E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Ullrich / Diefenbach Sprechverbot
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7453-1860-9
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Political Correctness unsere Gesellschaft spaltet
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7453-1860-9
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sprechverbote durchziehen unseren Alltag. Widersetzt man sich ihnen, läuft man Gefahr, im Namen der Political Correctness als rassistisch, frauenfeindlich oder homophob zu gelten. Wie es zu diesem Meinungsdiktat kommen konnte, zeichnen der Medieninformatiker Daniel Ullrich und die Wirtschaftspsychologin Sarah Diefenbach in diesem Buch eindrucksvoll nach: Sie nennen die Interessen hinter dem Gutgemeinten, zeigen, welche Rolle die alten und neuen Medien dabei spielen, und machen an zahlreichen Beispielen klar: Sprechverbote erzeugen Spannungen in der Gesellschaft, die in eine starke Polarisierung münden. Die Folge: eine Spaltung unserer Gesellschaft.
Dies ist eine Neuausgabe des 2017 erschienenen Titels Es war doch gut gemeint. Wie Political Correctness unsere freiheitliche Gesellschaft zerstört
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
AKT 1
Am Anfang war die gute Idee
Großbritannien im Jahr 2014. Wir blicken auf die Geschehnisse im Städtchen Rotherham in Nordengland. Wie jetzt enthüllt wurde, sind hier über einen Zeitraum von 16 Jahren hinweg mehr als 1400 Kinder und Jugendliche Opfer systematischen Missbrauchs geworden. Sie wurden eingesperrt, misshandelt, vergewaltigt und von den Tätern an Freunde zum weiteren Missbrauch weitergereicht. Ein 12-jähriges Mädchen beispielsweise wurde von mehreren Männern in einem Auto missbraucht, von den Männern gab es Geschenke wie Süßigkeiten, Handys, Alkohol oder Drogen. Einige der missbrauchten Mädchen sagten später aus, sie hätten die Verbrechen für normal gehalten – einfach weil sie es nicht anders kannten. Die Umstände des Verbrechens verleihen der Gesamtsituation nochmals eine ganz besondere Brisanz: Den verantwortlichen Behörden waren die Vorgänge seit Jahren bekannt. Sowohl Polizei als auch Jugendämter schauten tatenlos zu. Immer wieder wandten sich Missbrauchsopfer hilfesuchend an die zuständige Polizei, nur um mit Ignoranz und Abwiegelungen abgespeist zu werden. Wie konnte es in einer westlichen Demokratie, in der Werte wie Minderheitenschutz hochgehalten werden, dazu kommen, dass selbst eine Bevölkerungsgruppe, die offiziell besondere Rücksicht und Förderung erfährt – nämlich Kinder, Mädchen –, jahrelang Qualen durchleben musste? Wie konnte es passieren, dass die Hilferufe der Opfer schlichtweg ignoriert wurden? Ein Grund für dieses scheinbar unerklärliche Verhalten war die Angst der Verantwortlichen. Nicht die Angst vor den Tätern. Angst vor der Öffentlichkeit, als Rassisten dazustehen, wenn sie die Täter öffentlich benennen: Die Täter kamen mehrheitlich aus Pakistan. Selbst als die Vorfälle nicht mehr zu leugnen waren, führte dies zu keiner ehrlichen Berichterstattung. Im Gegenteil nutzten Personen auf gehobenen Positionen in der Polizei und Politik ihren Einfluss und sorgten dafür, dass die Täterherkunft verschwiegen wurde. In einigen Fällen wird die Verhinderung von Ermittlungen und Berichten mit Selbstschutz zu tun gehabt haben, denn auch Stadträte und Polizisten mit pakistanischen Wurzeln sollen Kinderschänderringen angehört haben.1 In anderen Fällen führte schlicht die Einhaltung der Regeln der Political Correctness zu einem Innehalten der Ermittlungen. Was genau ist Political Correctness? Die Grundidee der Political Correctness ist die Vermeidung von Äußerungen, die eine Diskriminierung von Minderheiten und Unterprivilegierten schüren könnten. Hieraus folgt implizit ein Werk von Regeln und Normen, die negative Äußerungen über Minderheiten und Unterprivilegierte verbieten. Denn selbst wenn es der Wahrheit entspricht, könnten negative Aussagen über einzelne Angehörige einer Gruppe eine generalisierende Vorverurteilung und Diskriminierung dieser Gruppe insgesamt fördern, so die Argumentation gemäß PC-Ideologie. Verstöße gegen die Regeln der Political Correctness können eine entsprechende Sanktionierung nach sich ziehen, beispielsweise die öffentliche Verurteilung als Rassist bei Benennung negativen Verhaltens von Ausländern oder als Sexist bei Benennung negativen Verhaltens von Frauen. Wer die Regeln der Political Correctness missachtet, bringt sich also auch selbst in Gefahr. So kann die Entscheidung zwischen Einhaltung der PC-Regeln und der Verpflichtung gegenüber der Wahrheit im Sinne einer vollumfänglichen Darstellung der Fakten zu einem immensen inneren Konflikt führen. Als zugewanderte Pakistaner gehörten auch die Täter im Fall Rotherham zu einer schützenswerten Minderheit. Man habe den Eindruck erhalten, die ethnische Dimension des Kindesmissbrauchs solle heruntergespielt werden, beschreibt es der von Prof. Alexis Jay im Auftrag des Rotherham Metropolitan Borough Council verfasste Untersuchungsbericht.2 Der Fall in Rotherham ist eine besonders extreme Konsequenz falsch verstandener Political Correctness. Die Behörden stellen die PC-Regel, negative Äußerungen über Minderheiten zu unterlassen, über ihre eigentliche Aufgabe, nämlich den Schutz der Bevölkerung – hier der missbrauchten Mädchen. Das ist eine gravierende Verletzung der ihnen übertragenen Verantwortung, begleitet von den typischen Verhaltensweisen bei solch einem Konflikt: Schweigen, Ignorieren, Wegschauen, um am Ende höchstens das zuzugeben, was ohnehin längst bekannt ist. Der Fall Rotherham demonstriert, wie die Political Correctness groteske und äußerst schädliche Konsequenzen hervorbringen kann. Ob den verantwortlichen Behörden in vollem Maße bewusst war, was sie taten – nämlich die PC-Regel über das Recht der missbrauchten Opfer zu stellen –, ist fraglich. Möglicherweise hatten sie die PC-Regel bereits so internalisiert, dass jede Fähigkeit zur Reflexion und zum Abwägen von Verhältnismäßigkeiten abhandengekommen war. Auch die letztendliche Konsequenz des Falls von Rotherham ist charakteristisch für die Auswirkungen der PC-Ideologie. Statt tatsächlich das zu unterstützen, wofür die Political Correctness ursprünglich angetreten ist, nämlich Diskriminierung und Vorverurteilung vorzubeugen, schafft sie genau dafür eine Grundlage. Statt der Gesellschaft zuzutrauen, dass sie aus der Verurteilung von vier Männern pakistanischer Herkunft wegen Vergewaltigung nicht zwangsläufig den Schluss ziehen werde, alle Pakistaner seien Vergewaltiger, wird durch die Verschleierung in der Gesellschaft das Misstrauen geschürt. Wenn hier 16 Jahre lang vor den Augen der Behörden Pakistaner ihr Unwesen treiben dürfen – was passiert dann noch alles, von dem wir nichts wissen? Die Dunkelziffer wird (je nach politischer Orientierung) überschätzt, der Raum für unheilsame Spekulation ist eröffnet. In Anbetracht dieser destruktiven Effekte selektiver Berichterstattung haben sich in Deutschland bereits einzelne Zeitungen dazu entschlossen, »mit Fakten gegen Gerüchte« vorzugehen und die Nationalität von Straftätern konsequent zu berichten, um so möglichen Fehleinschätzungen, beispielsweise zur Zahl krimineller Flüchtlinge, den Boden zu entziehen.3 Die Mehrheit der Medien folgt jedoch der Richtlinie des Presserats, die vorsieht, dass die Zugehörigkeit von Verdächtigen oder Tätern zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten in der Regel nicht erwähnt werden soll, es sei denn, es bestehe ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders sei zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.4 Der Aspekt der Täterherkunft ist hier nur ein Beispiel für die letztlich destruktiven Auswirkungen der PC-Ideologie. Ein Gesamtproblem ist die Entwicklung der Political Correctness zu einem impliziten Regelwerk, das bestimmt, mit welchen Fragen, Fakten und Überlegungen Menschen im Rahmen medialer Berichterstattung konfrontiert werden dürfen, und das, wie Berichte von Hochschullehrern zeigen, mittlerweile auch das Spektrum erlaubter Debatten und Forschungsfragen in der Wissenschaft bestimmt.5, 6 Ein solches Regelwerk, das wie ein Filter über der Realität liegt, verfrachtet die Menschen in eine unmündige Position, nimmt ihnen das Denken ab und traut ihnen nicht zu, sich mit der nüchternen Realität auseinanderzusetzen. In vielen Fällen wirken die PC-Regeln im Hintergrund, ohne merkliche Komplikationen und ohne, dass dies von den Menschen als problematisch wahrgenommen wird. Insbesondere dann jedoch, wenn die Lücken zwischen Realität und PC-Regeln offensichtlich werden und Berichterstattung oder politische Appelle im Nachhinein als Täuschungsversuch erlebt werden, sind die Rückschlageffekte immens. Menschen wollen nicht bevormundet und nicht betrogen werden. Sie reagieren sogar äußert empfindlich auf derartige Versuche, und verlorenes Vertrauen in Medien und Politiker ist schwer wieder aufzubauen. Menschen, denen eigenständiges Denken und freie Meinungsbildung wichtig sind, suchen nach Alternativen. Auch extreme politische Gruppierungen erhalten Zulauf und nutzen die einseitige Positionierung von Medien und Politik im Sinne der PC-Ideologie als Aufhänger für ihre Forderungen, oftmals begleitet von Ideen über Verschwörungen zwischen »Systemparteien« und »Systempresse« bzw. »Lügenpresse«. Auch um diese Tendenzen einzudämmen, werden die Forderungen im Namen der Political Correctness immer extremer und Einschränkungen in der freien Meinungsäußerung und Wissenschaft immer gravierender. So wird die gut gemeinte Idee der Political Correctness schließlich zur Gefahr für die freiheitliche Gesellschaft. Doch gehen wir zunächst zurück zu den Anfängen der Political Correctness als gute Idee. Die Ursprünge der PC-Ideologie
Ursprung der Political Correctness war die Vorstellung,...