E-Book, Deutsch, Band 65, 443 Seiten
Sturm / Spitaler Sport und Feminismus
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-45824-3
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gesellschaftspolitische Geschlechterdebatten vom Fin de Siècle bis heute
E-Book, Deutsch, Band 65, 443 Seiten
Reihe: Politik der Geschlechterverhältnisse
ISBN: 978-3-593-45824-3
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sport spielt seit der Wende zum 20. Jahrhundert immer wieder eine wichtige Rolle für feministische Kämpfe. Dieser einführende Band liefert erstmals einen Überblick über historische Debatten und aktuelle Kontroversen rund um Sport und Geschlecht. Er erklärt, warum es solche Verbindungen zwischen Feminismus und Sport jeweils gab und was sich daraus sowohl über geschlechterpolitische Kämpfe als auch sportliche Praxen der jeweiligen Zeit lernen lässt: - von den Radfahrerinnen der Jahrhundertwende über das »Sports Girl« der 1920er-Jahre bis zur Infragestellung des zweigeschlechtlich organisierten Spitzensports durch Transsportler:innendiskussionen der Gegenwart; - von der Kritik der Neuen Frauenbewegung an weiblicher Unsichtbarkeit, Unterrepräsentation und männlicher Norm im Sport bis zu aktivistischen kollektiven Kämpfen von Spitzensportler:innen gegen patriarchale Verbandsstrukturen nach MeToo; - von der Geschlechterdekonstruktion des Third Wave Feminism zur emanzipativ-identitätspolitischen Besetzung und symbolischen Aufladung ehemaliger sportlicher Männerdomänen wie jener des Fußballs. Der Band enthält zentrale historische Originaltexte - u.a. von Judith Butler und M. Ann Hall - sowie aktuelle Beiträge von Autor:innen aus Disziplinen wie Gender Studies, Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Sportwissenschaft.
Petra Sturm studierte Kommunikationswissenschaft, Geschichte und Film- und Medienwissenschaft und arbeitet als Journalistin u.a. für die Zeitschriften »Falter« und »Fahrstil«. Sie ist Expertin für historische Frauensportforschung mit Fokus auf Radsport sowie Autorin von Beiträgen zu Rennradpionierinnen, zur Frauenradgeschichte und -gegenwart und zu jüdischen Sportlerinnen in Österreich. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes »Warum Feiern. Beiträge zu 100 Jahren Frauenwahlrecht« (2018) und Autorin der Graphic Novel »Cenzi Flendrovsky. Eine Bicycle Novel« (2023). Petra Sturm lebt und arbeitet in Wien. Georg Spitaler ist Politologe und Historiker. Er forscht am Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA), unterrichtet an der Universität Wien und ist Autor zahlreicher Publikationen mit den Forschungsschwerpunkten Politische Theorie und Cultural Studies, Fragen des Politischen im Sport und Arbeiter:innengeschichte. Außerdem hat er unter anderem den Band »Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht« (2006) und die Einführung »Sport Studies« (2009) mit herausgegeben.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung: Kampf um Bewegungsfreiheit
Petra Sturm, Georg Spitaler An der Schwelle zum 20. Jahrhundert, einer wichtigen Formierungszeit der Frauenbewegung wie auch des modernen Sports, kämpften Frauen für eine grundsätzliche Ausweitung ihrer Bewegungsfreiheit im politischen wie im sportlichen Sinn. Da dabei nicht zuletzt der weibliche Körper und seine Fremdbestimmung durch patriarchal-bürgerliche Zwänge im Mittelpunkt standen, kam es zu zahlreichen Überschneidungen dieser Bestrebungen. Zentrale Themen der in den 1890er Jahren weltweit erstarkenden Frauenbewegung waren neben der Erlangung des Wahlrechts der Kampf um Gleichberechtigung, Bildung und Teilhabe an Erwerbsarbeit. Im Sport und in der Turnbewegung, die in Deutschland und Österreich lange im Vordergrund stand, bevor die britischen sports an Einfluss gewannen, war es der Kampf um die Möglichkeit, Sportarten – auch öffentlich – auszuüben, um praktische Sportkleidung, die Ausbildung von Turnlehrerinnen, den Zugang zu Sportstätten und mehr Rechte in Vereinen. Den Fortschritten und temporären Freiräumen in einigen Bereichen stand die Tendenz gegenüber, Frauen im Zuge der Institutionalisierung von Sportarten und -verbänden aus vielen nun maskulinisierten Disziplinen wieder zu verdra¨ngen. Agenden der sogenannten »Frauenfrage« wurden auch im Sport sichtbar verhandelt. Das im 19. und bis ins 20. Jahrhundert bestimmende bürgerliche Geschlechternarrativ über die »Natur der Frau« unterstellte dieser, aufgrund ihrer angeblich mangelhaften physischen und psychischen Voraussetzungen, weder zu intellektuellen noch zu politischen Leistungen fähig zu sein. Ihr wurde die Rolle der Ehefrau und Mutter zugewiesen und bei Zuwiderhandlung der Verlust von Weiblichkeit prophezeit (Karl 2023: 27). Vertreterinnen der Frauenbewegung kämpften gegen solche Geschlechternormen an, die sich vor allem am Körper und im übertragenen Sinn auch in Bekleidungsvorschriften manifestierten. Frauen wurden durch die patriarchale Geschlechterordnung, den davon abgeleiteten Mythos vom schwachen Geschlecht und damit verbundene Zuschreibungen an Weiblichkeit wie »schwach« oder »weich« auch an der Sportausübung gehindert. Wenn sich Frauen und Mädchen in dieser Zeit turnerisch und sportlich betätigten, so geschah dies meist innerhalb der Grenzen vorherrschender Erwartungen an Weiblichkeit (vgl. dazu etwa Hargreaves 2002: 63; Pfister 1983: 35). Die gemutmaßte Schädigung der Gebärmutter und Beeinträchtigung der Gebärfähigkeit sowie die Verletzung von Anstandsregeln wurden unter anderem als Argumente gegen die Sportausübung von Frauen ins Feld geführt. Faktoren wie Kraftaufwand, Anstrengung, Rekordstreben, »Sittlichkeit«, »Anmut« und »Ästhetik« bestimmten darüber, ob eine Sportart für Frauen akzeptabel war. In den Debatten um Sport vertraten gemäßigte und radikale Stimmen der Frauenbewegung unterschiedliche Positionen zwischen Differenz- und Gleichheitsforderungen. So gab etwa Else Wirminghaus (1911), Herausgeberin der Zeitschrift Die Frau in Haus und Beruf, wesentliche Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung wieder, wenn sie körperliche Erziehung und sportliche Betätigung zwar grundsätzlich befürwortete, aber auf dem Standpunkt stand, dass »[n]icht im Wettbewerb mit dem Mann, sondern in einer spezifisch weiblichen Kultur […] die Chance für ein gleichberechtigtes Zusammenleben« liege (Pfister 1980: 49). Eine feministische Stimme aus der Sportpraxis, Martha Thurm, Herausgeberin der Deutschen Turnzeitung für Frauen, wehrte sich anlässlich der Auseinandersetzung über die Stellung der Frau in der Deutschen Turnerschaft dagegen, dass Frauen »wie unmündige Kinder behandelt« würden, und »forderte neben Stimm- und Wahlrecht die Ausbildung von Vorturnerinnen und eine eigene Vertretung turnender Frauen« (ebd.: 22, 51). Im Vergleich zum Arbeiterinnensport oder zu nationaljüdischen Makkabi-Turnvereinen blieb die Deutsche Turnerschaft jedoch geschlechterpolitisch konservativ. Ein gutes Beispiel für die Relevanz des Sports für die Kleiderreformbewegung sind die Überlegungen der jungen Wiener Frauenrechtlerin Else Spiegel (1900: 726). Sie lobte die amerikanischen Kampagnen gegen Wespentaille, lange Schleppröcke und schwere Hüte und folgerte: »Kurz geschürzt, in einer bequemen Hemdbluse und einem glatten Hut oder einer Kappe kann die junge Dame reiten, radeln, rudern, bergsteigen, fechten, turnen, laufen, springen; Alles kann sie damit. Sie kann sich bewegen, und Bewegung ist Alles, Fortschritt, Leben, Besiegung aller Hemmnisse.« Vor allem die Radfahrerinnen, die mehr als andere Sportlerinnen in der Öffentlichkeit standen, trugen wesentlich dazu bei, das Korsett abzuschaffen und die Pumphose (Bloomers, Hosenrock) durchzusetzen. Überhaupt wurde das Fahrrad zum Symbol von Emanzipation, zum Transmissionsvehikel von Freiheit, Selbständigkeit und Selbstbewusstsein der Frauen – was etwa der erste Text dieses Abschnitts zeigt: Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Susan B. Anthony (1820–1906) galt als eine der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Feministinnen ihrer Zeit. 1896 zog sie in der New Yorker Zeitung The World mit Elisabeth Jane Cochran alias Nellie Bly, einer Pionierin des investigativen Journalismus, Bilanz über ihre politischen Kämpfe um Frauenwahlrecht, Scheidungsrecht, Mädchenbildung und vieles mehr und äußerte sich auch über die Eigenschaften der kommenden »neuen Frau« (OT 1). Das Gespräch enthält Anthonys viel zitierte Aussage über die Bedeutung des Radfahrens für die »freie« und »ungehinderte« Frau. Dieses habe »mehr zur Emanzipation der Frauen beigetragen als alles andere auf der Welt«. Ähnlich äußerte sich einige Jahre später die österreichische Essayistin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder (1901: 504): Das »Bicycle« habe »zur Emanzipation von Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegungen zusammengenommen«. Frauen aus dem Umfeld der deutschen Frauenbewegung, die sich zur Sportbetätigung äußerten, sahen in Sport und Körperkultur von Beginn an auch ein Instrument, um die Frau für die neuen Aufgaben der Arbeitswelt und im Geschlechterkampf zu stärken. Für die Sozialreformerin Hope Bridges Adams Lehmann (1855–1916), eine der ersten Ärztinnen Deutschlands, waren die (Wieder-)Erlangung von Kraft und der Aufbau von Muskulatur essenziell für die Erreichung von Gleichheit. Bridges Adams Lehmann, die in England im Umfeld des Philosophen, Politikers und frühen Unterstützers der Frauenemanzipation John Stuart Mill aufwuchs, war überzeugt von der historischen Veränderbarkeit der »Geschlechtscharaktere« und wies »männliche« und »weibliche« Eigenschaften als Produkte der Umwelt aus. In dem publizierten Vortrag Die Vorbereitung der Frau zur Lebensarbeit (1899, OT 2) plädierte sie für die Stärkung des Frauenkörpers, um die historisch bedingte »Inferiorität der Frau« abzustreifen. »Die Losung heißt: Muskelübung, regelmäßige, reichliche, systematische Muskelübung von klein auf […] wie beim Knaben und beim Mann und dieselbe Menge.« Für Bridges Adams Lehmann, die unter anderem auch August Bebels Die Frau und der Sozialismus (1879) ins Englische übersetzte, war die Frauenfrage auch Teil der sozialen Frage. Frauenrechte waren für sie Menschenrechte, die Befreiung der Frau schloss so folgerichtig auch die Befreiung des Mannes mit ein (Krauss 2002: 71). Bridges Adam Lehmanns »Frau der Zukunft« war eine »freie, kräftige und selbstbestimmte Frau«, die sich durch »Sport, Radfahren und Spaziergänge kräftigt«, praktische Kleidung trägt, in die »Welt des Mannes eintritt« und »mit ihm konkurriert« (ebd.: 72). Der unter dem Pseudonym Una pro Multis (Eine für Viele) in der deutsch-österreichischen Frauenfahrradzeitschrift Draisena verfasste Artikel über Das Damenrennen in Berlin (1898, OT 3) stellt ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes sportjournalistisches und feministisches Dokument dar. Die luzide Analyse der Autorin offenbart, welchen männlich geprägten ...