E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Stoytchkova Die aus dem Osten
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-86774-803-2
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Wendekind ins Big Business
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-86774-803-2
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Simona Stoytchkova wuchs mit Eltern und Bruder im geteilten Deutschland im Plattenbau Ostberlins auf. Nach der Wende startete sie im Westen eine außergewöhnliche Karriere. Heute sitzt sie in der Chefetage eines weltweit operierenden Finanzunternehmens. Eine absolute Ausnahme in der Welt der Nadelstreifen – denn Führungskräfte aus dem Osten Deutschlands sind im Westen immer noch eine Seltenheit.
Ihren Weg dorthin beschreibt die Autorin in bestechender Offenheit, vor allem, wie entscheidend ihre ostdeutsche Herkunft war. Heute versteht sie sich als Brückenbauerin zwischen Ost und West und betont die enorme Transformationsleistung, die Ostdeutsche nach der Wende geleistet haben. Ihre Vision: Ein Deutschland, in dem Zuschreibungen wie »Ost« und »West« keine Rolle mehr spielen.
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Zeit für einen Nachmittagssnack: Während ich den selbstgemachten Tunfischsalat esse, scrolle ich wie meistens durch meinen LinkedIn Feed. Ich stoße auf einen Beitrag von Dr. Wiebke Ankersen, die zu meinen weiblichen Vorbildern gehört, weil sie sich als Geschäftsführerin der AllBright Stiftung für Vielfalt und Chancengleichheit einsetzt und das Thema in der Unternehmenswelt lanciert. Ankersen bezieht sich auf einen Artikel aus dem Handelsblatt, der sich der Frage widmete: »Wer gilt heute als vorstandstauglich – und wer nicht?« Demnach hat sich die in DAX-Unternehmen für Vorstandsmitglieder angelegte »Rekrutierungsschablone« seit Jahrzehnten kaum geändert. Zwar weise die »Internationalisierung der Vorstände« eine Tendenz nach oben aus, desgleichen steige der Frauenanteil zwar langsam, so doch kontinuierlich an. Aber: »Durchs Raster fallen weiterhin vor allem Deutsche mit Einwanderungsgeschichte und Ostdeutsche.« 1 Wirklich? Immer noch? Dieselben Ausschlusskriterien, dieselben Auswahlmechanismen, dieselben Hürden, die sich mir von Beginn meiner Karriere an in den Weg stellten? Nein, der zitierte Artikel im Handelsblatt ist nicht zur Abschreckung aus den hintersten Archivwinkeln gezogen worden. Nachzulesen ist er in der Ausgabe vom 7. Februar 2024.2 Wir befinden uns im 34. Jahr nach der Wende, leben zwar in einer Welt voller Veränderung, Unbeständigkeit und Komplexität, halten aber immer noch am Bild des »typischen Vorstands« fest. Wie kann das sein? Welche Vorteile und welchen Nutzen bietet es für Wirtschaft und Unternehmen? Bietet es überhaupt etwas Positives, oder muss man nicht vom genauen Gegenteil ausgehen, dass wir nämlich für die Menge an komplexen Problemen und Polykrisen, die unsere Zeit aufweist, gerade größtmögliche Diversität und heterogene Perspektiven brauchen, um erfolgreiche und nachhaltige Lösungsansätze entwickeln zu können? Die Studie »The Mix That Matters. Innovation through Diversity« der Boston Consulting Group und TU München kam schon 2017 zu einem vielsagenden Ergebnis: Perspektivenvielfalt macht Unternehmen innovativer und kann eine Umsatzsteigerung von bis zu 19 Prozent bedeuten.3 Können wir es uns angesichts solcher Resultate überhaupt noch erlauben, einen nachweislich die Wettbewerbsfähigkeit stärkenden Faktor einfach zu ignorieren? Vorurteile und überkommene Denkweisen zu pflegen, die sich nicht nur für die Wirtschaft, sondern für die gesamte Gesellschaft als Nachteile herausstellen? Ich denke, der gesunde Menschenverstand reicht aus, rasch die Antwort zu finden. Ich stelle meine Salatschüssel beiseite und mache mich auf den Weg zu meinem Kiosk um die Ecke. Zum Glück bekomme ich noch ein Exemplar besagter Handelsblatt-Ausgabe, jogge damit nach Hause, gieße mir ein Glas meines Lieblings-Chardonnays ein und setze mich neben meine purrende Katze auf die Couch. Sofort sticht mir die »Aufstiegsformel« für Vorstände ins Auge, die sich, wie zu lesen ist, aus einer Datenanalyse basierend auf Lebensläufen von DAX-Vorständen und Gesprächen mit Aufsichtsräten und Headhuntern ergibt. Wer möchte sie nicht kennen – die Formel, die zum Erfolg, zum Aufstieg ins Top-Management eines DAX-Konzerns führt? Bei dem Wort »Formel« denke ich sofort an Mathematik und mir fällt das vor einer Ewigkeit gelesene Buch von Ian Stewart wieder ein: Welt-Formeln. 17 mathematische Gleichungen, die Geschichte machten.4 Dort ist von zwei Arten von Gleichungen die Rede, und die »Erfolgsformel« für Vorstände scheint mir zu Gleichungstyp 2 zu gehören, der nach Stewart »Informationen über eine unbekannte Größe« liefert und damit den Mathematiker vor die Aufgabe stellt, »die Gleichung zu lösen, um das Unbekannte bekannt zu machen«.5 Ich fühle mich wie in der Mathevorlesung und beginne die aufgelisteten »Faktoren« der Erfolgsformel, um Vorstand zu werden, nachzulesen, als da wären: Bildung, Berufsstationen, Auslandserfahrung, Netzwerke, Diversität (in Grenzen!) und – so wäre mit Thomas Sauerteig, Vorstand von SAP, zu ergänzen – »ein Quäntchen Glück«. Am Ende muss ich Wiebke Ankersens Fazit daraus zustimmen: Es ist nicht wirklich viel, was sich am altbekannten Status quo geändert hat. Der Artikel selbst findet abschließend zu einer zukunftsfähigen These: »Die Strategien, die die Wirtschaftslenker von heute nach oben gebracht haben, sind wahrscheinlich nicht die, die für die Chefs von morgen gelten.« 6 Immerhin! Es ist auch sehr zu hoffen, denn alles andere wäre schlicht ökonomischer Wahnsinn. Aber wie dorthin kommen? Vorschlag: Indem zum Beispiel Menschen aus dem Osten Deutschlands nicht mehr mit negativen Stereotypen behaftet werden? Und dass stattdessen das Potenzial der Wendekinder in den Vordergrund gerückt wird? Zu Wendezeiten lebten etwa 2,5 Millionen Kinder im Alter von fünf bis 15 Jahren in der ehemaligen DDR.7 Diese Generation zählt zu den wenigen, die einen kompletten Systemwandel durchlebt, also zwei unterschiedliche Systeme erlebt haben und davon in ihrer Entwicklung stark geprägt wurden. In kürzester Zeit mussten Wendekinder alles, womit sie aufgewachsen waren und was sie bis dahin kannten, ablegen und sich in ein vollkommen neues gesellschaftliches Werte- und Normensystem einfügen. Diejenigen, die im Teenageralter waren, mussten sich nebenbei noch um ihr Hormonchaos kümmern und oft noch um ihre arbeitslos gewordenen Eltern – was etwa über 80 Prozent der Erwerbstätigen im Land betraf. Auch ihnen galt es Halt und Orientierung zu geben in dieser Zeit des allgemeinen Identitätsverlustes.8 Dieser völligen Überforderung mussten sich Wendekinder stellen, ohne dabei Hilfestellung oder Unterstützung von außen erwarten zu dürfen – weit und breit keine Lehrer oder Jugendbeauftragte, Politiker oder sonstige Orientierung bietende Personen. Sind es nicht genau Eigenschaften von Systemwandlern, also auch Wendekindern, die gebraucht werden für die Bewältigung der durch Klimakrise, geopolitische Spannungen, international herausfordernde Märkte und Digitalisierung erzwungenen Riesentransformationen? Bestehendes und Vertrautes loszulassen, offen zu sein für Neues und Innovationen, sich Resilienz und mentale Stärke anzueignen, Mut zu Entscheidungen aufzubringen und ohne Gewissheiten und Sicherheiten leben zu können? Wendekinder wie auch sozial arrivierte Menschen mit Migrationsgeschichte zeichnen sich durch ebensolche Fähigkeiten aus. Ist das nicht die Art von Kompetenzen und Leadership, die wir in unserer Welt für eine nachhaltige Zukunft brauchen? Ich weiß, was Wendekinder durchgemacht und welche Fähigkeiten sie dennoch oder gerade deswegen ausgebildet haben, denn ich gehöre zu ihnen. Und als Wendekind bin dankbar dafür, wie diese Zeit mich als Mensch geprägt und welche Führungsqualitäten sie mir auf meinen Weg mitgegeben hat. ALS WENDEKIND BIN ICH DANKBAR FÜR DIESE ZEIT, DIE MICH ALS MENSCH GEPRÄGT UND MIR FÜHRUNGSQUALITÄTEN AUF DEN WEG MITGEGEBEN HAT.
Es war ein kalter Abend, der Wind peitschte den Regen gegen die tristen Hauswände, mein Bruder und ich saßen mit unserer Mutter gemütlich beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel. Kaum hörten wir das Drehen des Schlüssels im Schloss, waren wir Kinder auch schon zur Wohnungstür gerannt, um unseren Vater liebevoll zu umarmen. Wie immer hatte er uns auch dieses Mal von seiner Geschäftsreise ins Ausland ein Geschenk mitgebracht. Für mich war es eine ganz besondere Überraschung: meine erste Barbie. Sie trug einen pinkfarbenen Anzug im Stil der 1980er-Jahre und passende High Heels, in der Hand hielt sie eine Aktentasche. So ein perfektes Etwas hatte ich noch nie gesehen, fragte mich aber, ob und wo es solche Frauen wohl geben mag. In unserer Plattenbausiedlung jedenfalls war ich noch nie einer derartigen Frau begegnet. Ausgerechnet eine Barbie in Pink sollte also meine Vorstellungen und Träume von meinem späteren Ich anregen. Nie werde ich vergessen, wie ich meine Eltern fragte, ob ich wohl eines Tages auch so sein könne wie diese Barbie. Ob nun wie Barbie oder nicht, mein Vater bestärkte jedenfalls meine kindliche Zielstrebigkeit, indem er wiederholte, was er uns Kindern immer wieder sagte: dass wir alles im Leben erreichen könnten, was wir nur wollten, wenn wir nur immer an uns glaubten und nie aufgeben würden. Und fügte hinzu, dass ich vielleicht eines Tages sogar ein Vorbild für andere sein könnte. Ich war zehn Jahre alt und hatte keine Ahnung, wie sehr diese Worte meines Vaters mein Leben auch nach seinem Tod beeinflussen sollten. Dass es mir gelingen sollte, im Alter von 45 Jahren Vorständin einer der weltweit größten Banken in Frankfurt am Main zu werden, hätte sich damals niemand vorstellen können und lag völlig jenseits meiner Vorstellungskraft als Zehnjährige. Meine Geschichte hat unter dem grauen Schatten des Kalten Krieges begonnen. Inmitten der geteilten Stadt Berlin lebten wir in einer winzig kleinen Einraumwohnung im 13. Stock eines für jene Zeit so typischen Plattenbaus: ein gewaltiger Betonklotz mit trostlosem Eingangsbereich und ebensolchen Treppenhäusern, immerhin einem Aufzug, der allerdings nicht besonders zuverlässig war, und langen, dunklen Gängen, die wie die endlosen Wege eines gigantischen Krankenhauses wirkten, in dem ständig der Geruch von Angebranntem und Putzmitteln hing. Im Vergleich zu der abweisenden Kälte dieses Funktionsbaus gestaltete sich das Leben darin als geradezu buntes Miteinander:...