Thamer | Zweite Karrieren | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Thamer Zweite Karrieren

NS-Eliten im Nachkriegsdeutschland
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8393-0183-8
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

NS-Eliten im Nachkriegsdeutschland

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8393-0183-8
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die meisten Juristen, Wissenschaftler, Unternehmer, Publizisten, Ärzte und Offiziere, die bis 1945 dem Naziregime treu ergeben waren, konnten in der Nachkriegszeit ihre Karrieren fortsetzen. Immer wieder entfachten Skandale um ehemalige NS-Funktionäre in wichtigen Positionen die Debatte um das braune Erbe in Wirtschaft, Politik und Kultur.

Der Historiker Hans-Ulrich Thamer legt erstmals eine vergleichende Überblicksdarstellung vor und beschreibt die Strategien und Netzwerke, mit deren Hilfe weite Teile der NS-Elite in der Bundesrepublik und in der DDR ihren Platz behaupten konnten.

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»Rosen für den Staatsanwalt«
Vom Wiederauftauchen der nationalsozialistischen Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland
Eine Schokoladendose der Marke »Scho-Ka-Kola Schokolade«, die dem Gericht einer Kleinstadt als Beweisstück für einen Schaufenstereinbruch vorliegt, den der Straßenhändler Rudi Kleinschmidt begangen haben soll, bringt Oberstaatsanwalt Dr. Wilhelm Schramm aus der Fassung. Das Verfahren, das er scheinbar ohne Grund an sich gezogen hat, wird dem selbstbewusst-autoritär auftretenden Gerichtsherren zum Verhängnis. Ganz in Gedanken versunken fordert er in der Verhandlung unvermittelt die Todesstrafe für den Diebstahl. Die Erinnerung an ein Urteil, das er als Kriegsgerichtsrat im Februar 1945 gegen denselben Rudi Kleinschmidt verhängt hatte, hat ihn nun ganz offensichtlich eingeholt. In einem Standgerichtsverfahren hatte er damals den Gefreiten, der zwei Dosen derselben Schokoladenmarke gestohlen hatte, wegen »Wehrkraftzersetzung« zum Tode verurteilt. Nur ein plötzlicher Tieffliegerangriff hatte die Vollstreckung verhindert, sodass der Gefreite entkommen konnte. Nun droht die Geschichte von damals sich zu wiederholen, denn Kleinschmidt, der auf der Durchreise ist, begeht beim Anblick der Schokoladendosen einen Einbruch und zeigt jedem, der es sehen will, das sorgfältig aufbewahrte Schriftstück mit dem damaligen Urteil und der Unterschrift des Kriegsgerichtsrats. Seine Geschichte beschäftigt inzwischen die Stammtische der Stadt und macht schließlich auch seinen ehemaligen Richter nervös. Er muss befürchten, dass mit dem Auftauchen des Rudi Kleinschmidt seine bislang erfolgreiche Nachkriegskarriere zerstört werden könnte; auch weil er nach dem Krieg in seinem Entnazifizierungsverfahren seine Tätigkeit als Kriegsgerichtsrat verschwiegen hatte. Darum übernimmt er selbst den Bagatellfall. Politisch ist er mehr als zehn Jahre nach dem Ende des »Dritten Reichs« noch immer auf einem Auge blind. Er ist Leser der rechtsradikalen National- und Soldatenzeitung, die er verstohlen am Kiosk kauft. Außerdem hat er einem Studienrat, der wegen antisemitischer Äußerungen angeklagt war, zur Flucht verholfen. Dieser hat ihm als Zeichen seiner geglückten Flucht einen Strauß Rosen zukommen lassen. Nun verlässt der Oberstaatsanwalt, den die Erinnerung an »damals« plötzlich überwältigt hat, in Panik das Gerichtsgebäude und verliert dabei seine Robe. Die Presse titelt tags darauf »Schon wieder ein Justizskandal«. Der ehemalige DEFA-Regisseur Wolfgang Staudte hat mit seiner zeitkritischen Tragikomödie Rosen für den Staatsanwalt aus dem Jahr 1959 die Vorwürfe einer verdeckten Kontinuität zur NS-Zeit aufgegriffen und auf die Leinwand gebracht. Er nahm die personelle und soziale Wiedereingliederung von einstigen nationalsozialistischen Richtern und Staatsanwälten in den Justizdienst der Nachkriegszeit ins Visier. In seiner satirischen Filmerzählung fehlt keines der Indizien und Symbole, die in den zeitgenössischen Vermutungen und Beobachtungen über die »Richter in brauner Robe« und über andere ehemalige Nazi-Eliten kursierten: von der stillen Rückkehr in den Justizdienst und vom Schweigen über die eigene Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 bis zur versteckten Sympathie für neonazistische und rechtsradikale Kreise und Tendenzen – alles weckte die Befürchtung einer schleichenden Renazifizierung.   Szenenbild aus dem Film Rosen für den Staatsanwalt (1959): Oberstaatsanwalt Dr. Wilhelm Schramm (Martin Held, l.) wird mit seiner NS-Vergangenheit konfrontiert.   Ein weiteres Symbol für die zeitgenössischen Enthüllungen verdeckter Nazi-Vergangenheiten begegnet in einem komödiantischen Seitenhieb in Kurt Hofmanns Spielfilm Das Spukschloss im Spessart von 1960. Auch im Bonner Landgericht soll das Gespenst der Vergangenheit umgehen. Voller Empörung widerspricht der Richter und schlägt auf den Tisch des Hauses, sodass der Putz von der Wand bröckelt. Unter dem Hoheitsadler kommt ein Hakenkreuz zum Vorschein. Auch eine harmlose Filmkomödie konnte offenbar nicht auf ein Thema verzichten, das mittlerweile mit zunehmender Intensität die politische Diskussion in der bundesrepublikanischen Presse mitbestimmte: die Bonner Vergangenheitspolitik. Wie weit reicht die Nachgeschichte der NS-Diktatur in die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik? Haben die staatlichen Institutionen sich vom Personal, von der Ideologie und der Mentalität der NS-Zeit so gründlich abgegrenzt, wie sie es behaupten? Oder gab es hinter dem schönen Verputz nicht doch sehr viele personelle und politisch-ideologische Kontinuitäten? Wie sollte man mit dem Millionenvolk der Täter und Mitläufer umgehen? Gab es nur die drastischen Lösungen, entweder alle zu bestrafen oder alle laufen zu lassen? Beide Extreme waren nicht möglich. Zum einen, weil der Druck seitens der Alliierten groß war, zum anderen, weil auch die Forderungen der Opfer nach Sühne unüberhörbar waren. Das waren Fragen und Sorgen, die nach der anfänglich weitgehenden Übereinstimmung, dass man die Schuldigen bestrafen müsse, erst wieder in den späten 1950er-Jahren auftauchten und die politisch-kulturelle Diskussion der nachfolgenden Jahre beeinflussten und auch veränderten. Es waren nach der Phase der relativen Stille der 1950er-Jahre nun »politische Proteste, Bürgerinitiativen und mutige Einzelpersonen, die die kritische Auseinandersetzung vorantrieben«.[1] Daneben aber auch, so muss man ergänzen, die Presse, die in diesen Übergangsjahren eine eigenständige Position als politische Macht gewann. Das alles verlief schrittweise, von einem Skandal und öffentlichen Erregungszustand zum nächsten. Einen »scharfen Bruch zwischen dem Wunsch nach Vergessen und dem nach konsequenter Aufarbeitung der NS-Zeit«[2] gab es nicht, eher ein unentschiedenes Nebeneinander, wie das für Übergangszeiten allgemein zu beobachten ist. Auch trafen die Vorwürfe sicherlich nicht auf alle Justizjuristen oder gar auf alle Angehörigen der übrigen Funktionseliten zu. Vierzehn Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs häuften sich die besorgten Beobachtungen, dass die »alten Nazis« wieder in ihre Ämter zurückgekehrt seien. Befürchtungen, die sich später als übertrieben erwiesen, dass von den »Ehemaligen« eine Gefahr für die demokratische Ordnung ausginge und dass sie das politische Klima der jungen Bundesrepublik prägen könnten, wurden in der kritischen Öffentlichkeit und in der jüngeren studentischen Generation wach. Auch stellte sich die Frage, wie und mit wessen Hilfe sie ihren Weg nach oben bewerkstelligt hatten. Ferner wurde über mögliche Alternativen zu der realen Vergangenheitspolitik diskutiert: wie man mit den belasteten Vergangenheiten vieler Deutscher umgehen müsse, ob man bei der Rekrutierung des administrativen Personals nicht auf eine »Gegenelite« hätte zurückgreifen können und ob man die vielen »Nazis« in der einen oder anderen Form in die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik gefahrlos einbeziehen könne und müsse. Ende der 1950er-Jahre mehrten sich die Hinweise auf vielfache Kontinuitäten gesellschaftlicher Funktionsträger, die sich unbehelligt und erfolgreich vom »Dritten Reich« in die bundesrepublikanische Wiederaufbaugesellschaft hinübergerettet hatten. Dass sich Staudtes Film ausgerechnet auf den Justizbereich konzentrierte, war kein Zufall. Spektakuläre Gerichtsverfahren, wie der Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 sowie das Verfahren gegen den ärztlichen Leiter der T4-Aktion, Dr. Werner Heyde, der bis zu seiner Enttarnung 1959 als Sportarzt Dr. Fritz Sawade untergetaucht war und sich noch vor der Hauptverhandlung seiner Verantwortung durch Suizid entzog, hatten den Mantel des Schweigens zerrissen, der sich nach verbreiteter Meinung seit der Gründung der Bundesrepublik über die versteckte Wiederkehr und die Netzwerke einstiger NS-Funktionsträger gebreitet hatte. Das »Schweigen der Eliten« wollte auch die »Braunbuchkampagne« der DDR gegen »Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und West-Berlin« propagandistisch nutzen. Die Nachgeschichte des Nationalsozialismus war ein gesamtdeutsches Thema, nur dass die SED-Diktatur ihren Anteil daran leugnete. Sie versuchte, im Ost-West-Konflikt mit dem Vorwurf der Kontinuität »brauner Eliten« in der Bundesrepublik deren politisches System unter Generalverdacht zu stellen und sich selbst den Orden erfolgreicher politischer Säuberung in ihrem Herrschaftsgebiet anzuheften. Dagegen sprach schon sehr früh die Beobachtung von Wolfgang Leonhard, der als einstiges Mitglied der Gruppe Ulbricht gute Kenntnisse der SED-Machtstrukturen besaß. Er berichtete nach seiner Flucht in den Westen von einem ehemaligen NSDAP-Parteigenossen, der auf einer SED-Veranstaltung 1946 die Partei öffentlich den »großen Freund der kleinen Nazis« genannt hatte. Tatsächlich hatte der SED-Parteivorstand, so Leonhard, bereits im Juni 1946 als Reaktion auf eine Wahlniederlage der österreichischen Kommunisten offiziell erklärt, die »einfachen Mitglieder und Mitläufer der ehemaligen Nazipartei in den demokratischen Aufbau einzugliedern« und diese damit als potenzielle Wähler zu umwerben.[3] Im Unterschied zur Vergangenheitspolitik der DDR, die sich bis zuletzt über ihren tatsächlichen Umgang mit den »Ehemaligen« mehr oder weniger in Schweigen gehüllt und sich als Bastion des Antifaschismus dargestellt hatte, war die Elitenkontinuität ehemaliger nationalsozialistischer Funktionsträger in den Anfangsjahren und auch...


Hans-Ulrich Thamer, Jahrgang 1943, lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus; zuletzt erschienen von ihm u.a. eine Biografie Adolf Hitlers sowie eine Geschichte der NSDAP.



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