E-Book, Deutsch, Band 18, 424 Seiten
Reihe: edition fünf
Trapido Jonglieren
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-942374-60-6
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 18, 424 Seiten
Reihe: edition fünf
ISBN: 978-3-942374-60-6
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Familiengeschichte von Shakespearescher Leichtigkeit: Christina ist kein liebes Mädchen, auch wenn sie es gerne wäre. Ständig muss sie ihre Stachel ausfahren. Vor allem der Vater mit seinen extravaganten Ideen geht ihr gegen den Strich. Ihre Mutter hingegen hat zu wenig Biss, und die Großmutter, anfangs ihre liebste Verbündete, erweist sich als gnadenlos engstirnig. Nur Pam, ihre Adoptivschwester, liebt sie von Herzen. Kein Wunder, dass ihr Weg zu den Menschen, mit denen sie durchs Leben gehen möchte, nicht geradlinig verläuft. Im Internat lernen Christina und Pam die beiden Freunde Jago und Peter kennen. Allen vieren hat das Leben Schweres mitgegeben. Durch einen tragischen Vorfall werden sie in alle Winde zerstreut. Jahre später finden sie sich in Oxford wieder, zu einem Happy End mit glücklichen Paaren. Wer mit wem - das bleibt bis zum Schluss spannend. 1994 zuerst erschienen, war 'Jonglieren' in England ein Bestseller, die erste Veröffentlichung in Deutschland folgte 1995. Als Klassikerin weiblicher Erzählkunst findet Barbara Trapido nun ihren Platz bei der edition fünf.
Barbara Trapido (*1941 in Kapstadt) verließ Südafrika 1963 und lebt bis heute als freie Schriftstellerin in Oxford. Sie ist berühmt für ihren Witz und die Freiheit, die aus ihren Figuren spricht. Drei ihrer sechs Romane wurden für den Whitbread Prize nominiert, die Romanbiografie 'Frankie & Stankie' für den Man Booker Prize.
Weitere Infos & Material
JAGO, PETER UND DER HUNDSSTERN DIE VERLORENEN SÖHNE
Peter war nicht immer Peter gewesen. Bis zu dem Tag am Strand von Lyme Regis, als seine Mutter den englischen Lehrer kennengelernt hatte, hatte er sich als Pietro gekannt, obwohl seine Großmutter ihn immer Pierre gerufen hatte. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr hatte er mit seiner Mutter allein im Dachgeschoss eines hohen grauen Mietshauses in Paris gewohnt, fünf Minuten vom Jardin du Luxembourg. Nach dem Umzug hatte er sich zunächst große Mühe gegeben, nicht mehr daran zu denken, nicht weil ihm die Zeit dort nicht lieb gewesen wäre, sondern weil er, gezwungenermaßen, gewissenhaft danach strebte, Engländer zu werden. In der Französischstunde in der Schule sprach er annehmbar Französisch, aber nicht so fließend, dass seine Mitschüler auf die Idee kommen konnten, ihn wieder »Grenouille« oder »Mist-jöh Jérémie Pêche-à-ligne« zu nennen. Er erinnerte sich daran, dass er in einer Art begehbarem Schrank in der Dachschräge neben dem Schlafzimmer seiner Mutter geschlafen hatte – ein dreieckiges tobleroneschachtel-förmiges Prisma, welches so klein war, dass seine Matratze den ganzen Fußboden eingenommen hatte. Wochenends hatte er seine Spielsachen auf dem Fußboden im Schlafzimmer seiner Mutter ausgebreitet, auf einem blassgrauen Teppich. Er erinnerte sich daran, dass seine fünf Plüschtiere auf der Fensterbank im Schlafzimmer seiner Mutter gewohnt hatten und dass dahinter ein Labyrinth aus grauen Schieferdächern zu sehen gewesen war. Tauben waren über die Dachfirste stolziert, und manchmal hatte er zugeschaut, wie sie von einer trittsicheren gescheckten Katze gejagt wurden. Er wusste, dass sein verstorbener Vater Rennfahrer gewesen war, aber es war – für ihn als einen Menschen, der dem Himmel näher war als der Erde – ein kleiner Schritt gewesen, ihn in seiner Phantasie in einen Piloten umzuwandeln, der eines Nachts in einem Doppeldecker über die Dächer fliegen und sich, wie die Tauben, auf einem Dachfirst niederlassen würde. Peter zitterte bei dem Gedanken, dass sein Vater mit der großen Fliegerbrille unaufhaltsam auf sein Fenster zuschritt und hereingeklettert kam wie Peter Pan. Er hatte Angst vor Peter Pan. Er hatte Angst davor, dass sein Vater wiederkommen könnte. Er hatte Angst davor, dass le père Noël durch den Schornstein kommen könnte. Er hatte vor fast allem Angst, außer vor seiner Einsamkeit. Er empfand die Sterne als zufriedenstellende Freunde. Als Einzelkind, als Stubenkind, als Dachstubenkind stand er in gutem Kontakt mit den Sternen. Er wusste, dass das Sonnensystem, das unserem am nächsten liegt, 1.600.000 Lichtjahre weit entfernt war und dass man die Zahl auch als 16 × 105 schreiben konnte. Er wusste, dass die Araber das Astrolabium erfunden hatten. Er wusste, dass die Sterne große leuchtende Gaskugeln waren und dass junge Sterne sich über Millionen von Jahren zu Roten Riesen und Weißen Zwergen entwickelten. Er kannte die Zwillinge und den Widder und den Großen Bären und den Kleinen Bären. Er kannte die Geschichte von Ariadnes Krone. Er wusste, dass die Venus der Morgen- und der Abendstern war. Er kannte Sirius, den Hundsstern. Er wusste, dass die beiden Sterne so weit voneinander entfernt waren, dass die Entfernung nur in unvorstellbaren Welleneinheiten gemessen werden konnte. Er wusste, dass Distanz etwas Gutes war. An dem Tag im April, der alles veränderte, war Peter am Strand von Lyme Regis, wo er mit seiner Mutter Tennis spielte. Er hatte sie zu einem Fototermin dorthin begleitet, weil er nicht bei seiner Großmutter bleiben konnte. Sie hatte kürzlich eine künstliche Hüfte bekommen und war erst zwei Wochen zuvor wieder aus dem Krankenhaus gekommen. Sie waren von Paris aus geflogen, in einem Flugzeug, das dem Doppeldecker, mit dem sein Vater auf dem Dach landen würde, beruhigend unähnlich war, und hatten in einem Hotel am Meer gewohnt. Peter erinnerte sich daran, dass er das Strandtennisspiel in einem Zeitungskiosk gesehen und so lange gebettelt hatte, bis er es bekam. Zwei gelbe Plastikschläger und vier gelbe Schaumgummibälle. Er war nicht sehr sportlich, aber er hatte bei seiner Großmutter im Fernsehen Björn Borg gesehen, und die leuchtend gelbe Farbe der Schläger und Bälle hatte ihn gelockt. Er entsann sich seiner Enttäuschung und Frustration darüber, wie schwer das Spiel war. Wenn Maman ihm den Ball zuspielte, verwehten die blöden Bälle immer im Wind und landeten weit weg, so dass er seine Zeit damit zubrachte, sie wiederzuholen. Das Laufen auf dem Sand war unangenehm. Wie Blei in den Schuhen, und jedes Mal, wenn er selbst einen Aufschlag versuchte, entwischten ihm die Bälle und landeten hinter ihm im Sand. Als die Zeit zum Mittagessen näher rückte, wurde Peter reizbar und halsstarrig. Er nörgelte, fand alles gemein und gab Maman die Schuld. Und Maman trug jenen vertrauten, halbkonzentrierten Gesichtsausdruck, der ihm sagte, dass sie körperlich zwar anwesend, mit ihren Gedanken aber weit, weit weg war. Weder sie noch seine Großmutter waren je gute Spielkameraden gewesen. Peter warf den Ball kräftiger hoch denn je und schleuderte – nachdem er wieder, diesmal mit einem wütenden Schwung, ins Leere geschlagen hatte – den Schläger hinterher. Er flog im hohen Bogen davon und landete irgendwo hinter ihm. »Pietro!«, rief Maman, und dann sagte sie: »Oh, excuse me, sir«, als wäre ihr etwas ziemlich peinlich. »Pietro, va chercher la raquette et demande pardon au monsieur.« Peter drehte sich um und sah in einiger Entfernung hinter sich einen älteren Herrn in einem Liegestuhl, der den Kragen eines curé trug und einen alten Strohhut. Er saß neben einem jüngeren Mann, der von seiner Zeitungslektüre aufgeblickt hatte. Er sah, dass der alte Herr den Plastikschläger in der Hand hatte. »Non!«, sagte Peter so heftig, dass man seine Schüchternheit für Ungezogenheit halten konnte. »Non!« Doch zu seinem Entsetzen erhob sich der alte Herr aus seinem Liegestuhl und kam zielstrebig auf ihn zu. Peter erstarrte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er erkannte, dass der von ihm getroffene Mann sich in freundlicher Absicht näherte. »Hör mal, junger Mann«, sagte der alte Herr. »So kann man doch nicht Tennis spielen.« Gentille war von dem alten Herrn bezaubert. Er amüsierte sie. Es kam in diesem Leben so selten vor, überlegte sie, dass Menschen einen Typ verkörperten, und nun hatte sie hier einen kleinen, absurden Ausschnitt aus dem alten Bilderbuch-England vor sich, einen Geistlichen mit Strohhut und aufgerollten Hosenbeinen, der sich an einem Strand zu einem kleinen Jungen aufmachte, um mit ihm an seinem Aufschlag zu arbeiten. Ihn mit ihrem Sohn zu beobachten, machte ihr Freude und zauberte ein wenig Farbe in ihr blasses, teilnahmsloses Gesicht. Von Gentille ging eine Ruhe aus, ein vollkommenes Fehlen jeder Launenhaftigkeit, das auf Männer oft anziehend wirkte. Deshalb nahmen sie irrtümlich an, dass sie verletzlich sei; Gentille war jedoch außerordentlich selbstsicher. Unterdessen hatte der alte Herr Peter den Schläger richtig in die Hand gesteckt, ihm mit Hilfe von Zeichensprache ein unsichtbares Tennisnetz gezeigt und den Jungen beim rechten Unterarm und an der Schulter gepackt. Gentille wusste, dass Peter kein Wort von dem verstand, was der alte Herr sagte, aber er ging bereitwillig auf den Geist der Unterweisung ein. »Denk dran«, sagte der alte Herr gerade, »rechte Schulter nach hinten. So ist es richtig! Das ist auf jeden Fall schon hundert Prozent besser!« Gentille hatte sich nicht nur für den alten Herrn begeistert. Sie war schon mit einer Vorliebe für bestimmte englische Eigenheiten nach England gekommen. Das war ihre spezielle Form einer leisen Frankophobie. Während sie Leuten in England wie der Inbegriff alles Französischen erschien, war Gentille in Frankreich durch ihre Herkunft und Disposition eine Außenseiterin. Sie stammte aus einer Familie von Außenseitern. Ihre Großmutter mütterlicherseits war eine hellhäutige, blauäugige polnische Jüdin gewesen, die auf wundersame Weise die Räumung der Klinik durch die Gestapo überlebt hatte, weil sie in den letzten Wehen aus Angst davor, totgetrampelt zu werden, in eine dunkle Nische gekrochen war. Eine Stunde darauf hatte sie mutterseelenallein in einer stockfinsteren Wäschekammer ihre Tochter zur Welt gebracht, sie in ein Handtuch gewickelt und ihr den Schleim aus den Augen geleckt. Sie wusste, dass es mit allem in ihrem bisherigen Leben restlos vorbei war. Jung, frisch verheiratet und sehr verliebt, wusste sie, dass sie kein Zuhause und keine Familie mehr hatte und dass sie ihren Mann nie wiedersehen würde. Im Laufe der nächsten Jahre hatte sie sich auf einer langwierigen Odyssee größtenteils zu Fuß nach Frankreich durchgeschlagen. Dort hatte sie ein kränkelnder, alternder Krämer aufgenommen und in den Laden gesteckt. Eine Weile darauf...