gängigen Maßstäben im Urteil anderer eine gepflegte Erscheinung, gebildet, unterhaltsam, immer noch attraktiv und beruflich erfolgreich war. In den gemeinsamen Jahren mit Juliette hatte sich wie Mehltau eine unmerkliche Entfremdung auf das Verhältnis zu seinen uralten Freunden gelegt. Gelegentliche Abenteuer schienen akzeptiert zu werden, auch der ungewöhnliche Lebensstil seines alten Freundes Christoph Böhringer, der seinen Alltag vollständig der Obsession unterordnete, immer neue Eroberungen zu machen. Ausgerechnet seine dauerhafte Beziehung mit einer Jüngeren löste Phantasien, Neid und Fragen aus, etwa danach, ob beim Älteren nicht mangelnde Reife für altersgemäße Partnerschaften und bei der Jüngeren nicht die Suche nach einem Vaterersatz dahintersteckten. Einmal, sie hatten sich bei Angelika Rosenke – einer früheren Schulkameradin und alten Freundin – anlässlich ihres Geburtstags getroffen, war es ausgerechnet Christoph gewesen, der ein gleichermaßen anzügliches wie primitives Spiel auf die Spitze trieb. Keineswegs zufällig begann er eine Episode aus der Schmonzette Monaco Franze zu erzählen, in der sich der bereits ältere Franze, gespielt von Helmut Fischer, in ein junges Ding verliebte. Aron Winter hatte daran keine Erinnerungen. Zu der Zeit, als diese Serie ausgestrahlt wurde, hatte er so gut wie nie ferngesehen. Bis in die Neunzigerjahre hinein hatten sie zu Hause kein Fernsehgerät. Einzig die Figur des Tierpark-Toni kam ihm bei Christophs umständlicher Ouvertüre in den Sinn, ohne zu wissen, was es mit ihr auf sich hatte. Er hatte den Namen irgendwann einmal aus Erzählungen über Episoden der Serie aufgeschnappt. Und er hatte ihn als überflüssiges Wissen behalten. »Stellt euch vor«, fuhr Christoph Böhringer fort, »der Monaco Franze verabredet sich mit einer Zwanzigjährigen. Sein Freund Manni fragt ihn: ›Franze, du und eine Zwanzigjährige, was soll das werden?‹ Darauf der Franze: ›Das verstehst du nicht. Das ist erotisches Heimweh.‹« Der Lacherfolg war mäßig gewesen. Aron hatte eine hässliche Bemerkung in Richtung des Filmerzählers unterdrückt. Stattdessen sagte er ausweichend: »Tja, der Helmut Dietl ist auch schon tot.« »Und der Fischer, der den Franze gespielt hat, lebt schon lange nicht mehr«, sagte jemand aus der Runde. Angelika Rosenke fügte hinzu: »Karl Obermayr, der den Manni verkörpert hat, ist jung gestorben. Bayrhammer lebt nicht mehr, auch die wunderbare Erni Singerl ist schon etliche Jahre tot. Richtig morbid, das Ganze.« Nach seiner zweiten Scheidung hatte Aron einige Jahre ohne feste Partnerschaft gelebt. Und auf einmal hatte er sich völlig überraschend neu verliebt. Das erste Mal war er Franziska vor zwei Jahren in Berlin begegnet. Als der Zug Rudolstadt passierte, fiel ihm ein Satz ein, den Helmut Fischer gesagt haben sollte, als er bereits sterbenskrank war: »Das Leben macht sich mehr und mehr aus dem Staub.« Dieses Zitat nahm seither einen Platz in dem Erinnerungsschatz ein, von dem er sich wünschte, dass er ihm erhalten bliebe. Vor zwei Nächten war sein Leben vollkommen aus den Fugen geraten. Da er zurzeit immer sehr früh aufstehen musste, war er vor dem Zubettgehen nur ausnahmsweise nochmals an den Rechner gegangen und hatte seine Mails gesichtet. Längst war ihm zur Gewohnheit geworden, elektronische Post nur vormittags abzurufen. Die kleinen Kästchen und die Ungeduld anderer Zeitgenossen durften sein Leben nicht dominieren. An diesem Abend war noch eine neue Mail eingegangen. Was er da las, schlug ihm mit voller Wucht auf den Magen und machte ihn völlig fertig. Vor allem, weil er sofort von der Unumkehrbarkeit des Mitgeteilten überzeugt war. Irgendwann in der Nacht schreckte er auf. Er wusste nicht, wie lange er bereits in das schmale Rechteck seines Tablets gestarrt hatte. Immer und immer wieder las er den Text: Lieber Ari, ich schreibe dir, weil ich mich entschlossen habe, unsere Beziehung zu beenden. Ich habe mich entschieden. Ich will und kann nicht mehr. Es war so, wie du mir vor langer Zeit mal gesagt hast: »Wenn du dich von mir trennst, wird es dir zuerst sehr schlecht gehen, aber dann sehr viel besser.« So ist es auch. Die Gründe für meine Entscheidung kennst du. Wir haben so oft ausführlich darüber gesprochen. Ich möchte nicht, dass du zu mir kommst oder mich anrufst. Es ist alles gesagt. Franzi Ari hatte ihn während der letzten...


Professor Dr. Titus Simon, geboren 1954 in Backnang, verheiratet, drei erwachsene Kinder, drei Enkel, studierte Rechtswissenschaften, Sozialarbeit, Pädagogik und Journalistik. Er arbeitete zwischen 1975 und 1992 mit jugendlichen Gewalttätern, in der Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe sowie beim NABU Baden-Württemberg. 1992 bis 1996 hatte er die Professur "Jugend und Gewalt" an der Fachhochschule Wiesbaden inne, 1996 wurde er an die Hochschule Magdeburg-Stendal berufen. Mittlerweile pensioniert, lebt er heute als freiberuflicher Schriftsteller und Mitherausgeber einer wissenschaftlichen Reihe in Oberrot (Landkreis Schwäbisch Hall).



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