E-Book, Deutsch, 132 Seiten
Thomsen Clochard
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7568-1203-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 132 Seiten
ISBN: 978-3-7568-1203-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Meyer hat sein altes Leben satt und beschließt, das Leben eines Clochards zu führen und reist mit seinem Fahrrad unter falscher Identität durch Europa. Er bricht alle Bindungen ab und schildert als Ich-Erzähler am Anfang des Romans seine existentiellen Beweggründe und seine Sicht auf die Welt. Nach ein paar Wochen lernt Matthias in Frankreich Michaela kennen. Die beiden kommen sich näher und schon bald tritt Matthias anders als geplant in ein neues Leben ein. Ebenso wie Matthias, der sich selbst gegenüber Michaela mit seinem falschen Namen Mikkel ausgibt, trägt auch Michaela ein Geheimnis mit sich herum. Bei einem Besuch der deutschen Hauptstadt treffen sie zufällig auf Andreas, den obdachlosen Bruder von Matthias. Andreas wiederum hat zufällig Susanne, die drogensüchtige Klassenkameradin von Matthias, kennengelernt. Und nun überschlagen sich die Ereignisse und man findet eine Leiche im Landwehrkanal. Als Michaela und Matthias von dem Todesfall hören, haben sie einen Plan.
Michael Thomsen, Jg. 1957, schreibt seit seiner Berentung neben Fachbüchern Gedichte, Erzählungen, Kinderbücher und Essays. "Clochard" ist seiner erster Roman.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Futur Zwei
Plötzlich war er einfach weg, sagten die Nachbarn. Und sie meinten - Mich. Sein Fahrrad war weg und er hatte sich nirgends wirklich abgemeldet, keinen Termin vorgeschoben, Ende April, bei schönstem Frühlingswetter, so sagten sie. Einen kurzen Brief hatte er hinterlegt: „Brauch mal ein paar Tage Ruhe und Zeit zum Nachdenken, bin wieder mit dem Fahrrad los! Melde mich. Bis später. Ich liebe Euch!“ So schrieb er, einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassend. Und sie zitierten: Mich. Und seine Frau war gleich bei all der scheinbaren Normalität stutzig; warum bezog er alle mit „Euch“ ein? Das war befremdlich für sie. Er meldete sich nicht. Über Handy war er nicht zu erreichen, auf WhatsApp keine Reaktion, nicht am nächsten Morgen, am übernächsten Abend und nicht eine Woche später. Noch zwei Wochen später gab es kein Lebenszeichen bis sie sich entschloss, die Polizei zu alarmieren. Die Arbeit rief an. Die Kinder fragten unentwegt. Die Nachbarn hatten keine Ahnung. Bei Verwandten war er nicht aufgetaucht. Wohin war er abgetaucht? Es war auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches. Hin und wieder fuhr ich eben ein paar Tage mit Zelt und vorgeplanter Route irgendwelche Touren, von denen ich schon als Junge immer wieder geträumt und die ich viel zu selten umgesetzt hatte. Diesmal wagte ich den großen Sprung, war dann einfach mal: Weg! Nach dieser wagemutigen Entscheidung wurde vieles anders. Tage und Wochen später gab es keine Lebenszeichen, keine Meldungen per SMS oder WhatsApp. Ich rief nicht an, nicht nach dem ersten, nicht nach dem zweiten und auch nicht nach dem dritten Tag. Mein schlechtes Gewissen wurde - vom Umgewöhnen und Beschäftigt Sein mit Zeltaufbau, Nachtlager sichern, Waschen, den naheliegenden Herausforderungen halt - betäubt. Vom Emsland aus war ich unwiederbringlich Richtung Ruhrgebiet und weiter der Süd-Sonne folgend unterwegs. Und nach über einer Woche im Entschluss gereift; es gab kein Zurück mehr! Der Rücken schmerzte und das Sitzbein auch, aber die bleiern beruhigende Schwere des Loslassens hatte mich erfasst und ich schlief trotz ungewohnter Matratze, Temperaturschwankungen und gelegentlichen Mückenattacken ziemlich gut. Ich hatte es endlich umgesetzt, was mich vor Jahren in tiefster Depression anfesselte und mich einfach nicht loslassen wollte: Den Gedanken zu fliehen vor all denen, die Erwartungen hatten, hatte ich in die Tät umgesetzt. Denn oft unterließen es die Erwartenden im Gegenzug ebenso meine Erwartungen zu erfüllen. Erwartungen der anderen, denen ich aus Sicht der anderen scheinbar so gut folgen konnte, aber denen ich nicht immer gern folgen wollte, denen ich meist nur aus Pflichterfüllung gefolgt war und deren Erfüllung mich ständig fühlen ließ: Ich werde ausgezehrt. Energie und Kraft wurde unablässig abgesaugt. Von mir blieb so am Ende – nichts, nur Leere! War mein Leben bis dahin darauf hinuntergebrochen, immer nur Erwartungen anderer zu erfüllen? Sollten sie doch warten – ohne mich. Denn wo blieb sonst: Ich? Ich wollte nicht mehr verantworten müssen, worauf ich keinen wirklichen Zugriff hatte. Wie konnte ich noch mit mir selbst übereinstimmen, also: mit den eigenen Erwartungen im Einklang sein, und zwar einschließlich der Erwartungen der anderen, wenn die Erwartungen von Gesellschaft und Vorgesetzten immer weiter überbordeten? Von „Entschleunigung“ sprachen sie zu Beginn der Sitzung und erteilten neue Aufträge am Ende des Meetings. Ich wollte nicht mehr Verantwortung, vor allem für andere und für Dinge außerhalb meines freien Zugriffs tragen müssen, wollte frei mich fühlen und – ganz simpel – mich von einer anderen Art Leben überraschen lassen oder – ich würde im Selbstmitleid aufgehen. Trost in der Ferne und gelegentlich - im Rotwein finden. Die Fantasie hatte mich immer öfter in dieses Reich jenseits der bestehenden Bindungen entlassen. Einfach nur weg! Loslassen. Niemandem mehr Rechenschaft schuldig sein. In mir und bei mir sein, Natur, aber - paradox mags klingen -, auch Menschentrubel und die Begegnungen anderer genießen, ohne wirklich dabei irgendwie unnötig involviert zu sein, ohne verstrickt zu werden darin, was andere an Wollknäueln in den Ring der multiplen Fallstrickgelände hereinwarfen. Frei sein. Voyeur des Geschehens, das sich vor meinen Augen abspielen würde, unberührbar dabei und doch angekettet an Wirklichkeit, den Launen des Wetters freilich ausgesetzt. Geldmangel und schlechtes Wetter, die größten Hürden, aber eben nicht mehr vornehmlich der andere, jeder andere Mensch, und dessen Forderungen und Erwartungen. Das Gefühl, sowieso nichts ausrichten zu können, was die Vernunft gebietet, das hatte sich bei mir festgesetzt. Was nützte da politisches Engagement, wenn doch Geld und die Interessen der Mächtigen die Welt weiter regiert. Vor einem zu hohen, eigenen Anspruch hatten mich Therapeuten und Freunde gewarnt. Sie hatten gut reden! Sie hatten meine Probleme nicht! Fand ich doch meinen Anspruch gar nicht so hoch, wollte nur gute Leistungen zeigen, mit mir selbst zufrieden und im Einklang sein, Lösungen finden für das Problematische, nach vorne schauen. Und ich wurde dabei immer wieder ausgebremst. Das raubte Kraft, das zog hinab, das brannte mich aus. Sollte ich zurück in diese Tretmühle? Da waren nicht nur die Erwartungen der Frau, der Kinder, der Nachbarn, der Mitarbeiter*innen, die Forderungen der Vorgesetzten oder einer imaginären Gesellschaft. Denen konnte ich entsprechen, aber ich wusste, es wird mich wieder aushöhlen und alle Kräfte rauben bis zum nächsten Absturz… Hatte ich bisher nicht immer alles für andere getan? Um anderen zu gefallen? Ich merkte jetzt, dass ich etwas (anderes) für mich tun musste. Ich wollte nicht mehr abnehmen, damit ich für andere ansehnlicher und attraktiver wurde, sondern ich wollte es für mich, weil ich Mich wieder leiden und in den Spiegel schauen können wollte; nicht weiter Ballast mitschleppen, der mich drückt und hindert, das zu tun, was mir und meinem Körper Freude macht. Hatte ich früher geschrieben, um anderen zu imponieren, um etwas „Großes“ zu schaffen und zu Papier zu bringen, etwas Bedeutendes, um vielleicht berühmt und anerkannt zu werden, alles möglichst gedankenschwer, zu sehr Vorbilder nachäffend, so wollte ich von nun ab von mir selbst erzählen können. Ich fühlte mich nach solchen Gedanken gut, freier und ohne Zielvorgaben, meinem inneren Erleben, Wahrnehmen und Denken locker folgend wie ein Gerät mit einem vollen Akku. Die Kinder waren längst auf eigenen Wegen. Von dem, was ich mir wünschte, längst in unerreichbarer Distanz. Keine Kredite mehr, aber auch keinen Besitz, keine Immobilie. Ich hatte nichts, nichts geerbt, nichts erworben, nichts mit Geldanlagen aufgebaut, denn ich hatte diese noch so kleinen Beiträge für Geldanlagen nicht; nur ein Konto, lange Jahre lebten wir in den Miesen. Endlich hatten wir dann sogar etwas Geld ansparen können, aber es reichte nicht für Sorglosigkeit im Hinblick auf finanzielle Sicherheit. Größere Anschaffungen oder gar ein Immobilienkauf außer Reichweite, den Banken waren wir irgendwann schlicht zu alt für Kredite. Außerhalb meiner Zugriffsmöglichkeiten musste ich machtlos zusehen, wie die Zinseszinsen Vermögenden und Besitzern von Kapital bei geschickter Manövrierung an den Börsen ein Leben ohne echte Geldsorgen verschafften. Ihr Geld „arbeitet“, sagten die Vermögenden und dachten noch völlig selbstsicher, das wäre ihr redlicher Verdienst. Sie fürchteten nur den Börsencrash, den wirklich und dann hochklagend. Die, die alles am Laufen hielten und für Lohn arbeiteten, hielten eben auch das Börsenunternehmen so am Laufen, dass Aktionäre Renditen erhielten. So im Ganzen betrachtet, bedachten sie das nicht. Mittlerweile eingefahren und gebunden an diverse Pfadabhängigkeiten und blind folgend dem Mantra vom ewigen Wachstum und weiter steigender Effizienz aller möglicher Prozesse, hatten wir uns den Trends ergeben und ließen zu, dass nicht in Zukunft investiert und Folgeschäden der Lebensstile uneingepreist den Folgegenerationen überlassen wurden, sondern ein Status Quo mit atemberaubenden, Divergenz fördernden Kräften, getarnt als Fortschritt, erhalten blieb, der das Potential barg, alles mit sich ins Verderben zu führen. Ein Sechstel eines jeden Jahrgangs in den Industrienationen wird durch Zinseszins und Erbschaft in den Besitz einer größeren Summe Vermögens gelangen als die Hälfte der Bevölkerung sie im ganzen Leben durch Arbeit verdienen kann. Dabei können wir nur tatenlos zuschauen und müssen wieder mal unsere Neidgedanken unterdrücken. Denn: Wir könnten ja gänzlich und unverhofft auf dieser anderen Seite stehen. Wir schaffen es nicht einig zu werden, da der Dschungel der Meinungen die Klarsicht und Solidarität verschluckt. Und auch wenn wir das Gefühl haben, auf falschen Pfaden zu wandeln, wagen wir es nicht, sie zu verlassen, weil uns die Angst,...