E-Book, Deutsch, 182 Seiten
Tschinke / Rogner Recovery-orientierte Praxis in der psychiatrischen Pflege
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-042196-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kritische Reflexion, praktische Umsetzung und Zukunftsaussichten
E-Book, Deutsch, 182 Seiten
ISBN: 978-3-17-042196-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1 Einführung
Ingo Tschinke Wozu nun ein Buch über Recovery in seinen verschiedenen Formen? Was bedeutet Recovery eigentlich und wo bestehen Unterschiede zum dem gängigen sozialpsychiatrischen Versorgungssystem und dem biopsychosozialen Modell, welches zur Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen eingesetzt wird? Diesen und anderen Fragen möchten wir in diesem Buch nachgehen, denn Recovery ist in seinen verschiedenen Ausprägungen recht vielschichtig und kann dadurch auch etwas undifferenziert erscheinen (DGPPN 2019, S. 48). Als klinisches Recovery hat es etwas mit der regulären und standardisierten Behandlung von psychischen Erkrankungen zu tun, als persönliches Recovery ist der »Recovery Weg« höchst individuell und eine Angelegenheit der Betroffenen, die dadurch einen hoffnungsvollen Weg der Selbstbestimmtheit, Selbstbefähigung und -wirksamkeit, Akzeptanz und Autonomie beschreiten können (Slade 2009). Die Form der Recovery-Orientierung in der Haltung der professionellen psychiatrisch tätigen Berufsgruppen hat viel mit einer inneren Grundhaltung (normative Ethik) im Sinne einer Recovery-orientierten Praxis zu tun, die von den Berufsgruppen die Umsetzung von spezifischen Werten als auch die Einhaltung von bestimmten Prinzipien in Umgang und dem Verhalten gegenüber den Betroffenen einfordert (Barker 2011a). Des Weiteren ist Recovery ein gesellschaftlicher Prozess, um einen aufgeschlosseneren Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft gewährleisten zu können (Pilgrim & McCranie 2013, S. 169), und ein Grundkonzept zur Erstellung von gesundheitspolitischen und medizinischen Richtlinien (Slade 2009, S. 74) und Leitlinien (DGPPN 2019). All dies ist sehr komplex – weitaus komplexer als das, was die psychiatrische Pflege und die behandelnden Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen bisher in Begleitung und Behandlung umgesetzt haben (Le Boutillier et al. 2015a; Le Boutillier et al. 2015b). Auch für die Betroffenen ist das persönliche Recovery im Vergleich zum klinischen Recovery – die Behandlung im »Business as usual« – sehr viel komplexer in Bezug auf das Verständnis der eigenen Transformation (Beck 2021) und des posttraumatischen Wachstums (Slade et al. 2019), die Krankheit als Chance zu sehen und gestärkt aus der Krise hervorgehen zu können. Diese komplexe Intervention führt zu einer völligen Veränderung der Sichtweise der psychiatrischen Versorgung, in der nicht mehr die psychische Erkrankung und deren Behandlung im Vordergrund steht, sondern alles sich um das persönliche Recovery der Betroffenen dreht, wobei Behandlung nur noch eine Option der Bewältigung ist, aber nicht mehr die Primäre (Slade & Longden 2015). Aus diesem Grunde lassen wir in diesem Buch alle Beteiligten durch die verschiedenen Autoren zu Wort kommen – sowohl die Betroffenen mit ihren persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen mit der Psychiatrie und ihrem persönlichen Recovery-Weg als auch die psychiatrische Pflege sowie Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, um Perspektiven für diese Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung darzulegen. Seit Ende der neunziger Jahre ist das Prinzip des persönlichen Recovery immer mehr in die Diskussion gerückt, da sich feststellen ließ, dass die bisherige Versorgung Menschen von dem System abhängig machte, dass das Heilungskonzept bei schweren psychischen Erkrankungen nur unzureichend funktionierte und die Menschen somit in eine Chronifizierung ihrer Erkrankung führte (Shepheard et al. 2008; Amering & Schmolke 2012). In den deutschsprachigen Ländern ist das Konzept des persönlichen Recovery zum Umgang mit Betroffenen in der Diskussion von Pflegefachpersonen, Ärzt*innen, Psycholog*innen und wird in Behandlungsleitlinien auch berücksichtigt (DGPPN 2019). Die Versorgungsrealität im psychiatrischen Versorgungssystem unterliegt noch immer einer fürsorglichen sozialpsychiatrischen Prägung mit einer Grundausrichtung auf das biomedizinische Modell (Prestin 2019). Dadurch stehen die Reduktion von Symptomen und die Fokussierung auf Probleme und Defizite in den Behandlungskonzepten noch häufig im Vordergrund. Dies fördert eher die Asymmetrien in der Zusammenarbeit zwischen Betroffenen und Professionellen, sodass nicht die Betroffenen, sondern die professionell psychiatrisch Tätigen als Expert*innen der Erkrankung angesehen werden können und eine Begleitung und Behandlung auf Augenhöhe durch ein »Shared Decision Making« nur unter dem Fokus der Behandlung stattfinden kann (Deegan & Drake 2006). Eine qualitative Studie zu den Widersprüchlichkeiten bei der Nutzung von Recovery aus Großbritannien zeigt anschaulich, dass, wenn das biomedizinische Modell den Fokus der Behandlung (Medikation und Therapie) und der Beziehung zwischen Betroffenen und Professionellen bestimmt, immer noch die Erkrankung und die Reduktion der Symptome im Vordergrund stehen und weniger die subjektiven Wünsche, Bedürfnisse und das Lebensumfeld der Betroffenen, auch wenn die Professionellen die Förderung des persönliche Recovery und eine Recovery-Orientierung für ihre Arbeit internalisiert haben (McCabe et al. 2018). Dadurch werden die Machtstrukturen der psychiatrischen Versorgung weiterhin manifestiert, wodurch vermehrt paternalistische Entscheidungen für die Betroffenen getroffen werden, was zu einer gesteigerten Selbststigmatisierung führen und das Ergebnis der Behandlung negativ beeinflussen kann (Hamann et al. 2017; McCabe et al. 2018). Vielfach kommt es dazu, dass das persönliche Recovery »nur« als unterstützendes Konzept in der Behandlung betrachtet wird, was aufgrund seiner »Komplexität« zeitweise vergessen wird (Slade et al. 2014). Dadurch erhält sich eine starke Fokussierung auf die psychische Erkrankung durch die Betroffenen selbst, da sie keine anderen Optionen kennenlernen, und auch der psychiatrisch Tätigen, weil sich das Psychiatrie-System in der vorherrschenden Form autopoetisch erhält (Goffman 2014; Berghaus & Luhmann 2011). Selbst Fachleute, die sich kritisch mit dem Recovery-Konzept auseinandersetzen, gehen davon aus, dass Betroffene weiterhin die Hierarchien und Machtstrukturen der Psychiatrie in Deutschland und der Schweiz als gegeben akzeptieren müssten (Dammann 2014), obgleich Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass es auch anders geht (van Veldhuizen & Bähler 2017; Bradstreet & McBrierty 2012). Abb. 1:Versorgung mit dem Fokus auf die Erkrankung und Versorgung (vgl. Beck 2021, S. 5) Das richtige Verständnis des persönlichen Recovery kehrt das System um, denn Recovery (Genesung) ist der Kern der persönlichen Entwicklung der Betroffenen und die Behandlung kann dabei ein Mosaikstein des persönlichen Recovery sein, muss es aber nicht. Das persönliche Recovery steht mit seinen subjektiven Werten, Empfindungen, Bedürfnissen und dem individuellen Kontextbezug (? Abb. 2) im Vordergrund (Klevan et al. 2021). Dies kann mit oder ohne Behandlung (Medikamente, Therapie etc.) geschehen, je nach Bedarf der Betroffenen, der durch das Shared Decision Making zu ermitteln ist (Slade 2017). In schweren Krisen und lebensbedrohlichen Situationen, kann es sein, dass die Ausprägungen der Erkrankung in den Vordergrund rücken, um die Betroffenen zu schützen, trotzdem darf dieser Aspekt des persönlichen Recovery nicht vergessen werden (Prytherch et al. 2021). Bei dem persönlichen Recovery geht es in erster Linie darum, mit Hilfe von Hoffnung und dem Optimismus das Leben wieder in den Griff zu bekommen, sowie der Übernahme von Selbstverantwortung, der »Rück«-Gewinnung von Sinnfindung, der Bildung einer neuen Identität und der Verbesserung von Lebensqualität trotz Symptomen neue Wege zu finden. Dazu muss es Betroffenen auch gelingen sich aus der Abhängigkeit eines Konformität und Anpassung fordernden Psychiatriesystems zu lösen, solange sich das System nicht völlig neu ausrichtet. In Zukunft sollten neue Wege für die Betroffenen als auch die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung gefunden werden, die es den Betroffenen durch die Transformation des posttraumatischen Wachstums ermöglicht, zu eigenen Stärken und Identitäten zu finden, die sie befähigen, das System nach ihrem Bedarf nutzen. Abb. 2:Personen- und Recovery-zentrierte Versorgung (vgl. Beck 2021, S. 6) Das persönliche Recovery der Betroffenen ist subjektiv und bezieht sich sowohl auf den Entwicklungskontext der Krankheit als auch auf die Lebenswelt der Betroffenen. Aus diesem Grunde spielt in der Begleitung von Menschen mit psychischen Erkrankungen die Erkundung der Lebensgeschichte und das Verstehen des Kontextes des individuellen Lebens eine wichtige Rolle. Dies möchten wir auch durch die Geschichten, die die Betroffenen in diesem Buch darlegen, begreiflich machen. Sie schildern ihre persönlichen Lebensgeschichten und damit auch die persönlich wahrgenommen Faktoren, die ihnen geholfen, aber auch Dinge, die sie bei ihrem persönlichen Genesungsweg gehemmt haben. Dabei müssen alle Aspekte des Lebensumfeldes berücksichtigt werden, die das Leben des Menschen ausmachen, um den Kontext zu verstehen und damit Stärken und Ressourcen...