E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Leben auf Sicht
Stollenwerk Schwarzweißbuch Milch
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7017-4597-5
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Leben auf Sicht
ISBN: 978-3-7017-4597-5
Verlag: Residenz
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01 Milchgeschichte
Über laktoseintolerante Jäger und Sammler
Irgendwann Mitte der 1970er Jahre arbeitete der junge Archäologe Peter Bogucki an einer Ausgrabung in Zentralpolen. Dort stießen er und seine Kollegen auf Tonkrüge, deren Entstehen sie auf einen Zeitraum vor zirka sieben Jahrtausenden datierten. Die Menschen, in deren Haushalt die Gefäße damals verwendet worden waren, mussten zu den ersten sesshaften Bauern der Region gehört haben. Manche der Tongefäße waren von kleinen Löchern übersät, so als hätte man sie vor dem Brennen im Feuer mit Ästen oder Strohhalmen durchlöchert. Darauf konnte sich Bogucki keinen Reim machen. Der Archäologe, der heute an der Princeton University lehrt, stöberte in der Fachliteratur nach vergleichbaren Funden und stieß schließlich auf ganz ähnliche Objekte. Allerdings waren die nicht Jahrtausende alt, sondern teilweise sogar neuzeitlichen Ursprungs. Verwendung fanden sie beim Abseihen von frischem Käse. Bogucki entwickelte die These, dass auch die Tonscherben aus der polnischen Ausgrabung die Reste einer steinzeitlichen Käsemanufaktur sein könnten. Im Jahr 2011, fast vierzig Jahre nachdem sie aus polnischer Erde geborgen worden waren, widmete sich die Geochemikerin Mélanie Roffet-Salque an der Universität im südenglischen Bristol den Objekten aus der Ausgrabung. Und tatsächlich: Sie fand auf den Tonfragmenten Rückstände von Milchfetten. Das stützte Boguckis These. Die Gefäße dürften als Käsesiebe verwendet worden sein, um feste und flüssige Milchbestandteile voneinander zu trennen. Das macht die polnischen Fundstücke zu einem spektakulären Fund. Sie sind der älteste jemals gefundene Beleg für die Herstellung von Käse weltweit.1 Der moderne Mensch blickt bekanntlich zurück auf eine Ahnengeschichte von Jägern und Sammlern. Beeren, Nüsse, Früchte und Insekten sammeln, gelegentlich Tiere erlegen – das garantierte unseren Vorfahren das Überleben. Und ihre Nahrung wurde dadurch fast automatisch ausgewogen und saisonal. Erst als Menschen sesshaft wurden und dort blieben, wo Weizengräser und andere Pflanzen gediehen, von denen man sich mehr oder weniger bequem ernähren konnte, endete die lange Geschichte des reinen Jagens und Sammelns. Heute gilt dieser Schritt in der Entwicklungsgeschichte des modernen Menschen als Grundbedingung für das Entstehen von Gesellschaften und von dem, was man als Hochkultur bezeichnet. Für die Ernährung der frühen Agrargesellschaften war die Sesshaftigkeit dabei gar nicht unbedingt nur der gewaltige Fortschritt, als der sie im Rückblick erscheinen mag. Denn die bäuerliche Ernährung war viel weniger ausgewogen, weniger vielseitig und weniger krisenbeständig als die Ernährung der Jäger und Sammler. Milch spielte für die frühen Bauern in vielen Regionen eine große Rolle. Denn anders als für umherziehende Jäger und Sammler, die ihren Nahrungsquellen folgten, standen die Nahrungsquellen sesshafter Bauern schlicht auf Feld und Weide. Wie praktisch und bequem. Diese neu gewonnene agrarische Bequemlichkeit der Pioniergenerationen menschlicher Sesshaftigkeit führt heute zu der Frage, ob es überhaupt wirklich die Menschen waren, die Pflanzen und Tiere domestizierten, oder ob es nicht eher Pflanzen und Tiere waren, die den Menschen domestizierten, indem sie ihn abhängig machten. Eine schwer lösbare Frage. Was jedoch als gesichert gilt: Mit der landwirtschaftlichen Revolution vor ungefähr 20 000 bis 12 000 Jahren, übrigens noch während der letzten Eiszeit, begannen Menschen im Vorderen Orient nach und nach die Kontrolle über die Quellen ihrer Nahrungsmittel zu gewinnen. Durch Anbau und Pflege von Pflanzen, durch Kultivierung von Böden und durch die Zucht von Haustieren, die Fleisch, Dünger für die Felder und Milch lieferten. Das waren vor allem Schafe und Ziegen sowie der eurasische Auerochse, der in seiner domestizierten Form zum Hausrind wurde. Für jenen Wandel von der wildbeuterischen zur sesshaften und bäuerlichen Lebensweise prägte Vere Gordon Childe, ein britischer Theoretiker der marxistischen Archäologie, im Jahr 1936 einen Begriff, der sich rasch durchsetzte. Neolithische Revolution nannte er den Wandel, der auch den Beginn jener Zeit markiert, die heute als Neolithikum oder als Jungsteinzeit bezeichnet wird.2 Es war allerdings alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass sich Milch auf dem Speiseplan der frühen Bäuerinnen und Bauern der Jungsteinzeit fand. Schließlich ist die Milch von Tieren zunächst einmal die Muttermilch für deren Nachkommen, nicht für beliebige Tiere, zum Beispiel den Menschen. Noch als die letzte Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren endete, war Milch für erwachsene Menschen Gift. Denn ihr ausgewachsener Körper war nicht zur Bildung von Laktase fähig. Das Enzym ist zur Aufspaltung des Milchzuckers Laktose nötig. Ein Organismus, der Milchzucker nicht aufspalten kann, kann ihn nicht verdauen. Als erste Homo sapiens am Ende des letzten Glazials von der wildbeuterischen Lebensweise zu Ackerbau und Viehzucht übergingen, lernten sie, den Laktosegehalt von Milch zu verringern. Durch die Fermentation von Milch zu Käse und Joghurt wurde Milch für sie bekömmlich. Das stellte einen gewaltigen Fortschritt dar, der die Liste an Lebensmitteln, die den sesshaft gewordenen Menschen zur Verfügung standen, deutlich verlängerte. Ein paar Jahrtausende später sorgte ein glücklicher Zufall dafür, dass Milch für die Ernährung von Menschen eine noch einmal gesteigerte Rolle einnehmen konnte. Diese Rolle hat sie in manchen Teilen der Welt bis heute nicht verloren. Bei dem glücklichen Zufall handelte es sich um eine Genmutation. Sie sorgte dafür, dass Menschen auch frische und unverarbeitete Milch zu sich nehmen und verdauen konnten, und zwar nicht nur im Kindes-, sondern bis ins hohe Alter. Diese Milchverträglichkeits-Mutation trat nach heutigem Stand der Forschung zuerst südlich des Plattensees auf, auf der nördlichen Balkanhalbinsel. Anhand des sogenannten MCM6-Gens, das für Milchverträglichkeit sorgt, und des Allels T-13910 lässt sich von Anthropologinnen und Anthropologen mittels genetischer Analysen bis heute nachvollziehen, wie sich die Milchverträglichkeit auf dem Globus ausbreitete.3 Bis heute ist das »Milchverträglichkeitsgen« auf der Erde alles andere als gleichmäßig verteilt. Dass Menschen in den nördlichen Gebieten der Nordhalbkugel häufiger in der Lage sind, Milch als Nahrungsquelle zu nutzen, hängt damit zusammen, dass die vor etwa 7000 Jahren durch besagte Genmutation entwickelte Laktosepersistenz in gemäßigten bis kalten Klimazonen ein sehr vorteilhaftes Selektionsmerkmal im Prozess der menschlichen Evolution darstellte. Als die Mutation erst einmal geschehen war, besiedelten die Menschen, die problemlos Milch verdauen konnten, sehr rasch ganz Nordeuropa. Denn der Umstand, dass frische Milch nun als Nahrungsquelle zur Verfügung stand, sicherte menschlichen Gemeinschaften das Überleben auch dann, wenn eine Ernte mager ausfiel. Schon vor einem Jahrtausend, im europäischen Mittelalter, konnten Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer Frischmilchprodukte dank der genetisch bedingten Laktosepersistenz ähnlich gut verdauen wie die meisten Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer von heute. Das zeigen Untersuchungen an Knochenfunden, die eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus der Schweiz und den USA durchgeführt haben.4 Auch heute ist Milch nicht für alle Menschen gleichermaßen verträglich. Ganz im Gegenteil. Nur 35 Prozent der Weltbevölkerung können Milch über das siebte oder achte Lebensjahr hinaus problemlos verdauen. Beim größten Teil der Weltbevölkerung sorgt unverarbeitete Milch für Durchfall und andere eher unangenehme Beschwerden. Im internationalen Vergleich nimmt die Milchverträglichkeit gen Süden ab. Das bedeutet zum Beispiel, dass jenes Gen, das Milch für Menschen verträglich macht, in Skandinavien sehr viel häufiger auftritt als im südlichen Afrika oder in Asien. Mit anderen Worten: Auch heute noch vertragen die Menschen in jenen Regionen, in denen vor Jahrtausenden die Viehzucht begann, Milch besser als dort, wo sie erst später eine Rolle spielte. In Skandinavien etwa sind rund 80 Prozent der Erwachsenen in der Lage, Milch problemlos zu verdauen. In Teilen Asiens und Afrikas ist teilweise nur ein Prozent der Bevölkerung dazu fähig. Ein großer Teil der Weltbevölkerung verfügt genetisch bedingt nach wie vor nicht über die Möglichkeit, Laktose durch Laktase aufzuspalten und abzubauen. Damit sind sehr viel mehr Menschen laktoseintolerant, als es die paar laktosefreien Spezialprodukte im Milch-Kühlregal europäischer Supermärkte glauben machen. Dort, wo ein Mangel an pflanzlicher Nahrung heute keine bedrohliche Rolle mehr spielt, ist Laktosetoleranz nur noch dann ein Vorteil, wenn keine Milchersatzprodukte angeboten werden. Wo man seinen Cappuccino auch mit Sojamilch bekommt, haben laktosetolerante Milchkaffeetrinker gegenüber ihren laktoseintoleranten Artgenossen keinen Vorteil mehr.5 Es ist kein...