E-Book, Deutsch, 153 Seiten
Reihe: Standards der Psychotherapie
Stangier Verhaltensexperimente
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8444-3113-1
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 153 Seiten
Reihe: Standards der Psychotherapie
ISBN: 978-3-8444-3113-1
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verhaltensexperimente sind eine der wirkungsvollsten Interventionsmethoden in der kognitiven Therapie. Zentrales Prinzip ist die Kombination von Erfahrungs- und Einsichtslernen: Es geht darum, Überzeugungen in realen Situationen zu überprüfen, um anschließend die erwarteten und beobachteten Auswirkungen in der Therapie zu reflektieren. Der Band liefert einen Leitfaden zur Planung und Durchführung von Verhaltensexperimenten und schließt damit eine Lücke im deutschsprachigen Raum.
Der Band schildert das praktische Vorgehen in der Therapie und gibt Anregungen, wie Verhaltensexperimente in den Behandlungsprozess eingebettet werden können. Von besonderer Bedeutung ist die Vorbereitung von Verhaltensexperimenten. Sie dient nicht nur der Motivierung, sondern soll auch helfen, möglichen Verzerrungen durch ungünstige Verarbeitungsweisen und Sicherheitsverhalten vorzubeugen, um eine möglichst unverfälschte Sichtweise der Erfahrung zu ermöglichen. Das Buch stellt Verhaltensexperimente anhand exemplarischer Fallvignetten für eine Vielzahl von Störungen und Problembereichen vor, unter anderem für Grübeln, Angst vor Ablehnung, negatives Selbstwertgefühl, Hoffnungslosigkeit, Angst vor Peinlichkeit, Kontrollverlusterleben, Fehlinterpretation von Körpersymptomen, exzessives Kontrollstreben, negative Zukunftserwartungen, Wiedererleben bei Traumatisierung, eingebildete Hässlichkeit, paranoides Denken und maladaptive positive Affekte.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeut_innen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen, Fachärzt_innen für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinische Psycholog_innen, Psychologische Berater_innen, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
|3|1 Beschreibung der Methode
1.1 Definition
Experimente dienen in der Wissenschaft dem Nachweis, ob Hypothesen zutreffen. Ein Experiment ist ein Versuch, durch den eine Hypothese bestätigt oder widerlegt werden soll. Nicht anders ist die Definition von Verhaltensexperimenten. Aus den individuellen Überzeugungen werden Erwartungen für bestimmte Situationen abgeleitet, die durch Beobachtungen oder Handlungen in der Lebensrealität gezielt überprüft werden. Stimmen die empirischen Beobachtungen mit der Überzeugung überein, dann unterstützt dies den Wahrheitsgehalt der Überzeugung; stimmen sie nicht überein, ist die Überzeugung zu revidieren. Im philosophischen Sinn entstammen Verhaltensexperimente dem Empirismus: Beobachtung und Erfahrung geben uns Auskunft darüber, ob eine Überzeugung bzw. Erkenntnis gerechtfertigt ist. Verhalten ist Mittel zum Zweck: Bestimmte Handlungen werden ausgeführt, um anhand der Auswirkungen gezielt Informationen zu sammeln, die für die Überzeugung relevant sind, dafür bzw. dagegen sprechen. Verhaltensexperimente zählen somit zu den Verfahren der kognitiven Umstrukturierung: Sie zielen darauf ab, durch Erfahrungen, d.?h. durch Experimentieren, Überzeugungen zu verändern, die Leiden verursachen. Definition Verhaltensexperimente sind „geplante erlebnisorientierte Aktivitäten, die auf Experimentieren oder Beobachtung basieren“ (Bennett-Levy et al., 2004, S. 8; Übers. vom Autor). Diese leiten sich unmittelbar aus dem Erklärungsmodell des Problems ab und zielen darauf, neue Erfahrungen zu sammeln, die zur Überprüfung und Modifikation bestehender Überzeugungen der Patient:innen beitragen. Nicht immer sind jedoch aus Überzeugungen klare Hypothesen abzuleiten, zum Beispiel, weil Erfahrungen aufgrund von Vermeidung der Situation fehlen oder nur vage Überzeugungen formuliert werden können. In diesem Fall sind Verhaltensexperimente nicht auf die Testung von Hypothesen ausgerichtet, sondern auf die Beobachtung von Reaktionen oder dem Entdecken von |4|Zusammenhängen. Offene Verhaltensexperimente dienen somit dem Ziel, neue Erfahrungen zu sammeln und hieraus Erkenntnisse abzuleiten. Dieser zweite Typ von Verhaltensexperiment ist somit stärker an Erfahrungslernen und Persönlichkeitsentwicklung orientiert. Fallbeispiel Eine Patientin mit chronischer Depression hatte die Überzeugung, dass andere Menschen sie als egoistisch ablehnen würden, wenn sie eigene Interessen äußern würde. Sie fühlte sich deshalb sehr verletzlich und vermied es, offen für ihre persönlichen Rechte einzutreten. Mit einer Nachbarin, die sie an sich sympathisch fand, gab es einen Anlass, der eine Kette von negativen Gedanken zur Folge hatte. Eines Tages stand auf dem Flur vor der Wohnung ein kleiner Tisch, der sie störte. Sie empfand dies als rücksichtslos und stellte den Tisch in den Keller. Tagelang grübelte sie über die mögliche Reaktion der Nachbarin und vermutete, dass diese wegen der „eigenmächtigen“ Beseitigung des Tischs wütend auf sie sei. In der Therapie wurde herausgearbeitet, dass diese Situation typisch für die großen Belastungen sei, die zwischenmenschliche Konfliktsituationen in ihrem Leben haben, und dass sie sich grundsätzlich eine selbstbewusstere Klärung solcher Probleme wünschen würde. Jedoch war sie der festen Überzeugung, dass sie sich den Angriffen der Nachbarin aussetzen würde, wenn sie sie darauf ansprechen würde. Andererseits konnte sie nachvollziehen, dass die Kette von negativen Erwartungen im Widerspruch zu ihrem ansonsten positiven Eindruck der Nachbarin stand. Auf dieser Grundlage wurde die alternative Interpretation entwickelt, dass die Nachbarin den Tisch nur vorübergehend rausgestellt hatte, um ihn abzutransportieren. Sie willigte in ein Verhaltensexperiment ein, in dem sie die Nachbarin auf den Tisch ansprechen und ihr mitteilen wollte, dass sie selbst den Tisch weggestellt hatte, weil dieser sie gestört hatte. Ihre Erwartung war, dass die Nachbarin sehr ärgerlich reagieren und ihr Verhalten unverschämt finden würde. Obwohl sie eine fast unerträgliche Spannung empfand, setzte sie am nächsten Tag das Verhaltensexperiment um. Zu Ihrer Überraschung reagierte die Nachbarin verständnisvoll; sie entschuldigte sich und erzählte, dass ihre Tochter den Tisch rausgestellt hatte, um diesen in ihre Wohnung mitzunehmen. Die Patientin war sehr erleichtert, und es entwickelte sich noch ein angeregtes Gespräch über die beruflichen Pläne der Tochter. In der nächsten Therapiesitzung wurde dieses unerwartete Ergebnis analysiert. Die Patientin fand die Erfahrung hilfreich, um die Erwartung von Ablehnung durch andere zukünftig mehr infrage zu stellen und davon auszugehen, dass sie zwischenmenschliche Konflikte besser lösen kann, als sie bislang glaubte. |5|Das Beispiel verdeutlicht einige Merkmale von Verhaltensexperimenten. Begründung in einem Erklärungsmodell: Vorhersagen beruhen auf Annahmen, wie Kontext, Erleben und Handlungen zusammenhängen. Ohne Bezug zu einem individuellen Erklärungsmodell des Problems würden die Ergebnisse für Patient:innen möglicherweise keine persönliche Relevanz haben. Zum Beispiel ist es für die Patientin aus dem Fallbeispiel weniger relevant, herauszufinden, ob sie peinlich wirkt, wenn sie im Gespräch nicht die richtigen Worte finden sollte. Planung: Handlungen werden vorher so festgelegt, dass Zusammenhänge überprüfbar werden. Bei der Planung ist auch zu berücksichtigen, nach welchen Kriterien die Ergebnisse eindeutig interpretiert werden können. Dies ist weder bei spontanen Handlungen gewährleistet noch bei nachträglicher Umbewertung von Handlungen in Verhaltensexperimente. Zufällig von der Tochter der Nachbarin zu erfahren, dass sie den Tisch weggestellt hatte, wird nicht helfen, die Erwartung von Ablehnung zu überprüfen. Erfahrung: Die Überprüfung von Annahmen anhand realer Erfahrungen ist mit einer höheren Evidenz verbunden als die rationale Analyse. Allerdings kann der Erkenntnisgewinn durch Verzerrungen in der Wahrnehmung und Verarbeitung der Erfahrung beeinträchtigt werden. Würde sich die Patientin auf ihre Anspannung oder Erinnerungen an vergangene Konflikte konzentrieren, würde die Interaktion negativer wahrgenommen. Deshalb sind Verhaltensexperimente auch mit dem Einüben angemessener Verarbeitung in der Situation verbunden. Reflexion: Auch die Schlussfolgerungen aus einer Erfahrung sind von Verarbeitungsprozessen beeinflusst. Nachträgliche Umbewertungen können dazu führen, dass Erfahrungen verzerrt interpretiert werden, zum Beispiel als mehrdeutig oder nicht relevant, oder neue Kriterien für die Beurteilung herangezogen werden. Zum Beispiel könnte die Patientin im Nachhinein die Ehrlichkeit der Nachbarin in Zweifel ziehen und annehmen, dass diese sich nur verstellt hat, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Aus diesen Gründen ist in der Anfangsphase der Therapie die Einbettung in den Therapieprozess und die Begleitung durch die:den Therapeut:in notwendig, um Probleme bei der Umsetzung von Verhaltensexperimenten zu vermeiden. 1.2 Abgrenzung von anderen Methoden
Verhaltensexperimente wurden explizit erstmalig von Beck, Rush, Shaw und Emery (1979, S. 56) in dem grundlegenden Therapiemanual zur kognitiven Therapie der Depression beschrieben. Mit dem Ziel, Überzeugungen anhand |6|der Realität zu überprüfen, stellen Verhaltensexperimente eine wichtige Erweiterung der verbalen Methoden zur kognitiven Umstrukturierung, insbesondere des Sokratischen Dialogs, dar (vgl. Abbildung 1). Im Sokratischen Dialog versucht der:die Therapeut:in durch...