Strasser / Holzleithner | Multikulturalismus queer gelesen | Buch | 978-3-593-39172-4 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 41, 370 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 466 g

Reihe: Politik der Geschlechterverhältnisse

Strasser / Holzleithner

Multikulturalismus queer gelesen

Zwangsheirat und gleichgeschlechtliche Ehe in pluralen Gesellschaften
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-593-39172-4
Verlag: Campus

Zwangsheirat und gleichgeschlechtliche Ehe in pluralen Gesellschaften

Buch, Deutsch, Band 41, 370 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 466 g

Reihe: Politik der Geschlechterverhältnisse

ISBN: 978-3-593-39172-4
Verlag: Campus


In den letzten Jahren ist Multikulturalismus als Theorie und Politik der Anerkennung von Gruppenrechten unter Druck geraten. Verantwortlich dafür ist auch eine zunehmende Wahrnehmung problematischer Praktiken ethnischer und religiöser Gruppen, wie etwa der Zwangsheirat. Sexuelle Kontrolle findet sich aber nicht nur hier, sondern zeigt sich auch im Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe. Die Autorinnen und Autoren untersuchen diese Problematiken aus juristischer wie aus sozialanthropologischer Perspektive für Österreich, Großbritannien und die Türkei und zeigen die Notwendigkeit auf, die Debatten um kulturelle Unterschiede, Geschlechtergleichheit und sexuelle Autonomie zusammenzuführen.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Einleitung: Multikulturalismus queer gelesen
Sabine Strasser/Elisabeth Holzleithner

I. Multikulturalismus im Widerstreit

Multikulturalismus im Widerstreit: Debatten über kulturelle Diversität, Geschlechtergleichheit und sexuelle Autonomie
Elisabeth Holzleithner/Sabine Strasser

Zwangverheiratung im Fokus: Ein Vergleich von Auftragsstudien in europäischen Ländern
Maria Schiller

Kulturelles Unbehagen: Eine kleine Stadt und ihre großen Sorgen
Sabine Strasser und Christa Markom

II. Sexuelle Autonomie im rechtlichen Vergleich

Zwangsverheiratung: Zur rechtlichen Matrix in Österreich
Ines Rössl

Rechtliche und politische Strategien gegen Zwangsehen in Österreich
Katharina Beclin

Zwangsverheiratungssituationen als Anknüpfungspunkt von
institutionellem Handeln 165
Ines Rössl

Komplexitäten der Einwilligung: Juristische Diskurse um Zwangsehen in Großbritannien
Anne Phillips

Ehe und Ehre im Wandel: Arrangement und Zwang in der Türkei
Sabine Strasser, ?rem Tuncer, Altan Sungur

"Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, dass wir unsere ganze Wertebasis in Frage stellen." Zu den Fragmenten einer österreichischen Debatte über die Ehe für Homosexuelle
Nikolaus Benke

Gleichheit und Differenz: Ehe und Zivile Partnerschaft in Großbritannien
Alex Sharpe

Alles Stehende verdampft: Homosexuelle Bewegungen und Identitäten im Kontext patriarchaler Machtstrukturen in der Türkei
Kerem Öktem

III. Perspektiven multikulturalistischer Theorie und Praxis

Multikulturalismus queer gelesen: Sexuelle Autonomie, kulturelle Diversität und gleichgeschlechtliche Ehe
Elisabeth Holzleithner

Sexuelle Minderheiten in ethnisch minorisierten Gruppen: Zugehörigkeit, Intersektionalität und Exit
Christa Markom und Ines Rössl

Ist der Multikulturalismus noch zu retten? Ein Konzept auf dem Prüfstand von Wissenschaft, Politik und Recht
Sabine Strasser

Autorinnen und Autoren


Sabatina James kam 1992 im Alter von zehn Jahren mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern von Pakistan nach Linz in Oberösterreich. Sie lernte Deutsch, besuchte ein Gymnasium und wurde österreichische Staatsbürgerin. Mit 16 ließen sie ihre Eltern, weil ihnen die Tochter zu westlich geworden war, bei einer Tante in Pakistan. Diese schickte sie in Koranschulen, um eine anständige Frau aus ihr zu machen. Als sie gegen ihren Willen mit einem Cousin verheiratet werden sollte, wehrte sie sich zunächst, stimmte dann aber der Verlobung zu, um nach Österreich zurückkehren zu können. Wieder in Österreich, verließ sie nach einem (weiteren) Streit mit den Eltern ihre Familie, konvertierte zum Christentum und wurde daraufhin von ihrer Familie mit dem Tode bedroht. Sie suchte Schutz bei einem Pfarrer, der die damalige Gesundheits- und Frauenministerin Maria Rauch-Kallat von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) um Hilfe für Sabatina bat. Heute kümmert sich Sabatina James mit einer Stiftung um junge Frauen mit ähnlichen Erfahrungen und ist Botschafterin von Terre de Femme, einer Frauenrechtsorganisation in Deutschland.

Die Bundesministerin war nach ihrer Begegnung mit Sabatina James betroffen und als sie kurz danach auch noch ein Mädchen aus Pakistan mit ähnlichen Problemen zurückholen musste, war sie davon überzeugt, dass diese Fälle nur die "Spitze eines Eisbergs" (Rauch-Kallat, Interview vom 07.05.2007) darstellten. Sie griff das Thema, das zu diesem Zeitpunkt bereits in vielen Ländern Europas für hitzige Debatten sorgte, in einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag 2004 mit gleich fünf Ministerkolleginnen in einer Podiumsdiskussion auf. In den folgenden Jahren wurde der Kampf gegen die Gewalt an Frauen aus ethnisch und religiös minorisierten Kontexten zum Herzstück der österreichischen Frauenpolitik. Unter dem Schlagwort "traditionsbedingte Gewalt" wurden insbesondere Zwangsehen, weibliche Genitalbeschneidung und Ehrenmorde diskutiert und ExpertInnengespräche einberufen. 2006 wurde, wieder unter Zusammenwirken von sechs Bundesministerinnen, ein europaweites Network Against Harmful Traditions (NAHT) geschaffen.

Maßnahmen gegen "traditionsbedingte Gewalt" oder "Gewalt im Namen der Ehre" werden auf Initiative von Feministinnen aus Pakistan, Indien, der Türkei und vielen anderen Ländern bereits seit den 1990er Jahren auf den UN-Weltkonferenzen für Menschenrechte diskutiert. Während Gewalt in den ersten globalen Übereinkommen zur Gleichstellung von Frauen - wie in der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW 1979) - als Thema gar nicht vorkam, wurde in UN-Dokumenten ab den 1990er Jahren explizit auf Gewalt im Namen der Ehre hingewiesen. 1997 sprach auch die CEDAW-Kommission in einem Monitoring-Prozess mit der Türkei und Israel "Ehre" als Rechtfertigung der Gewalt gegen Frauen an, und seit 2000 sind zahlreiche Aktivitäten und Forschungen initiiert worden (Sen 2005: 56). Im Jahr 2003 meldete sich schließlich auch der Europarat mit der Resolution 1327 zu Wort. Unter dem Titel "So Called ›Honour Crimes‹" wird unter Punkt 1 definiert, dass es sich dabei um eine "violation of human rights based on archaic, unjust cultures and traditions" handelt. Die Resolution betont, dass diese Gewalttaten nicht von religiösen, sondern von "kulturellen" Wurzeln verursacht seien; gleichzeitig wird aber bemerkt, dass die Mehrzahl der berichteten Fälle in Europa in muslimischen Gemeinschaften angesiedelt war.

Obwohl die angesprochenen Formen von Gewalt an Frauen in Europa nach 40 Jahren Arbeitsmigration durchaus nicht neu waren, haben die Kämpfe immer mehr junger Frauen (und auch junger Männer) um Selbstbestimmung und Freiheit bei der Partnerwahl in den letzten Jahren zu steigenden Spannungen und zu einigen erschütternden Fällen von Zwangsverheiratung und Ehrenmord geführt. Junge Frauen, die sich den Erwartungen der Familien widersetzen, tragen nicht nur zu einer neuen Sichtbarkeit von Gewalt bei, sondern geben auch Anlass für mediale und gesellschaftliche Debatten ebenso wie für feministische Forderungen, den Multikulturalismus zurückzudrängen. Dem Multikulturalismus, dem ohnedies und auch dort, wo er gar nicht die Politik bestimmt hatte, die Schuld an sozialer Segregation und mangelnder Integration anhaftete, wird nun also auch die Fortschreibung der "traditionsbedingten Gewalt" und die anhaltende Ungleichheit der Geschlechter in ethnisch und religiös minorisierten Gruppen angelastet.

Schon mit Beginn dieser politischen Debatten kristallisierten sich drei feministische Lager heraus: Eine Seite erklärte die Initiative gegen "traditionsbedingte Gewalt" für längst überfällig und sah in der öffentlichen Debatte einen wichtigen Schritt in Richtung Frauen- und Menschenrechte (wie beispielsweise Terre de Femme 2004; Mojab/Abdo 2004). Die andere Seite wies vehement auf die Gefahr hin, dass die Fokussierung auf "kulturelle" Formen der Gewalt in den ohnedies problematischen Debatten um Zuwanderung, Minderheiten und Integration zu Stigmatisierungen beitragen könnte (Volpp 2000; Razack 2004). Die dritte Gruppe schließlich versuchte Wege zu finden, welche die Diversität als Prinzip von Gleichheit anerkennen, Kultur nicht als Festschreibung von bestimmten Handlungen oder Traditionen sehen und trotzdem die Probleme von marginalisierten, abweichenden oder widerständigen Individuen in ethnischen oder religiösen Minderheiten nicht ignorieren wollen (Phillips 2007). Wir selbst sehen uns am ehesten dem dritten Zugang verbunden.

Der geschärfte Blick für die gefährdeten, abweichenden oder widerständigen Individuen in minorisierten Kontexten führte zwar zu Forderungen nach Geschlechteregalität auch aus konservativen und bis dahin wenig feministischen Kreisen, bewirkte aber gleichzeitig eine Fokussierung auf jene Gewalt, die minorisierten Frauen "in anderen Kulturen" angetan wird. Damit wurde zunehmend die Rolle des angeblich liberaleren Mainstreams bei der Aufrechterhaltung von Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, Kinder und sexuelle Minderheiten in der Gesellschaft vernachlässigt. Beispielsweise hatte die bereits erwähnte Frauenministerin trotz ihres Engagements für die "Migrantinnen zweiter Generation" und gegen Gewalt an minorisierten Frauen keine Einwände gegen lange Wartezeiten bei der Familienzusammenführung und gegen den nur eingeschränkten Zugang von nachgereisten Frauen zum Arbeitsmarkt. Beides - kürzere Wartezeiten und sofortiger Arbeitsmarktzugang - wären aber Möglichkeiten, um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von minorisierten Frauen zu fördern. Die Fokussierung auf die Gewalt "der anderen" wird dann suspekt, wenn gleichzeitig die Zuwanderungs-, Integrations- und Frauenpolitik in einem Land kaum Bemühungen um minorisierte Frauen erkennen lassen.

Diese eigentümliche Selektivität prägt die Auseinandersetzung um traditionsbedingte Gewalt. Sie fügt sich ein in eine generelle Skepsis gegenüber den kulturell und religiös "Anderen" in einer Gesellschaft, deren öffentliche Auseinandersetzungen sich durch den globalen Kampf gegen Terror verstärkt auf Fragen der Sicherheit konzentrierten. So wurde aus der Fremdenfeindlichkeitsdebatte eine Islamdebatte, und diese war (und ist) von "Angst" getragen (Rohe 2006: 16). Als Ausweg gilt vielfach die Hinwendung zu "westlichen Werten", auf die Zugewanderte verpflichtet werden sollen. Multikulturalistische Politik würde demgegenüber die Integration behindern und zu hoher Arbeitslosigkeit, räumlicher Segregation und hohen Kriminalitätsraten unter Zugewanderten führen (so die Diagnose von Koopmans 2008). Der regelrechte "Multikulturalismus-Backlash" (Vertovec/Wessendorf 2010) wurde schließlich auch mit Menschen- und Frauenrechten begründet. Der Diskurs machte Gleichheit, Freiheit und Autonomie zu einer exquisiten Eigenschaft des liberalen Mainstreams, während minorisierte Gruppen durch ihre "Kultur" zu Ehrenmorden, Zwangsverheiratungen, Unterdrückung und Gewalt verdammt schienen.

In der überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten wird seither zwar betont, dass Gewalt an Frauen in minorisierten Kontexten nichts mit Religion zu tun hätte. Traditionen der Gewalt werden aber vor allem muslimischen MigrantInnen zugeschrieben. Je nach nationalem Kontext hat man dabei unterschiedliche nationale und ethnische Gruppen im Visier: Während die überwiegende Zahl der registrierten Fälle in Großbritannien mit Familien pakistanischer Herkunft in Verbindung gebracht wird, werden in Österreich türkische und kurdische Frauen besonders häufig als Opfer erwähnt. In der Türkei wiederum werden Aktivitäten gegen Gewalt an Frauen derzeit verstärkt auf kurdischem Gebiet durchgeführt. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen läuft damit Gefahr, zu einer zusätzlichen Abwertung von ohnedies ökonomisch marginalisierten, kulturell wenig anerkannten und politisch unterrepräsentierten oder als integrationsunwillig beschriebenen Gruppen beizutragen. Differenzen, Gegensätze und Konflikte innerhalb dieser Gruppen werden dabei ausgeblendet. Und während einzelne weibliche Stimmen, die ihren Herkunftskontexten äußerst kritisch gegenüberstehen, in der Öffentlichkeit geradezu als Ikonen des Widerstands gefeiert werden, herrscht insgesamt die Vorstellung vor, der Staat müsse die betroffenen Gruppen gleichsam von außen reformieren, um die darin gefangenen Frauen zu retten - als würde der Staat selbst nicht sogar ihre Situation durch die Einwanderungspolitik erschweren.

Diese Haltung, die für weite Teile jedenfalls der österreichischen Politik bestimmend erscheint, ist äußerst fragwürdig. Von oben herab wird, in selektiver Kommunikation mit einzelnen ausgewählten RepräsentantInnen der "anderen", eine Politik betrieben, die weitgehend symbolhaft ist und mehr als Signal an die eigene nationale Klientel erscheint, denn als echter Versuch, die Lebensbedingungen von "betroffenen Frauen" zu verbessern. Ausdruck eines solchen Zugangs ist eine Broschüre, die im Jahr 2005 vom österreichischen Bundesministerium für Gesundheit und Frauen herausgegeben wurde und in der alle weiblichen Ministerinnen die in ihrem jeweiligen Ressort getätigten Aktivitäten gegen "traditionsbedingte Gewalt" vorstellten. Es handelt sich dabei um eine lieblos zusammen gewürfelte Ansammlung von Informationen, die in deutscher, englischer und französischer Sprache publiziert wurde. Dies verwundert, wenn man bedenkt, in welchen Kontexten die Täter und die Opfer der Zwangsehe vermutet werden - als echte, hilfreiche Intervention für Betroffene kann die Broschüre daher nicht gelten.
Diese Broschüre war aus unserer Perspektive nur die "Spitze des Eisbergs" einer äußerst fragwürdigen Debatte, die zwar auf real existierende Probleme reagiert, dies aber auf unzureichende oder gar inadäquate Weise. Zu viele Fragen standen und stehen im Raum, die unseres Erachtens nicht hinreichend beachtet wurden: Wie stellt sich die Problematik traditionsbedingter Gewalt tatsächlich dar? Wie wird sie in den Kontexten davon potenziell Betroffener verhandelt? Welche Rolle spielt dabei neben der "Kultur der anderen" die jeweilige nationale Kultur der Regulierung im Bereich des Fremden- und Aufenthaltsrechts? Kann man den Mainstream so leicht aus der Verantwortung entlassen, wie dies die offizielle Politik zu tun scheint? Wie liberal und feministisch ist dieser Mainstream überhaupt? Und ist tatsächlich der Multikulturalismus für die genderpolitischen Schieflagen in verschiedenen dominanten und minorisierten Kontexten verantwortlich zu machen?

Das Forschungsprojekt "Multikulturalismus im Widerstreit"

Die damit skizzierte Thematik schien uns interessant und virulent genug, um ein Forschungsprojekt zu konzipieren, aus dem heraus dieses Buch entstanden ist. Dabei wollten wir einerseits eine Thematik aus dem Bereich der traditionsbedingten Gewalt näher erforschen, um eine Ahnung davon zu bekommen, worum genau es jenseits der Aufgeregtheiten, die im medialen Mainstream um einzelne Fälle herum inszeniert werden, tatsächlich geht. Wir entschieden uns für das vieldiskutierte Thema der Zwangsverheiratung. Gleichzeitig wollten wir nicht den von uns selbst kritisierten Fehler machen, die eigene Kultur als unhinterfragten Hintergrund anzunehmen und von da aus die Praktiken der anderen zu sezieren. Deshalb entwickelten wir eine zweite Achse der Forschung, die sich dem Stellenwert sexueller Minderheiten sowohl in der Mainstreamgesellschaft als auch in ethnisch und religiös minorisierten Gruppen widmet.

Wer die anhaltende rechtliche und soziale Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen (LGBT) im Blick hat, kann nicht so leicht vergessen, dass der Mainstream bei Weitem nicht so liberal und in Genderfragen aufgeklärt ist, wie er sich angesichts "traditionsbedingter Gewalt gegen Frauen" gern geriert. Die "Zivile Partnerschaft" wurde in Großbritannien 2004 und in Österreich unter dem Titel "Eingetragenen Partnerschaft" 2010 eingeführt, doch weiterhin dürfen gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten. Auch die Lage von sexuellen Minderheiten in minorisierten Gruppen in europäischen Ländern ist bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Betrachten wir beispielsweise die soziale Situation und die politischen Bewegungen von sexuellen Minderheiten in der Türkei, so verblüfft vor allem, dass ihre Erfahrungen in der Migration bislang kaum zum Thema geworden sind. Obwohl in den letzten Jahren in der Türkei viele Erfolge erzielt werden konnten, leben manche LGBT-Personen in der Türkei wie auch in der türkischen Diaspora in der Gefahr, gegen ihren Willen verheiratet zu werden, und die gleichgeschlechtliche Ehe ist bis heute kaum ein Thema.

So gelangten wir zu unserem Forschungsdesign: Es widmet sich vor dem Hintergrund der Krise des Multikulturalismus einerseits dem Zwang zur Ehe und kontrastiert diesen andererseits mit dem Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe, der in vielen europäischen Staaten, so auch den von uns untersuchten - Österreich, Großbritannien, Türkei - nach wie vor als notwendig erachtet wird. Dementsprechend ist unser 2006 gestartetes Forschungsprojekt im Spannungsfeld zwischen Geschlechtergleichheit, kultureller Diversität und sexueller Autonomie angesiedelt. Die Situation von Frauen wie auch Lesben, Schwulen und Transgender-Personen war in diesen Debatten besonders komplex und umstritten. Sie alle werden oft in ihrem eigenen sozialen Umfeld abgewertet, unterdrückt oder mit Gewalt konfrontiert, zudem sind sie mit ökonomischer und politischer Marginalisierung, mangelnder Anerkennung und sozialer Segregation in der dominanten Gesellschaft konfrontiert. Wir begannen unsere Studie damit, den politischen Diskurs und die Forderungen der einschlägigen Organisationen zu untersuchen, führten ExpertInnengespräche und versuchten schließlich, durch eine ethnographische Forschung auch die Alltagspraxis zu diesen komplexen Fragen einzufangen.

Durch Kooperationen mit internationalen WissenschafterInnen und AktivistInnen in unseren Forschungsfeldern konnten wir Vergleiche zwischen Österreich, Großbritannien und der Türkei vornehmen. Diese Länder wurden ausgewählt, weil sie unterschiedliche Integrationssysteme aufweisen und daher verschiedene Maßnahmen im Umgang mit den untersuchten Phänomenen Zwangsehe und gleichgeschlechtliche Ehe erwarten ließen. Großbritannien hatte zum damaligen Zeitpunkt bereits eine Forced Marriage Unit eingerichtet wie auch einen Civil Partnership Act für gleichgeschlechtliche Paare in Kraft gesetzt. In Österreich waren beide Themen auf dem Höhepunkt der Diskussion und die gegensätzlichen Lager lieferten sich erbitterte Kämpfe sowohl um die politische Besetzung der Themen als auch um die notwendigen Lösungsansätze. Die Türkei hatte zum einen bereits früher auf "traditionsbedingte Gewalt" reagiert und war damit eine interessante Quelle für Ansätze und Praktiken, hatte aber zum anderen in Bezug auf gleichgeschlechtliche Ehe nicht einmal eine Debatte begonnen. Gleichzeitig wurden aber Zwangsehen und Gewalt im Namen der Ehre auch mit Blick auf Transgender-Personen diskutiert.

Darüber hinaus wurden in Österreich gerade Frauen aus der Türkei als besonders gefährdet angesehen. ExpertInnen betonten zwar immer wieder, dass es sich nicht um ein türkisches/kurdisches, sondern ein patriarchales Phänomen handeln würde, doch Print- und Onlinemedien, TV-Dokumentationen, Kino- und Fernsehfilme stellten immer wieder die Verbindung zur Türkei her. Da die türkische Minderheit zudem wegen der anhaltenden Debatten um den EU-Beitritt der Türkei als eines überwiegend muslimischen Landes im Mittelpunkt von Diskussionen stand und steht, erschien es uns sinnvoll, uns auf diese Gruppe zu konzentrieren. Unsere ethnographische Forschung hat denn auch bestätigt, dass in den alltäglichen Erfahrungen des Zusammenlebens das Phänomen der Zwangsehe vorwiegend mit "den Türken" in Verbindung gebracht wird.


Holzleithner, Elisabeth
Elisabeth Holzleithner ist Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien.

Strasser, Sabine
Sabine Strasser ist Associate Professor an der Middle East Technical University (METU), Ankara, und Senior Researcher an der Universität Wien.

Sabine Strasser ist Associate Professor an der Middle East Technical University (METU), Ankara, und Senior Researcher an der Universität Wien.
Elisabeth Holzleithner ist Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien.



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