Sommer | Trabant | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 236 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm

Sommer Trabant


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7013-6313-1
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 236 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm

ISBN: 978-3-7013-6313-1
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Liegt sein Vater in dieser Nacht im Sterben – oder wurde er als ehemals ostdeutscher Spion enttarnt? Haben seine Eltern gemeinsam Suizid begangen – oder liegen sie auf Madeira am Strand? Oder hat er sich das alles nur ausgedacht?
In dieser Spätsommernacht scheint für Georg Himmel alles, aber auch alles möglich zu sein. Als der junge Mann auf der Hochzeit seines besten Freundes in einem istrischen Grand Hotel eine Kurznachricht erhält, die sein Vater wohl eigentlich einer Affäre schicken wollte, beginnt für ihn eine lange Reise. Georg setzt sich in den alten Corsa und fährt los, um den Vater in den frühen Morgenstunden am Münchner Flughafen abzufangen und ein Auseinanderbrechen der Familie zu verhindern. Aber: Ist da überhaupt noch etwas zu retten? Sind die Eltern die, für die er sie immer gehalten hat? Oder wollte er sie dafür halten? Georg spürt Erinnerungen nach, versucht Hinweise zu finden auf Risse in der Ehe seiner Eltern, die er übersehen hat. Er stellt sich Urängsten und Hirngespinsten, seiner Einsamkeit, seinen Enttäuschungen.
Zwischen Autobahnraststätten und Umleitungen erzählt „Trabant“ vom Hoffen, Zaudern, Wüten und Bangen, vom stillen Gleiten durch die schwarze Nacht, vom Ankommen und einer großen Überraschung.

Sommer Trabant jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


17:11 Uhr
„Ich heiße Georg Himmel“, leiert Georg Himmel in den leeren Aufzug. Er und sein Spiegelbild schütteln den Kopf. So glaubt ihm das niemand. Die Sonne brennt auf ihn herab. Wie im Gewächshaus staut sich die Hitze in der gläsernen Kabine, die an der Westseite des Gebäudekomplexes die Fassade entlanggleitet. Wolken schleichen über die Leuchtschrift des Hotels. Möwen rasten auf den Wäscheleinen, die zwischen den Balkonen der Suiten mit Meerblick gespannt sind. „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig“, übt Georg seinen Text vor dem Fensterglas, als wäre der unvermeidliche Moment gekommen, als hielte er das Mikrofon schon in seinen Händen. Er lächelt, wie er ihnen später zulächeln will. Er prostet in den Aufzug, wie er ihnen zuprosten will. Er starrt hinauf ins Licht. Über ihm, wo der Beteigeuze und all die anderen Gestirne der südlichen Hemisphäre auf die Nacht warten, warten, bis die Tagblinden sie wieder sehen können, kann er ihre Positionen im Perlmutt nur erahnen. Vielleicht hofft er auch nur, dass sie da sind. Wenn er zu ihnen hinaufsieht, fehlen sie. Und auch der Beteigeuze, ihr Beteigeuze, der Riesenstern, den Georg und der Vater entdeckt haben, fehlt heute da oben, als hätte der Himmel ein Loch. Als das Kitzeln der Sonnenstrahlen hinter Georgs Augen dann endlich schmerzt, setzt der photische Reflex ein. Sein Drillingsnerv, der bei ihm erblich bedingt ungewöhnlich nah am Sehnerv liegt, meldet dem Gehirn den Lichtreiz. Der Frontallappen, so erklärte es ihm der Vater am schwarzen Sandstrand Fuerteventuras als er noch ein Kind war, missverstehe die Helligkeit als Eindringling und gebe Befehl, die Nasenschleimhaut freizupusten. „Zieh, Sohnemann“, sagte der Vater damals im ersten Urlaub mit dem Flugzeug, hielt ihm den Zeigefinger vor das sonnenverbrannte Gesicht und ließ die Nasenschleimhaut tun, was die Nasenschleimhaut tun wollte. Diesen anatomischen Zaubertrick hat der Vater auf seinen Kindergeburtstagen aufgeführt. „Zieh mal“, schnoddert Georg also in den Aufzug wie der Vater. Und zieht. Und niest. Ihm und seinem Spiegelbild huscht ein Lächeln über die Lippen. Unter ihm ist Sommer. Georgs Augen wandern das Gelände ab, den Trampelpfad entlang, über die Tennisplätze, die Cliffs hinab ins Meer. In den Wellen treibt ein aufblasbares Krokodil. Beachboys schleifen Sonnenschirme durch den Sand vor einen azurblauen Bungalow. Und Georg fällt ein, wie er als Pimpf drüben vor der italienischen Küste beinahe ersoffen wäre, hätte ihn der Vater nicht aus dem Wasser gefischt. Georg hat am 11. August 1999 die Jahrhundertsonneneklipse vergessen. Plötzlich wurde es über ihm dunkel und Rimini versank in seinem Rücken in Finsternis. Nicht frei von gewissen Zweifeln, ob sich die Ereignisse auf hoher See zugetragen haben, wie er sich erinnert, vergisst er das Röcheln der nachtschwarzen Gischt um ihn doch nie wieder. Als sich dann unten im Erdgeschoss vor Georg die Schiebetüren des Aufzugs zur Hotellobby öffnen, tritt er hinaus in ein lebendiges Wimmelbild. Pagen, Kellner, Männer in Anzügen, Frauen in Kleidern, ein Priester. Ein Meer aus Körpern. Und Georgs Herz rast los. Alle im feinsten Zwirn. Barkeeper, Neureiche, ihre Kleinkinder, ein Pudel und ein Kammerorchester. Ihm ist so, als würden sich alle auf Kommando zu ihm umdrehen. Und Vorahnungen, wie er sich vor ihnen lächerlich macht, überfallen ihn. Er, wie er stolpert, er, wie er schwankt, er, wie er stürzt und er, wie er im Grande Finale der Peinlichkeiten auf den roten Sisalteppich speit. Den ganzen Tag hat er sich davor gedrückt, zu ihnen herunterzukommen. Erst jetzt, erst viel zu spät, hat er sich überwinden können. Und es ist alles noch schlimmer, als er befürchtet hat. Das Notfallprotokoll, ein mentales Rettungsnetz, das er während der Schulzeit in sich geflochten hat, fängt den ersten Sturz in die Panik aber auf: Wie immer in diesen Situationen hält er das Smartphone vor sich, tut so, als würde er scrollen. Ein Hochziehen der Augenbrauen, ein wacher Blick, ein Stirnrunzeln, das Georg zu imitieren weiß. Zu überrascht darf dieses Stirnrunzeln aber nicht wirken, um keine Fragen nach dem Grund des Runzelns aufkommen zu lassen. Und erst als Georg sicher ist, dass sich niemand mehr für seinen Gang über das unebene Geläuf interessiert, schaut er wieder vom Display auf. Noch mehr fremde Körper, noch mehr fremde Gesichter. Hausdiener in frisch gebügelten Uniformen tragen Blumenbouquets in den Speisesaal mit den bodentiefen Fenstern. Von Vedad keine Spur. Georg will zurück in sein Hotelzimmer. Aber anstatt sich in den Aufzug zu flüchten, drückt er die Ohrstöpsel rein. Seit Windows XP sammelt er Aufnahmen der Radioteleskope in Green Bank und Parkes. In seiner Wohnung neben dem Planetarium stapeln sich die Festplatten. Nach einem von ihm selbst entwickelten System ist da das Sausen und Brausen des Weltalls archiviert. Wenn er sich allein fühlt, lauscht er den Schwingen des Beteigeuze, die in seiner Einbauküche lagern, wenn er nervös ist, dem Lichtblitz FRB 121102, den er am Mann trägt. Nichts beruhigt ihn wie FRB 121102. Sein Zweifel, seine Person, seine Welt versinkt im Flüstern der Sterne. Nun, meistens. Die Hotellobby ist Augenblicke von einer Polonaise entfernt, fürchtet Georg, der sich nicht als großer Freund von Polonaisen beschreiben würde. Da sich am morgigen Sonntag das Universum einen Scherz erlaubt und das Kalenderblatt eine nie da gewesene Schnapszahl herzeigen wird, hat die ganze Welt beschlossen zu heiraten. Im Akkord sollen von Mitternacht an Paare in der hoteleigenen Kapelle vermählt werden. Selbst eine dänische Königstochter und ihr „Bürgerlicher“, wie Georg einer Gazette beim Frühstücksbuffet entnommen hat, wollen sich an einem anderen Strand Südeuropas unter einem anderen Himmel morgen trauen lassen. Welchen Einfluss eine symmetrische Zahlenfolge im Trauschein auf das Leben hat und wie die Position der Erde zur Sonne romantische Gefühle in den Menschen auszulösen vermag, erschließt sich Georg nicht. Bevor ihm das jemand im Raum ansehen kann, drückt er die Ohrstöpsel tiefer. In einem Chatroom, den er nachts aufsucht, wenn er wieder nicht schlafen kann, herrscht die Meinung vor, die MP3-Datei „FRB_121102_“ sei der Beweis für außerirdisches Leben. Eine F-Dur-Pentatonik klimpere daraus hervor, als wollten musisch begabte Marsianer durch die Galaxie zu uns herüberzwinkern. Auch heute kann Georg das nicht bestätigen. Chaotisches Blubbern, nichts als chaotisches Blubbern, als er auf dem Weg zur Bar am Ende der Halle einen Geldschein aus der Badehose mit Flamingomuster friemelt, die er eher kurzfristig vor seiner Abreise erstanden hat. Im Durcheinander aus Speedos und Bikinis will Georg den Anfang der Getränkeschlange ausmachen. Zwischen denen, die mit Cocktails in den Sommerabend hinauswollen, und denen, die sich ihre Pinot Grigios an der Bar noch erkämpfen müssen, treibt er zwischen den Durstigen. Und selbst jetzt, selbst wenn sie sich laut und schrill und beschwipst an ihm vorbeidrängeln, selbst jetzt spürt Georg, wie ihre Heiterkeit, dieses kompromisslose, immerwährende Blindvertrauen in den Lauf der Dinge, auch ihn ein wenig aus seiner Enge holt. „Hochzeiten“, staunt er, „die Menschen lieben Hochzeiten.“ Und als dann das Kammerorchester auf einer Empore über ihm just einsetzt, als er zum Pool aufbrechen will, ganz so, als hätten ihre Instrumente auf ein Zeichen von ihm gewartet, macht Georgs Herz einen kleinen Sprung. „Hochzeiten“, murmelt er leiser für sich und schlendert durch die Terrassentüren ins Freie, „Menschen lieben Hochzeiten.“ Von der Küste weht ihm ein warmer Wind ins Gesicht. Unter dem sanft wogenden Fliederstrauch, der draußen tief über der Terrasse hängt wie ein lila-farbenes Dach, atmet er ihn so tief in sich hinein, wie er nur kann. Die Sonne taucht die Welt für ihn plötzlich in herrliche Pastelltöne. Über ihm ziehen Möwen ihre Bahnen. Darüber die Satelliten. Und am Pool scheint vor ihm ein Liegestuhl frei zu werden, von dem aus er das Treiben beobachten kann, ohne selbst zu sehr von anderen Hotelgästen beobachtet zu werden. „Free?“, fragt er die ältere Dame und lächelt dieses perfekte Lächeln, das er im Aufzug geprobt hat. „Sure, honey“, grinst sie hinter ihrem Fächer hervor. „But beware of the bottle.“ „Excuse me?“, hakt Georg nach, als hätte er sich verhört. „The bottle, young man“, sagt sie milde und packt hastig ihre Sachen zusammen. „Over there, honey.“ Auf der anderen Seite der Poolanlage hampelt ein Mann in einem Bierflaschenkostüm um das Schwimmbecken. Auch wenn es so aussehen mag, als hätte er sich im Hotel vertan, scheinen sich die Gäste liebend gerne in sein Spiel verwickeln zu lassen. Jeder muss ein Tänzchen mit ihm aufführen. Wer sich weigert, fliegt ins Wasser....


Sommer, Stefan
1989 geboren, wuchs in einer kleinen schwäbischen Gemeinde auf. Sein Großvater prophezeite ihm schon als Kleinkind, aus ihm könnte später wohl nur ein Pfarrer oder ein Schauspieler werden. Es kam ähnlich, aber anders. Der vierunddreißigjährige Autor lebt heute in München und arbeitet für die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Bayerischen Rundfunk“. Er schreibt Reportagen und Essays über Popmusik, Gesellschaft, Körperpolitik, Harry Styles, Klimaaktivismus und Datingportale für Impfgegner:innen. Ausgezeichnet mit dem „International Music Journalism Award" 2020 in der Kategorie „Beste musikjournalistische Arbeit unter 30“, dem „Ernst Schneider Preis" fu¨r Wirtschaftsjournalismus 2021 und einem Literaturstipendium „Junge Kunst und neue Wege“ 2021 durch den Freistaat Bayern.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.