E-Book, Deutsch, 324 Seiten
Staufenbiel Die reissende Zeit und die Stille
2. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-99632-8
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hölderlin und Zenmeister Dogen im Garten der Stille
E-Book, Deutsch, 324 Seiten
ISBN: 978-3-347-99632-8
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es gibt Zeiten im Leben, in denen scheinbar alles zerbricht und es keinen Ausweg aus dem Irrsal mehr zu geben scheint. Entweder verfällt man in eine tatenlose Depression oder in ein rasendes hektisches Machen. Aber oft ist der Schritt zurück in die Stille der einzige Weg, der neue Kraft und Zuversicht verleihen kann. Aus den praktischen Erfahrungen der Zen-Künste wie Teezeremonie, Zen-Meditation oder der Zen-Shakuhachi heraus wird ein Dialog zwischen Ost und West geführt. Im Zentrum der Untersuchung steht die Vergänglichkeit aller Dinge aus der Sicht des Abendlandes und des Buddhismus, insbesondere Japan. Herausragende Vertreter von Ost und West sind Hölderlin und Zenmeister D?gen. Die Texte werden allgemeinverständlich interpretiert. Beispiele aus dem Zenweg der Teezeremonie verdeutlichen die Philosophie Japans.
Der Autor blickt auf eine Jahrzehnte lange Erfahrung als Philosophie Dozent zurück. Aber auch die japanischen Übungswege des Zen, der Teezeremonie haben sein Denken geprägt. Langjähriger Lehrer, Gründer und Leiter des My?shin An, D?j?s für Zenkünste und der Zen Shakuhachi . Er ist Verfasser einer ganzen Reihe von Büchern über die Zenkünste, Hölderlin und Zenmeister D?gen, die immer aus dem Dialog zwischen dem Abendland und dem fernen Osten geprägt sind. Sein Bemühen gilt dem Dialog zwischen dem abendländischen Denken und dem Denken und der Praxis des japanischen Zen und des chinesischen Denkens im Daoismus.
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Hölderlin: Die reißende Zeit Das Wort von der reißenden Zeit entstammt Hölderlins Gesang ‚Der Archipelagos‘. In einem Gespräch mit D. E. Sattler, dem Herausgeber der großen Frankfurter Hölderlin Ausgabe, sagte Sattler mir einmal, ‚Der Archipelagos‘ habe lediglich ein rein historisches Thema. Zwar spricht Hölderlin in diesem Gesang vom historischen Untergang des antiken Griechenland. Aber damit verbunden ist das Verschwinden des Heiligen, die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen und die Erfahrung des Fehls,6 wie Hölderlin sagt. Das ist keineswegs nur ein historisches Thema, es spiegelt die individuelle Erfahrung eines jeden Menschen, dass einstmals große Zeiten zerbrechen und nur noch die Trümmer übrig bleiben. Im Gesang über das Griechenmeer spricht Hölderlin in historischen Dimensionen. Die alte Kultur Griechenlands ist vergangen. Was bleibt, sind nur noch Erinnerungen wie Träume an die einstige Größe. Aber es ist der Traum, dass nun, die deutsche Kultur und das deutsche Geistesleben aus dem Geist des Griechentums wieder neu erwachen werden. Diese Hoffnung betraf damals nicht nur das Individuum Hölderlin, sondern eine ganze Generation. Es ist ein ganz persönliches Leiden und Hoffen, das nicht nur intellektuell erlebt wird. Es ist die Hoffnung, dass es künftig wieder ‚Menschen‘ geben würde, in einer unmenschlich gewordenen Zeit. Wie sagte Hyperion von den Deutschen? (Sie sind) Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarisch geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls. Handwerker siehst du aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen. Es ist nicht die Rede von einem individuellen Geschick, sondern vom geschichtlichen Geschick des Abendlandes. Aber geschichtliche Ereignisse prägen immer auch das individuelle Leben. Wir sind keine geschichtslosen Wesen. Die jeweilige Epoche prägt das Geschick ganzer Generationen. So ist das allgemeine Geschick immer auch ein individuelles. Ja, vielleicht ist es sogar umgekehrt: Wir erfahren immer zuerst unser Individuelles und erkennen erst danach, dass wir in einem Allgemeinen verwurzelt sind. Die Apriorität des Individuellen In einem fragmentarischen Gedichtentwurf 'Vom Abgrund nämlich haben wir angefangen' steht ganz oben auf der Seite wie ein Motto oder eine Überschrift der Satz: Die Apriorität des Individuellen über das Ganze 7 Das Wort von der Apriorität stammt aus der Philosophie Kants. Das Apriori ist dasjenige, das jeder Erfahrung vorausgeht. Der Gedanke der Kausalität etwa ist laut Kant nicht aus der Beobachtung abgeleitet, er entstammt der Struktur des Denkens selbst. Die Apriorität des Individuellen über das Ganze heißt, dass zunächst jedes Individuum für sich persönlich sich selbst erfährt. Erst dann kann aus dieser Erfahrung des Individuellen das Allgemeine oder das Ganze gewonnen werden. Die sinnliche Erfahrung des Individuums in seinem persönlichen Umfeld lässt später die Erkenntnis reifen, dass das Individuelle eingebettet ist in das Ganze. Mein persönliches Schicksal ist zugleich das Schicksal des Volkes, der Nation, der Epoche. Viele oder sogar alle Individuen einer Epoche haben ein gleiches oder ähnliches Schicksal. Mein individuelles Schicksal ist nicht unabhängig von dem Land oder der Zeit, in die ich hineingeboren werde. Aber als Erstes erfahre ich mein ganz persönliches Schicksal, erst später lerne ich, dass eine ganze Generation, oder wie die Soziologie sagt, eine Kohorte, Ähnliches erlebt oder erleidet. Das Erste ist immer das eigene Erleben. Geschichte kann nur verstanden werden aus dem eigenen Erleben, dem eigenen Erleiden oder dem individuellen Glück. In einem Papier, das man als den Systementwurf des deutschen Idealismus8 bezeichnet und in dem viele Ideen Hölderlins enthalten sind, heißt es: Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen. Weder Gott noch die Unsterblichkeit sind außerhalb des Menschen zu suchen. Gott ist nach diesem Papier nicht etwas außerhalb von uns selbst, er entspringt der absoluten Freiheit der Geister, der denkenden und fühlenden Wesen. In feuriger Rede fährt das Papier fort, dass ohne die Idee der Schönheit und ohne Ästhetik kein wirkliches Denken möglich ist. Ästhetik ist dabei nicht die Lehre von der Schönheit und den ästhetischen Gesetzen. Das Wort ist im ursprünglich griechischen Sinne gemeint und gedacht. Aisthesis a?s??s?? ist die sinnliche Wahrnehmung. Schönheit ist das Erscheinen der Dinge in ihrem eigenen Licht der Wahrnehmung. Ohne die Sinne kann nichts erscheinen. Deshalb ist die Sinnlichkeit zugleich die Schönheit, die Ästhetik. Erst im modernen Denken misstraut man der sinnlichen Wahrnehmung, die auch täuschen kann. Aber ohne sinnliche Wahrnehmung gibt es für uns keine Welt. Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die ‚Buchstabenphilosophen‘ denken nur aus dem Verstand ohne sinnliche Erfahrung. Die neue Philosophie, die in diesem Papier deklariert wird, darf und kann nicht ohne sinnliche Erfahrung sein. Die unmittelbare sinnliche Erfahrung enthält nicht nur sinnliche Wahrnehmungen wie Hören oder Sehen. Sinnliche Erfahrung kann nicht sein ohne Empfindungen wie Freude, Wohlbefinden oder Kummer und Schmerz. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis des Allgemeinen und Ganzen. In der modernen Hirnforschung wurden durch einen Zufall die Spiegelneuronen entdeckt. Der Italiener Giacomo Rizzolatti und seine Mitarbeiter entdeckten bei einem Schimpansen, dass bestimmte Hirnregionen so auf äußere Reize reagieren, als würde der Affe selbst die Tätigkeit ausführen. Die Hirnregion, die für das Ergreifen von Erdnüssen zuständig war, reagierte auch, wenn einer der Mitarbeiter eine Erdnuss nahm. Die Reaktion trat sogar dann auf, wenn der Affe das Geräusch von geöffneten Erdnüssen hörte. Auch wir Menschen reagieren auf Handlungen oder sogar nur auf Gesichtsausdrücke von Anderen, indem wir die Empfindungen der Anderen in uns selbst spüren. Wenn andere Kleinkinder weinen, reagieren Säuglinge, indem sie selbst in Weinen ausbrechen. Wenn wir bei stürmischem Wetter auf einem Schiff fahren und sehen, wie es anderen Mitreisenden übel wird, stellt sich fast sicher bei uns selbst ebenfalls die Übelkeit ein. Sogar, wenn wir von traurigen Ereignissen nur hören oder lesen, empfinden wir Trauer in uns selbst. Darum weinen so viele Menschen bei traurigen Filmen. Für Aristoteles leitet dieses Mit-Leiden eine Katharsis, eine Reinigung ein, die unser eigenes Leiden lösen kann. Das Mit-Leiden muss aber so sein, dass die Katastrophe auf der Bühne unabwendbar ist und dass wir in eben derselben Situation auch nicht anders handeln könnten. Die Situation des Oidipus, der seine eigene Mutter heiratet, ohne es zu wissen, ist auch ein allgemeines Schicksal, mindestens der Möglichkeit nach. Wenn das Schicksal der Leidenden auf der Bühne dergestalt ist, dass der Zuschauer sagt: 'Das geschieht ihm recht!', dann stellt sich nur ‚Philanthropie‘, Menschenliebe‘ aber keine Katharsis ein.8a Weil wir selbst empfindende Wesen sind, können wir in Anderen deren Empfindungen nachvollziehen. Zugleich üben wir unser Mitgefühl mit Anderen und uns selbst, wenn wir fremden Ereignissen in uns selbst nachspüren. Wenn darum im Folgenden oft von Geschichtlichem die Rede ist, dann kann die Geschichte nur verstanden werden aus dem eigenen sinnlichen Erleben. Umgekehrt kann auch die Geschichte das eigene Empfinden und die eigene sinnliche Erfahrung deuten helfen, indem unser eigenes Empfinden in einen größeren Zusammenhang gestellt wird. Hyperions Schicksalslied In Hölderlins Briefroman Hyperion findet sich das berühmte Schicksalslied, in dem die Vergänglichkeit des Menschen beklagt wird. Ihr wandelt droben im Licht Auf weichem Boden, selige Genien! Glänzende Götterlüfte Rühren euch leicht, Wie die Finger der Künstlerin Heilige Saiten. Schicksallos, wie der schlafende Säugling, atmen die Himmlischen; Keusch bewahrt In bescheidener Knospe, Blühet ewig Ihnen der Geist, Und die seligen Augen Blicken in stiller Ewiger Klarheit. Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte...