Buch, Deutsch, 308 Seiten, kartoniert, Format (B × H): 155 mm x 228 mm, Gewicht: 523 g
Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens
Buch, Deutsch, 308 Seiten, kartoniert, Format (B × H): 155 mm x 228 mm, Gewicht: 523 g
ISBN: 978-3-608-94121-0
Verlag: Klett-Cotta
Die neuzeitliche Naturwissenschaft beginnt mit dem Verzicht auf die Frage nach der Zielgerichtetheit natürlicher Prozesse. Diese Frage ist nach einem Wort von Francis Bacon 'wie eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebiert'. Naturbeherrschung ist Eingreifen in natürliche Prozesse auf Grund der Einsicht in kausalgesetzliche Bedingungszusammenhänge. Um Naturbeherrschung aber geht es dem neuzeitlichen Typus von Wissenschaft. 'Eine Sache kennen, heißt wissen, was man mit ihr machen kann, wenn man sie hat', schreibt Thomas Hobbes. Es gibt aber eine andere Weise des Kennens, für welche die Natur nicht primär Herrschaftsobjekt ist, sondern unser Zuhause; natürliche Lebewesen, nicht nur Verwertungsmaterial, sondern Mitgeschöpfe, unverwandt und zeitlebens selbst auf etwas aus.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Naturwissenschaften Biowissenschaften Biowissenschaften
- Geisteswissenschaften Philosophie Naturphilosophie, Philosophie und Evolution
- Geisteswissenschaften Philosophie Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Wissenschaften: Theorie, Epistemologie, Methodik
Weitere Infos & Material
Vorwort
Einführung
Die Frage 'Warum?'
Die Antworttypen auf die Warum-Frage
Die Warum-Frage im Bereich des Lebendigen
I. Platons Konzept der Teleologie
1. Teleologie und platonische Ideenlehre
2. Platons Lehre von der Bewegung
3. Teleologie und platonische Eros-Lehre
4. Teleologie und politische Philosophie
II. Aristoteles
1. Dynamis und ousia als Konstituentien der aristotelischen Theorie der Bewegung
2. Die aristotelische Lehre von der Bewegung
3. Immanente und transzendente Teleologie
III. Die Ausweitung der Teleologie in der Spätantike und ihre ontotheologische Fundierung in der Scholastik
1. Die Universalteleologie im stoischen Denken
2. Die Vollendung der teleologischen Weltsicht: Thomas von Aquino (1225-1274)
3. Höhepunkt und Peripetie des teleologischen Denkens
IV. Krise und Entmachtung des teleologischen Denkens bis zur Frühneuzeit
1. Die Krise der Naturteleologie im Hochmittelalter und der Frühneuzeit.
Argumente und Motive bei Buridan, Bacon, Descartes
2. Die Inversion des teleologischen Denkens
3. Nietzsches Angriff auf die invertierte Teleologie (Vorgriff)
V. Vermittlungsversuche zwischen Teleologie und Universalmechanik bei Leibniz, Wolff und Kant
1. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)
2. Christian Friedrich Wolff (1679-1754)
3. Immanuel Kant (1724-1804)
4. Die verschiedenen Formen der Zweckmäßigkeit bei Kant
5. Das Verhältnis von kausalmechanischer und teleologischer Naturinterpretation
6. Die ontologische Dimension des Teleologieproblems
7. Die praktisch-philosophische Dimension des Teleologieproblems
8. Das Teleologieproblem im Werk des späten Kant (nach 1796)
VI. Teleologie im Deutschen Idealismus: Fichte, Schelling, Hegel
1. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814)
2. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1175-1854)
3. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)
VII. Die Radikalisierung und Zerstörung der Erhaltungsteleologie im 19. Jahrhundert
1. Arthur Schopenhauer (1778-1859)
2. Friedrich Nietzsche (1844-1900)
VIII. Die Vollstreckung des Antiteleologismus durch die Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts
1. Grundlagen des biologischen Darwinismus
2. Evolutionstheorie und Teleologie
3. Die Ausweitung der Evolutionstheorie auf das gesamte Gebiet der Wissenschaft
4. Die entteleologisierte Wirklichkeit
IX. Kritik am Antiteleologismus
1. Gegenkritik an der Evolutionstheorie
2. Gegenkritik an der wissenschaftstheoretischen Analyse des Teleologieproblems
X. Die wiederentdeckte Teleologie
1. Zum symbolischen Charakter der Sprache
2. Das Mißlingen der 'Entanthropomorphisierung'
3. Der neue Status der Evolutionstheorie
4. Zur 'Notwendigkeit' teleologischen Denkens
5. Teleologisches Denken und Beweislast
6. Teleologie und Interesse
7. Der ontologische Status der Teleologie
XI. Teleologie und Teleonomie
Anmerkungen
Verzeichnis der verwendeten Literatur (Auswahl)
Register
Einführung
'Die Betrachtung natürlicher Prozesse unter dem Aspekt ihrer Zielgerichtetheit ist steril, und wie eine gottgeweihte Jungfrau gebiert sie nichts', hat Francis Bacon geschrieben, einer der Herolde jener 'tapferen neuen Welt', in der gottgeweihte Jungfrauen keinen Platz haben. (1) Die Frage, ob auf Dauer für Menschen darin Platz bleiben werde, wäre Bacon wohl ganz unverständlich gewesen. Nutzenmaximierung durch wissenschaftliche Naturbeherrschung schien ihm ein eindeutiges Ziel und wichtiger als der unbedingte Respekt vor den Wesen, um deren Nutzen allein es gehen kann. Dem Anwalt der Krone waren peinliches Verhör, Folter und Rechtsbeugung im Dienste des entstehenden Absolutismus ebenso legitim wie die Reduktion des Umgangs mit der Natur auf das peinliche Verhör. (2) Die Frage, wozu etwas gut sein muß, um gut zu sein, ist nicht nützlich. Aber wie wollen wir wissen, was nützlich ist, wenn wir diese Frage unbeantwortet lassen?
Daß etwas geschieht, weil es zu etwas gut ist, das ist offensichtlich dann der Fall, wenn wir selbst etwas aus diesem Grunde tun. Es ist die heute noch herrschende Ansicht, es sei nur dann der Fall. Die teleologische Betrachtung anderer Prozesse als menschlicher Handlungen sei aus naturwissenschaftlichen, logischen und sprachanalytischen Gründen unzulässig, weil prinzipiell teleologische in nicht-teleologische Theorien, teleologische in nicht-teleologische Sprechweisen überführbar seien. Dieser Ansicht soll im folgenden widersprochen werden. Schon prima facie kommen dem, der die einschlägige Literatur liest, Zweifel. Der Zweifel richtet sich erstens auf die niemals diskutierte Beweislastverteilung. Gesetzt den Fall, es sei wahr, daß teleologische Rede sich prinzipiell in nicht-teleologische übersetzen ließe, so würde auch das Umgekehrte gelten. Es gibt jedoch ein stillschweigendes Einverständnis, daß die eine Sprache vor der anderen den Vorrang habe und daß nicht etwa die nicht-teleologische, sondern die teleologische Sprache im Falle ihrer Übersetzbarkeit eliminiert werden oder doch auf den Status einer uneigentlichen Rede herabgesetzt werden müsse. Dabei wird unterstellt, daß der 'Teleologe' etwas Sonderbares und Unwahrscheinliches behauptet, wenn er von einer prinzipiellen Ähnlichkeit menschlicher Handlungen mit anderen Arten des Geschehens ausgeht. Wo für diese Ähnlichkeit der Beweis nicht erbracht werden könne, müsse vielmehr die Unähnlichkeit als das 'Normale' für bewiesen gelten. Wenn wir bedenken, daß Aristoteles den Anaxagoras als ersten 'Nüchternen unter irre Redenden' bezeichnete, weil er gegenüber den ionischen Naturphilosophen finale Deutungen in die Natur eingeführt habe, dann hatte er offenbar einen anderen Begriff von Normalität und von dem, was im Zweifelsfalle der Begründung bedürftig sei und was nicht. Ohne über das 'Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite' (Kant) zu sprechen, d. h. hinter diese Paradigmendifferenz zu schauen, ist das Teleologieproblem gar nicht entscheidbar. Es sei denn, es ist durch eine definitorische Immunisierungsstrategie im vorhinein entschieden. Daß dies häufig geschieht, ist der zweite Prima-facie-Grund dafür, an der angeblich definitiven Erledigung des Teleologieproblems zu zweifeln. Daß Zwecke 'gesetzt' werden, daß solche Setzung nur durch einen bewußten Willen geschehen kann, daß als solcher zwecksetzender Wille nur der menschliche Wille in Frage komme, all das wird in der Regel erst einmal als selbstverständlich vorausgesetzt, um dann in umständlichen Verfahren zu zeigen, daß so verstandene Zwecke in der außermenschlichen Natur nicht 'vorkommen'. (3) Eine andere Immunisierungsstrategie besteht darin, daß man einen Begriff von Erklärung einführt - z. B. das sogenannte Hempel-Oppenheim-Schema -, der auf eine deterministische Abhängigkeit bestimmter Ereignisse von Antecedensbedingungen abhebt. Natürlich folgt daraus, daß der Begriff einer 'teleologischen Erklärung' aus empirischen und logischen Gründen zu verwerfen ist. (4) Aber was ist mit einer so trivialen Einsicht gewonnen?
Aufgabe der Philosophie ist nach einem Worte Hegels 'Erkenntnis dessen, was in Wahrheit ist'. Im Unterschied zu Disziplinen, die mit spezielleren Interessen der Wirklichkeit sich nähern, kann Philosophie nicht das Raster von Nominaldefinitionen an die Wirklichkeit herantragen. Sie würde dabei zwar bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen erhalten, aber sie wüßte nicht, ob sie die richtigen Fragen gestellt hat. Was sind richtige Fragen? Was sind richtige Fragen, wenn wir Menschen 'kennenlernen' wollen? Wir können viele Aspekte an sie herantragen, Aspekte der Haar- und der Hautfarbe, der Tierkreiszeichen oder des Intelligenzquotienten. Wir können ihre Handlungsweisen statistisch untersuchen, wir können einen Selbstmordversuch in Relation setzen zu statistischen Selbstmordraten in bestimmten Jahreszeiten - sie sind bekanntlich im Sommer höher als im Winter - oder zu dem Land, in dem der Mensch lebt.
'Was in Wahrheit ist', erfahren wir freilich nur, wenn wir mit dem Menschen selbst sprechen. Was er selbst denkt, meint, fühlt und will, erfahren wir nur, wenn wir, ehe wir über ihn sprechen, mit ihm gesprochen haben. Mit ihm sprechen heißt nicht nur: ihn Fragen beantworten lassen, die wir ihm stellen. Das kann genügen, wo uns ein spezifisches Erkenntnisinteresse leitet, wo wir z. B. die Eignung als Filialleiter oder Pilot testen wollen. Wo es uns darum geht, ihn 'als ihn selbst kennenzulernen', müssen wir unsere Interviewbogen zur Seite tun und uns in Umgang und Gespräch einlassen, in welchem nicht wir allein mehr 'Herr des Verfahrens' sind.
Gibt es ein analoges 'Kennenlernen der Natur'? Wir können, so scheint es, nicht mit der Natur reden, sondern nur über sie. Und wenn wir schon die Analogie des Sprechens verwenden wollen, so scheint doch eher Kant mit dem Bild des Richters recht zu haben, der die Zeugen im Zeugenstand verhört, oder Goethe, der sagt, daß wir die Natur auf die Folter spannen, um Aussagen zu erpressen, ungeachtet dessen, daß die so Erpreßte vielleicht von sich aus ganz anderes im Sinne hat. (5)
Genau dies ist das Problem der Te
Dieses Buch ist die lange Vorrede zu einem kürzeren, streng systematischen Buch, das noch nicht existiert und vielleicht gar nicht existieren kann. Denn - kann man streng systematisch über Teleologie reden? Platon benutzte die Metapher des Überredens, um die Einwirkung der Vernunft auf die Notwendigkeit und deren Orientierung am "Besten" zu charakterisieren. Und so könnte es ja sein, daß zur Anerkennung einer solchen Wirksamkeit auch nur überredet werden kann, wenngleich mit besseren Gründen als zum Gegenteil. So sah es zum Beispiel Kant: Zum einzig vernünftigen, nämlich teleologischen Gebrauch der Urteilskraft angesichts lebendiger Organismen kann niemand genötigt werden. Ein solcher Gebrauch wird uns nur durch die Wirklichkeit dringend nahegelegt.
Im Wintersemester 1976/77 habe ich einen solchen Versuch der Überredung zum Naheliegenden gemacht. Der größte Teil desselben bestand in einer Präsentation der Geschichte des Problems, ohne deren Kenntnis die Debatten der Gegenwart unter ein längst erreichtes Niveau zurückfallen und das Rad immer von neuem erfinden. Der Niederschlag dieses Versuchs, die Tonbandnachschrift einer frei gehaltenen Vorlesung für Hörer aller Fakultäten in München, lag ein paar Jahre in der Schublade, bis Reinhard Löw mir die Nachschrift entlockte, um auf ihrer Basis ein Buch zu machen - ohne Beseitigung der für eine Vorlesung charakteristischen Redundanzen, unter Hinzufügung einiger Abschnitte, so unter anderem über Schelling, unter Weiterführung der Überlegungen zur Evolutionstheorie und unter Anfügung zahlreicher Anmerkungen. Ich selbst habe für die zweite Auflage den Vortragstext "Teleologie und Teleonomie" beigefügt. Er kann auch als Resümee oder Kurzfassung dessen gelesen werden, wozu ich überreden möchte.
Das Buch soll dazu anregen, über ein der Wissenschaft liebgewordenes Vorurteil noch einmal von vorne an nachzudenken - das Vorurteil, Sinn sei eine Variante von Unsinn, Vernunft eine Variante von Unvernunft, und der Mensch selbst sei ein Anthropomorphismus.
"Natürliche Ziele" ist der neue, deutlichere Titel des Buches "Die Frage "Wozu?"", das ich mit meinem früh verstorbenen Schüler und Kollegen Reinhard Löw 1981 erstmals veröffentlicht habe und für dessen erneute Herausgabe ich dem Verlag Klett-Cotta danke.