E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Vorländer Als die Mönche die Heimat verließen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-417-27089-1
Verlag: R. Brockhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historische Geschichten mit Impulsen für heute
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-417-27089-1
Verlag: R. Brockhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerold Vorländer, geboren und aufgewachsen im Rheinland, hat in Wuppertal und Heidelberg evangelische Theologie studiert. Nach dem Vikariat in Bad Honnef-Aegidienberg und Genf absolvierte er seinen Probedienst in Oberhausen. In 23 Jahren Gemeinde-Pfarrer in Köln hat er verschiedene Projekte gegründet (z.B. eine Jugendkirche) und war einige Jahre Vorsitzender des Rheinischen Arbeitskreises Missionarische Kirche. Durch etliche Reisen nach England, später auch Schottland und Wales hat er Feuer gefangen für angelsächsische und keltische Glaubensprägung. Er hat eine Ausbildung als Kirchenmusiker und systemischer Coach und ist seit über 20 Jahren als Autor, Referent und Liedtexter und -komponist tätig. Seit 2014 hat er die Leitung des Dienstbereichs Mission bei der Berliner Stadtmission und gehörte von 2015 bis 2023 zum Vorstand des Evangelischen Gnadauer Verbandes. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und liebt es, Neues kennenzulernen, neue Menschen und andere Länder. In seiner Freizeit spielen Musik, Wandern, Lesen (vor allem historische Romane) eine große Rolle.
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VORGESCHICHTE
in der eine konfliktreiche Vergangenheit zurückgelassen und Neuland erreicht wird
»Der Wind dreht und frischt immer mehr auf. Wir müssen das Segel reffen. Sonst schaffen wir es nicht. Seht ihr die Felsen dahinten? Direkt vor der Insel?! Dreht bei!«
Columcille, der im Bug auf einer großen Kiste saß, drehte sich um und nickte zustimmend. Er beobachtete, wie der Steuermann, der das Kommando gegeben hatte, auf dem schwankenden Boot behände zwischen den Ruderern nach vorne kletterte. Vier von ihnen halfen ihm, das Segel an der Rah festzuzurren, die anderen sechs hielten mit ihren Rudern das Boot im Gleichgewicht.
»Puh, das war höchste Zeit«, schnaufte der Steuermann, als er wieder im Heck auf den schweren Truhen saß und die Ruderpinne ergriff. Eigentlich war das Curragh, mit dem die dreizehn Männer die offene See überquerten, nicht mehr als eine Nussschale: ein mit Leder bespanntes Holzrahmenboot mit einem einfachen Segel und zehn Rudern. Curraghs waren perfekt für Binnengewässer und Küsten, aber nicht für eine Fahrt quer übers offene Meer. Sie hatten es trotzdem gewagt, aber die letzten fünfzehn Meilen hatten es in sich.
Columcille blickte wieder konzentriert nach vorne. Er war kein Seefahrer, sondern Mönch und Priester, auch wenn er schon oft in den Gewässern rund um Irland unterwegs gewesen war. Daher musste er sich voll und ganz auf die Fähigkeiten seiner zwölf Gefährten verlassen. Sie waren zwar ebenfalls Mönche, wie man an ihren braunen Kutten und ihrer keltischen Tonsur sofort erkennen konnte, aber als Laienbrüder hatten sie die unterschiedlichsten Berufe und waren alle erfahrene Seemänner. Genau deshalb hatte er sie ausgesucht.
Vor zwei Wochen waren sie von Doire, dem Nordhafen Irlands, aufgebrochen. Bei ruhigem Wetter hatten sie mit ihrem Lederboot die fünfzehn Meilen zur schottischen Halbinsel Kintyre mühelos zurückgelegt und waren dann ein Stück die Westküste hoch an Land gegangen. Hier hatte Columcille seine Gefährten an dem kleinen Hafen von Clachan zurückgelassen und König Conall mac Comgall von Dál Riata aufgesucht, einen entfernten Verwandten. Er hatte gehofft, von diesem ein geeignetes Stück Land, am besten eine Halbinsel oder Insel, zur Verfügung gestellt zu bekommen. Es war ein Wagnis, so wie die ganze Unternehmung. Wie erleichtert war er, als ihn Conall ausgesprochen freundlich empfing. Offenbar hatte der schon gehört, was passiert war, und wollte Columcille gern zu einem Neuanfang verhelfen.
Drei Tage später war Columcille ausgesprochen zufrieden zu seinen Gefährten zurückgekehrt, die bereits ungeduldig auf ihn warteten, und hatte ihnen die freudige Nachricht zugerufen, noch bevor sie nach seinem Erfolg fragen konnten: »König Conall mac Comgall von Dál Riata hat mir Land geschenkt! Iouan ist zwar nur ein winziges Eiland an der Westküste von Mull, aber dort werden wir als Pilger Christi Ruhe finden.«
Nun lag die besagte Insel vor ihnen, etwa eineinhalb Meilen entfernt, umringt von Klippen.
Von Kintyre waren sie in mehreren Etappen nach Westen gesegelt und gerudert, durch die Meerenge zwischen den Inseln Islay und Jura mit ihren 2?300 Fuß2 aufragenden kahlen Felsgipfeln und anschließend hinüber zu den Zwillingsinseln Oronsay und Colonsay, die bei Ebbe miteinander verbunden waren. Von der Kiloran-Bucht im Norden hatten sie am Horizont bereits die Berge von Mull gesehen. Links davon lag eine kleine Erhebung – das musste ihre Insel sein.
Was für ein erhebendes Gefühl! »Unsere Insel!« Columcilles Vorfreude war beim Anblick der Insel sprunghaft angestiegen. Da würde er als Abt mit seinen Gefährten neu anfangen und ein ganz besonderes Kloster gründen.
Aber diesmal spannten die seeerfahrenen Gefährten seine Geduld auf die Folter, denn sie wollten möglichst gute Bedingungen für das letzte Stück ihrer Reise haben. Und so hatten sie noch ein paar Tage gewartet, bis der raue Wind auf Süden drehte und abflaute und die See sich beruhigte. Früh am Morgen waren sie heute endlich aufgebrochen. Jetzt war es später Nachmittag und sie hatten ihr Ziel fast erreicht.
Der Wind hatte wieder gedreht, war immer stärker geworden und drückte seitlich gegen das Boot, sodass es sich schräg legte. Weiße Gischt tanzte auf den Wellen ringsum, bis sie vom Wind fortgerissen wurde.
»Los, legt euch in die Riemen, es ist nicht mehr weit!«, rief der schmächtige Steuermann von hinten.
Columcille saß aufrecht auf seiner Truhe und spähte nach vorne. Immer wieder schlug ihm die Gischt ins Gesicht, aber er verzog keine Miene. Auch wenn er kein Seemann war, in solch einer Situation wollte er bewusst Stärke und Unbeirrbarkeit zeigen, das war er seinen Leuten schuldig. Er kniff die Augen zusammen, damit ihm das Salzwasser den Blick nicht trübte. Jetzt konnte er erkennen, wonach er Ausschau hielt, und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach vorne.
»Wir müssen östlich an den Felsen vorbei«, rief er seinen Gefährten zu. »Conall hat es mir genau beschrieben. Hinter dem sechsten drehen wir nach Westen gerade gegen den Wind. Nach etwa tausend Fuß finden wir links von einer schroffen Felsnadel eine geschützte Bucht. Keine Angst. Gleich haben wir es geschafft.«
Das Manöver mit dem wild schaukelnden Curragh gelang. Eine Bucht mit unzähligen leuchtend weißen und bunten Kieselsteinen lag vor ihnen. Wenig später knirschte der Kiel auf dem Sand im flachen Küstenwasser. Columcille atmete erleichtert auf. Dann sprangen er und seine Gefährten ins Wasser und zogen das Boot an Land.
»Weiter«, rief der Steuermann. »Wir haben erst auflaufende Flut und bekommen heute Abend noch Sturm und Regen.«
Ächzend brachten die dreizehn Männer ihr Curragh am Ufer in Sicherheit.
»Gott sei Dank«, seufzte einer erleichtert. »Und jetzt?«
»Jetzt beten wir und bringen unserem dreieinigen Gott den Dank, der ihm gebührt«, antwortete Columcille und schaute von einem zum anderen. Stolz erfüllte sein Herz, leuchtend wie eine Sonnenblume. Sie hatten es geschafft! Genau wie erhofft am Vorabend des heiligen Pfingstfestes.
»…?und dann schlagen wir unser Nachtlager auf«, fuhr er fort.
»Werden wir hier siedeln?«, fragte einer.
»Nein, hier nicht. Quer über die Insel verläuft eine Niederung mit fruchtbarem Ackerland. Dort leben Bauern von einem kleinen keltischen Stamm. Mit ihnen wollen wir zusammenleben und ihnen das Evangelium bezeugen. Im Nordosten gibt es noch mehr fruchtbares Land, die Felsenkuppe von Dun I schützt es vor dem Westwind. Dreihundert Fuß ist sie hoch und man kann von dort außer Mull noch viele andere schottische Inseln sehen. Da werden wir unser Kloster gründen. Nach Schottland wollen wir blicken, nicht mehr nach Irland. Das ist Vergangenheit.«
Bald nach Sonnenuntergang schliefen die zwölf Laienbrüder, erschöpft von dem harten Rudertag, tief und fest unter dem als Dach aufgespannten Segel. Columcille dagegen lag noch lange wach. Der Wind rüttelte an dem Tuch, aber er nahm es kaum wahr. Mit seinen Gedanken war er in der Vergangenheit und ließ Stück für Stück sein bisheriges Leben vor seinem inneren Auge vorbeiziehen.
Als Prinz des stolzen irischen Fürstenhauses der Cenél Conaill war er geboren worden. Seine Eltern hatten ihn Crimthann genannt – Fuchs. Welch passender Name!
Weise Lehrer hatten ihn von klein auf begleitet. Priester Cruithne hatte ihm mit Brotstücken, die er in Buchstabenform ausgeschnitten hatte, Lesen und Schreiben beigebracht. Columcille schmunzelte bei der Erinnerung an diese besonderen Lehrmethoden.
Bilder der beiden Klosterschulen in Moville und Clonard tauchten aus seiner Erinnerung auf, ehrwürdige Gebäude aus Feldsteinen. Es war eine glückliche Zeit gewesen. Besonders von Abt Finian von Clonard hatte er viel gelernt. Überhaupt war ihm das Lernen nie schwergefallen. Die anderen Schüler waren manchmal neidisch gewesen, weil er immer die besonders interessanten Aufgaben erhalten hatte.
Schon mit Anfang zwanzig war Crimthann zum Priester geweiht worden und in den nächsten Jahren hatte er zwei berühmte Klöster gegründet, eins in Doire, von wo aus er nun mit den Gefährten gestartet war, und eins in Durrow am malerischen Fluss Erkina. Und er hatte bei dem Druiden Gemman die Dichtkunst der Barden gelernt. Zwanzig Jahre war das her. Nun war er 43 und buchstäblich aufgebrochen zu neuen Ufern.
Eine Windböe rüttelte an dem provisorischen Zeltdach und Regen setzte ein. Heftig prasselte er auf das dicke Tuch, aber die Gefährten schliefen ruhig weiter.
Der Mönch seufzte tief. Das zurückliegende Jahr war eine einzige Katastrophe gewesen! Lange hatte es gedauert, bis er eingesehen hatte, dass er selbst einen gehörigen Anteil daran gehabt hatte. Er hatte sich etwas auf seine Position, sein Ansehen, seine Intelligenz und seine Schlagfertigkeit eingebildet.
Angefangen hatte es damit, dass er auf ein kostbares Manuskript gestoßen war: die Psalmen, von Hieronymus auf Latein übersetzt. Heimlich hatte er begonnen, es nachts bei Kerzenlicht zu kopieren, obwohl Abt Finian ihm das ausdrücklich verboten hatte. Kurz vor dem Ende hatte er ihn jedoch erwischt. Auf Befehl des Hochkönigs Diarmait mac Cerbaill musste Crimthann das Manuskript Abt Finian übergeben.
Columcille schüttelte den Kopf über sich selbst und dachte: »Mit ein bisschen Demut wäre die Geschichte bestimmt anders ausgegangen.«
Doch es kam noch schlimmer. Er gewährte einem Prinzen aus Connaught Kirchenasyl, nachdem dieser den Sohn eines königlichen Verwalters beim Hurling-Spiel versehentlich mit seinem Schläger tödlich verletzt hatte. Der Hochkönig ließ den Prinzen entführen und umbringen, ein Rechtsbruch und eine Demütigung für Crimthann! Er verfluchte den Hochkönig...