Stamm | Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Stamm Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit

Sozialpolitisches Handeln am Beispiel Deutschlands und Finnlands
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7445-0931-2
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Sozialpolitisches Handeln am Beispiel Deutschlands und Finnlands

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-7445-0931-2
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
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Welchen Einfluss haben die sozialen Menschenrechte auf den heutigen Sozialstaat? Dieser Frage geht Ingo Stamm in seiner rechtssoziologischen Studie nach. Obwohl die Menschenrechte seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in zahlreichen internationalen und supranationalen Verträgen verankert wurden, finden sie de facto kaum Beachtung. So auch das Recht auf soziale Sicherheit, wie es unter Artikel 9 des UN-Sozialpaktes festgeschrieben ist. Im Rahmen dieses Rechts legt der Autor seinen Fokus auf das Risiko Arbeitslosigkeit und analysiert das sozialpolitische Handeln in Deutschland und Finnland. Am Beispiel der gegenwärtigen Arbeitslosensicherungssysteme Setzt er das dort vorgefundene Menschenbild in Kontrast zum Menschenbild der Menschenrechte. Hierfür untersucht er unter Anwendung der Objektiven Hermeneutik Dokumente aus beiden Ländern. Das Ergebnis zeigt, dass beide Länder, wenngleich auch in unterschiedlicher Intensität, arbeitslosen Personen weite Teile ihrer Autonomie entziehen, indem sie sie zu Erziehungsobjekten machen. Beide Staaten laufen dabei Gefahr, das Autonomieversprechen der sozialen Menschenrechte zu missachten. Mit der Fokussierung auf das Recht auf Einkommen in der Arbeitslosigkeit gewinnt die Studie an zusätzlicher Brisanz – wird doch in vielen europäischen Ländern im Zuge der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik immer strenger eine Gegenleistung von den Leistungsempfängern der Sozialen Sicherheit gefordert bzw. werden Sanktionen gegen Bürger eingeleitet, die zu wenige arbeitsmarktrelevante Aktivitäten vorweisen können.
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2  Soziale Menschenrechte
2.1  Begriff und historische Entwicklung
Zwei Hinweise sind vorab wichtig: Erstens wird die Geschichte der Menschenrechte gemeinhin in zwei Zeitalter aufgeteilt, in die Entwicklungsphase vor der Gründung der Vereinten Nationen und in die Zeit danach. Zweitens gibt es nicht den einzig wahren Begriff der Menschenrechte. Nach wie vor werden über Idee und Konzept der Menschenrechte lebhafte Debatten geführt. Bestehende Menschenrechte werden in neuen Abkommen für bestimmte Gruppen spezifiziert, es entstehen neue Instrumente der Überwachung und einzelne Normen werden weiterentwickelt und präzisiert. Die Menschenrechte als Teil des Völkerrechts müssen also als ein offenes Konzept verstanden werden. Dies zeigt sich gerade auch mit Blick auf die sozialen Menschenrechte. Ihr Ursprung liegt in der Antike und fand mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Virginia Declaration of Rights von 1776, und der Französischen Revolution mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, der Déclaration des Droits de l’homme et du Citoyen von 1789, ihre ersten Höhepunkte.12 Die „stille Revolution“ (Menke/Pollmann 2007: 26) hin zum modernen Menschenrechtssystem, das Ausgangspunkt dieser Arbeit ist, entstand jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zuge der Gründung der Vereinten Nationen und mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) im Jahr 1948 wurden die Menschenrechte Teil internationalen Rechts. Insbesondere die AEMR war eine eindrucksvolle Antwort auf die durch das Nazi-Regime begangenen „Akte der Barbarei“, wie es in der Erklärung heißt, und auf die weltweite Verwüstung, die durch den Zweiten Weltkrieg entstanden war. Der bekannte Völkerrechtler Christian Tomuschat bezeichnete diesen Zeitpunkt daher auch als „kopernikanische Wende des Völkerrechts“ (2002: 14). Die historische Entwicklung der Menschenrechte in ihrer sozialen Dimension soll an dieser Stelle allerdings nur in Ansätzen, insbesondere im Hinblick auf die Entstehung gängiger Systematisierungen, erläutert werden. Doch zur begrifflichen Klärung zunächst einige Schritte zurück: Rechte sind gerechtfertigte bzw. rechtfertigbare Ansprüche von Person(en) X, den Trägern des Rechts, gegenüber Person(en) Y, den Adressaten des Rechts, auf der Basis von Rechtsgründen (Gosepath 1998: 148). Wenn hier von Rechten gesprochen wird, dann sind subjektive Rechte gemeint, also Rechte, die Subjekte haben. In ihrem ursprünglichen Verständnis sind Menschenrechte moralische Rechte, es sind also moralisch begründete Ansprüche; der Rechtsgrund ist ein moralischer. Dem gegenüber stehen legale Rechte, die innerhalb eines Staates verliehene, einklagbare Ansprüche sind und „deren Verletzung mit staatlichen Zwangsmitteln sanktioniert werden“ (ebd.). Der deutsche Philosoph Georg Lohmann bezeichnet die Menschenrechte als komplexe Rechte. Demnach haben sie seiner Meinung nach nicht nur eine moralische Dimension, sondern sie entfalten erst als „politisch gesatzte, juridische Rechte ihre volle Bedeutung“ (2000b: 354). Prägnant auf den Punkt gebracht stehen die Menschenrechte zwischen einer moralischen Idealisierung und einer politisch ausgehandelten, rechtlichen Institutionalisierung (Lohmann 2000a: 9). Ähnlich sieht das auch Jürgen Habermas, der von einem Janusgesicht der Menschenrechte spricht, „das gleichzeitig der Moral und dem Recht zugewandt ist“ (1999: 391). Als moralische Rechte, so wieder Georg Lohmann, verpflichten die Menschenrechte „zunächst alle einzeln, und wenn alle einzeln diese Verpflichtungen nicht angemessen erfüllen können, dann alle gemeinsam“ (2009: 47).13 Die „gemeinsame Verpflichtung“ bedeutet letztlich die Forderung, gemeinsame Institutionen zu schaffen, welche die aus den Menschenrechten entstehenden Pflichten erfüllen können. Menschenrechte als Teilkategorie der Moral müssen also entsprechend verrechtlicht, „d. h. in juridische, einklagbare Rechte transformiert werden“ (ebd.: 46). Auf diesem Wege werden alle, „die für die an einem Ort herrschende öffentliche Ordnung verantwortlich sind, also Politik und Staat“ (Menke/Pollmann 2007: 30), zum Adressaten menschenrechtlicher Forderungen. Rechtsverletzungen unter Privatpersonen fallen in der Regel nicht unter den Begriff Menschenrechtsverletzung. Nur in Ausnahmefällen, „wenn ein direkter Zusammenhang zwischen dieser individuellen, privaten Verletzung und schwerwiegenden strukturellen Defiziten der herrschenden öffentlichen Ordnung besteht“ (ebd.: 29), ist die Sphäre der Menschenrechte berührt. Eine Begriffsbestimmung der sozialen Menschenrechte kommt nicht ohne einen Verweis auf die historischen Entwicklungsstufen aus. Eine gängige Einteilung geht von drei mutmaßlich in historischer Abfolge entstandenen Kategorien oder auch Klassen von Menschenrechten aus: den negativen Freiheitsrechten, den positiven Teilnahmerechten und den sozialen Teilhaberechten (vgl. Lohmann 1998, 2012). Thomas H. Marshall (1992) hat in seinem berühmten Aufsatz über Bürgerrechte und soziale Klassen von 1949 ähnliche Kategorien identifiziert und eine historische Abfolge beschrieben. Obwohl er die Menschenrechte nicht direkt erwähnt, wurden diese Entwicklungsstufen vielfach auf die Entstehungsgeschichte der Menschenrechte übertragen. Demnach entstanden die klassischen Freiheitsrechte im 18. Jahrhundert, die politischen Rechte im 19. und die sozialen Teilhaberechte im 20. Jahrhundert. Denkt man beispielsweise an die Einführung der Bismarck’schen Sozialreformen in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts, die deutlich vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts stattfanden, wird deutlich, dass Marshalls Zuordnung bei genauem Blick grob ausfällt – insbesondere, wenn man von Menschen- oder Grundrechten ausgeht. Doch auch wenn eine klar trennbare Abfolge nicht haltbar ist, verdeutlicht diese Darstellung, dass sich die Entwicklung der Menschenrechte hin zum modernen Menschenrechtssystem in Form internationalen Rechts in gewissen Schüben vollzogen hat. 2.2  Begründung sozialer Menschenrechte
Mit der Frage der Begründbarkeit sozialer Menschenrechte haben sich bisher nur wenige Autoren explizit befasst.14 Hervorzuheben ist der Philosoph Stefan Gosepath (1998, 2001), dessen Ansatz durch seine klare Struktur besticht. Er konzipiert drei alternative Begründungsstrategien sozialer Menschenrechte. Ihm zufolge liegt allen drei Auffassungen – der Auffassung von Freiheit, der Auffassung von Bedürfnissen und der Auffassung von Gleichverteilung – soziale Gerechtigkeit als basale Leitidee zugrunde: Gosepaths Auffassung von Freiheit als erste Begründungsstrategie respektiert den gleichen Anspruch eines jeden auf Freiheit. Soziale Menschenrechte sind nötig, um persönliche und politische Autonomie und gleiche Nutzungschancen von Freiheitsrechten zu ermöglichen (Gosepath 1998: 159). Die sozialen Rechte fungieren also als eine Art „Steigbügel“ für die bürgerlich-politischen Menschenrechte. Diese Sichtweise scheint den ersteren keinen eigenen Wert zuzusprechen, sie scheinen nur ein Mittel zur Realisierung der Freiheitsrechte zu sein. Positiver formuliert können die sozialen Rechte auch basaler als Freiheitsrechte angesehen werden. Ausgeführt wurde das Argument bezüglich sozialer Grundrechte bereits von Robert Alexy. Er unterscheidet in Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenförde zwischen rechtlicher und faktischer Freiheit. Ohne faktische (wirkliche, reale) Freiheit – also der tatsächlichen Möglichkeit, zwischen dem Erlaubten zu wählen – sei die rechtliche Freiheit wertlos (Alexy 1994: 458). Sie wird dann für viele zur „leeren Formel“ (Böckenförde 2006: 234) – eine Verbindung, die bereits Lorenz von Stein erkannt hat: „Die Freiheit ist eine wirkliche erst in dem, der die Bedingungen derselben, den Besitz der materiellen und geistigen Güter, als die Voraussetzung der Selbstbestimmung, besitzt“ (zit. nach Böckenförde 2006: 234). In der Gedankenfolge von John Rawls (1979) kann auch von der Gewährleistung des fairen Werts der Freiheit gesprochen werden (vgl. Gosepath 2004a: 304–308). Manche Autoren bezeichnen, basierend auf dieser Argumentation, alle Menschenrechte als Freiheitsrechte.15 Diese Sichtweise kann wiederum in Zusammenhang mit den von Franklin D. Roosevelt 1941 in seiner Rede zur Lage der Nation formulierten vier Freiheiten, den Four Freedoms of Speech, of Worship, from Want and from Fear – der Rede- und Religionsfreiheit sowie der Freiheit von Not und von Furcht –, gelesen werden, die der Entstehung der AEMR zugrunde lagen. Der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio fokussiert bei seiner Beschreibung der Entwicklung der Menschenrechte ebenfalls auf den Begriff der Freiheit: auf die Freiheit vom Staat, auf die Freiheit im Staat bis hin zur Freiheit durch oder mithilfe des Staates (2007: 16). Stefan Gosepath kritisiert diesen Ansatz dahingehend, dass negative und positive Freiheit nicht willkürlich zusammengefasst werden könnten. Er fragt dabei mit Recht, ob jede Abwesenheit von etwas auch gleich eine Freiheit ist. Nicht nur bei sozialen Rechten, sondern auch in Bezug auf das „klassische“ Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sei der Begriff „Sicherheit“ das sinnvollere Vokabular (2004a: 300). Auch weist er darauf hin, dass nicht Freiheit das oberste Ziel der Menschenrechte sei, sondern die Sicherung gleicher Autonomie (ebd.: 314 f.). Freiheit müsse dabei als Bedingung für ein selbstbestimmtes Handeln in Freiheit gesehen werden. Autonomie wiederum könne „gleichermaßen durch einen Mangel an Freiheit wie durch einen Mangel an guten...


Ingo Stamm ist Sozialpädagoge und Sozialwissenschaftler. Er ist Absolvent des Masterstudiengangs 'Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession' in Berlin und hat im Fach Soziologie an der Universität Siegen und an der finnischen University of Jyväskylä promoviert. Neben den Themen Arbeitslosigkeit und Armut beschäftigt er sich intensiv mit zivilgesellschaftlicher Menschenrechtsarbeit. Sein praktischer Arbeitsschwerpunkt liegt derzeit im Bereich der internationalen Sozialen Arbeit. Daneben ist er an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Bereich Rekonstruktive Soziale Arbeit als Lehrbeauftragter tätig.



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