E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Thomsen Pflege-Notstand
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7578-9917-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7578-9917-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Thomsen schildert im ersten Teil des Buches seine persönlichen und subjektiv gefärbten Erfahrungen über einen Zeitraum von 1988 bis 2023, was den Gegenstandsbereich Pflegenotstand angeht. Im zweiten Teil hat er diverse Publikationen und Notizen unterschiedlicher Couleur ungefähr chronologisch zusammengestellt; ein Mix aus Briefen, Gedichten, Fachartikeln und Statements zum berufspolitischen Geschehen. Möglicherweise eine Fundgrube für historisch Interessierte und Pflegewissenschaftler für Ihre Arbeiten zum Themenkomplex!
Michael Thomsen (Jg.1957) war Fachkrankenpfleger für Geriatrische Rehabilitation. Die Erfahrungen im direkten Kontakt mit Bewohnern und Angehörigen sowie die Sachzwänge der professionellen Pflege haben ihn empfänglich gemacht für kreative und pragmatische Lösungen. 2010 schloss er die Ausbildung zum Heimleiter ab und war dann Dozent, Autor diverser Fachartikel rund um die Themen Pflege und Demenz und bis 2018 als Verfahrenspfleger für Amtsgerichte tätig. 2013 initiierte er die Bewegung "Pflege am Boden". Er ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und fünf Enkeln. Seit der Berentung erschienen Aufsätze und Bücher zu Themen wie Demenz und Fixierungsvermeidung sowie Erzählungen, Essays, Kinderbücher und Gedichtbände.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Geriatrische Rehabilitation
1992 wechselte ich als stellvertretende Stationsleitung zu Geriatrie. Das wurde nach dem Referendariat zu meiner zweiten Hölle. Und das lag nicht allein an den Rahmenbedingungen und der Krankenhausleitung, sondern auch an den Mitarbeitenden. Vielleicht die Hälfte der Mitarbeiter war geeignet und davon waren noch welche, die nicht belastbar waren und ständig krank wurden. Sicher wäre die Krankheitsquote unter geringerem Arbeitsdruck und besseren Rahmenbedingungen nicht so hoch ausgefallen, aber das ständige Mit-Unterbesetzung-Arbeiten und die schlechte Organisation sowie die wenig privilegierte Stellung der Pflegebranche zehrte die guten und fähigen Krankenpflegekräfte über Gebühr aus, so dass irgendwann auch gesunde und relativ resiliente Leute schlapp machten oder kündigten. Zwischenzeitlich hatten wir in der neu eröffneten Klinik zwar Erfolge und das Ansehen der Klinik wuchs, aber spätestens als die Fallpauschalen eingeführt wurden und die Verweildauer der Patienten deutlich sank, ging uns doch nach und nach die Luft aus. Nur meine Weiterbildung zum Fachkrankenpfleger (Jahre später) gab mir am Schluss noch etwas Zuversicht und Hoffnung, so dass ich mich, zumindest teilweise, dem Hamsterrad entziehen konnte. Aber die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich Organisation und zur Personalbesetzung gegenüber meinen Vorgesetzten ließen mich schließlich aktiv über Alternativen nachdenken und suchen. Anfänglich fehlte es an Equipment und Material, wie Bettseitenteile und Duschhocker, teilweise aber auch an fortgebildetem Personal. Später rieb uns die Handlangerfunktion gegenüber den anderen Berufsgruppen auf. Gesundes Selbstbewusstsein und pflegefachliches Wissen, sowie rhetorisches Geschick waren Mangelware. Verbesserungsvorschläge und Initiativen meinerseits wurden vereinnahmt und von anderen (Berufsgruppen) gern ohne Skrupel an ihr Jackett geheftet. Aber vor allem die Arbeitsintensität korrumpierte Gesundheit und Zuversicht. Ich werde bis heute einige Dienste nicht vergessen. Einmal war es derart anstrengend, dass ich sogar zu spät zum Nachtdienst kam, weil ich nach dem vorangegangenen Nachtdienst! verschlafen hatte. In der Nacht zuvor hatte eine Ärztin bei einer kritischen Patientin mir aufgetragen, alle 15 Minuten Blutdruck, Puls und Atmung zu kontrollieren. Das war schlichtweg unmöglich, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren und schaffte mehr schlecht als recht noch drei oder vier Mal in den letzten fünf Stunden diesen Auftrag zu erfüllen, der aus meiner Sicht zudem übertrieben, zumindest unverhältnismäßig, war. Die meisten Ärzte scherten sich einen Dreck um das Pflegepersonal. Ihnen war schlichtweg egal, was pflegerisch (und nicht selten medizinisch notwendig!) zu tun war; sie sahen es nicht! Unsere Klagen gelangten nicht an ihr Ohr oder sie hielten es für übertriebenes Gestöhne und wollten es einfach nicht mehr hören. Allerdings gelang es mir bei den vorgesetzten Ärzten einen guten Ruf zu erarbeiten. Man lobte mein Fachwissen, meine Umsicht und mein Organisationsgeschick und sparte da nicht an Lob. Das tat mir gut und hielt mich länger aufrecht als viele andere. Die Fachweiterbildung zum „Fachkrankenpfleger für Geriatrische Rehabilitation“ im Bildungszentrum des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe unter der Leitung von Karla Kämmer begann ich im April 1996 und beendete diese im Februar 1998 mit der Note 1,6. Highlights waren hier die Hospitationen in Hannover-Langenhagen und Heidelberg. In Ansehung der hohen Unzufriedenheit der Mitarbeiter im Hinblick auf ihr pflegerisches Selbstverständnis schrieb ich am 8. August 1999 im Namen mehrerer Stationen eine Überlastungsanzeige an die Klinikleitung, die Pflegedienstleitung und die Betriebsratsvorsitzende. Damals wusste ich noch nicht, welche Kriterien für eine solche Anzeige zu erfüllen sind und machte also den Fehler erstens zu lang zu schreiben und zweitens keine konkreten Fälle anzugeben. Hier der Text: „Hiermit stellen die Pflegenden der Stationen *** fest, dass ein deutliches Missverhältnis besteht zwischen der Pflegebedürftigkeit der Patienten einerseits und der Quantität des Personals auf der anderen Seite. Wir stellen fest, dass die Versorgung der uns anvertrauten Patienten speziell an den Wochenenden, in den Spätdiensten ab 17.30 Uhr, in der Nacht und phasenweise in der Frühschicht bis 9.30 Uhr nachweisbar zum Schaden der Patienten, zur nachhaltigen Verschlechterung des Arbeitsleistungsvermögens mit hoher Krankheitsanfälligkeit, zu massiven Verschlechterung des Arbeitsklimas und zum Anstieg von Überstunden geführt hat. Stürze von Patienten, entstandene Dekubiti, Zunahme von Spastik bei Apoplektikern, Zunahme von Harnwegsinfekten, unnötigen Dauerkathetern, Aspiration von Flüssigkeiten, unzureichende Trinkmengen, zunehmende Aggressionen bei Demenzkranken, Kontrakturen, Verweigerung von Mitarbeitern, Spätdienst zu tun (Überlastung!), und vieles mehr! Grundsätzlich müssen zunächst die examinierten Pflegekräfte genötigt werden, Ausfallzeiten von Kollegen aus ihrer geplanten Freizeit heraus zu kompensieren. Im Ergebnis wird ihnen die Regenerationsmöglichkeit sowie die Wahrnehmung familiärer Verpflichtungen genommen. Sie wagen kaum noch, ans Telefon zu gehen, da jeder Anruf ein Aufruf zum Dienstantritt außer der Reihe sein könnte. Ein Überstundenberg und eine zunehmende Krankheitsanfälligkeit wird so systematisch aufgebaut. Erfahrungsgemäß sind die anfallenden Überstunden nicht auszugleichen! Frisch examinierte und neue Mitarbeiter werden von vornherein verheizt und können nicht fachgerecht eingearbeitet werden, sie stellen recht rasch Versetzungsanträge, kündigen oder zeigen sonstige, individuelle Fluchtreaktionen (Burnout, Stundenreduzierung, Krankmeldung, Verweigerung von Engagement, Anschaffung eines Anrufbeantworters, etc.) oder sie verbreiten - aus verständlichen Gründen - ein unerträgliches Stimmungs- oder Betriebsklima. Dieser Zustand hält seit geraumer Zeit an. Am vergangenen Wochenende ist die Situation derart eskaliert, dass die Pflegenden sich nicht anders zu helfen wussten, als ihre Überlastung und die damit verbundene Gefährdung für die Patienten und für sich selbst, sowie den Imageverlust für das Klinikum, der Betriebsleitung zum Ausdruck zu bringen. Wir erwarten von Ihnen ernsthafte Reaktionen (Ernstnehmen unserer Anzeige, fundierte Analyse der Missstände und deren Ursachen und konkrete, praktikable Problemlösungsvorschläge unter Beteiligung der Betroffenen)! Wir sind nicht länger bereit, die Gefährdung von Patienten auf der einen Seite und unserer eigenen Gesundheit auf der anderen Seite in Kauf zu nehmen, ohne dies deutlich zu machen! Wir sehen uns bei einer Besetzung wie am vergangenen Wochenende nicht in der Lage, im Sinne aktivierender und rehabilitierender Pflege arbeiten zu können. Zukünftig werden Patienten, die eigentlich mobilisiert werden sollten, am Wochenende im Bett verbleiben müssen und dort versorgt werden wie im Akutkrankenhaus. Eine Versorgung im Sinne des allgemeinen geriatrischen Standards kann mit dem bestehenden Personalschlüssel nicht gewährleistet werden! Wir weisen im Übrigen darauf hin, dass der Personalschlüssel deutlich unter den allgemeinen Richtwerten für Geriatrische Kliniken liegt und nicht mit PPR-Anhaltszahlen zu berechnen ist! Dies kann belegt und demonstriert werden. Gerne sind wir bereit, objektive Beweise für unsere Überlastung zu erbringen.“ Und wie das bei Verantwortlichen höherer Ebene und in der Politik ja erfahrungsgemäß üblich ist, gab es zwar anschließend ein paar Gespräche, aber ändern tat sich - nichts! Ich selbst war immer sehr froh, wenn ich für ein oder zwei Wochen in Essen im Rahmen der Fachweiterbildung untertauchen konnte oder zum Praktikumseinsatz nach Hannover oder Heidelberg konnte. Ich hatte mit dieser Weiterbildung viel Glück. Denn hochkarätige Dozenten und ein wirklich anspruchsvolles Curriculum begleiteten mich dort. Karla Kämmer, Andreas Kutschke, Dr. Jan Wojnar, Burkhard Bruns, Marlies Beckmann, Siegfried Huhn, Christine Sowinski, um nur ein paar zu nennen, leiteten die meisten Kurse. Ich lernte viel zum Themenkomplex Geriatrie, zum Qualitätsmanagement und alles, was mit Führung und Teamarbeit zu tun hatte. Die Bezirksregierung akzeptierte später die nicht zuletzt zeitlich sehr umfangreiche Weiterbildung insoweit, dass sie für die Genehmigung der Tätigkeit als Pflegedienstleiter im Altenpflegeheim ausreichte. Nach der Fachweiterbildung sollte ich dann mit einer halben Stelle als Praxisanleiter arbeiten. Das Ganze konnte ich angesichts der ständigen Personalknappheit aber nicht umsetzen, musste zudem öfter den Notnagel spielen und einspringen. Da war mein Abwandern eigentlich kein Wunder. Erst Ende 2000 wurde ein sogenannter „Springerdienst“, den ich schon lange gefordert hatte, für die drei Stationen geschaffen, in der Regel ein Zivi oder ein...