Buch, Deutsch, Band 42, 408 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 508 g
Reihe: Campus Historische Studien
Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren
Buch, Deutsch, Band 42, 408 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 508 g
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-38037-7
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
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Weitere Infos & Material
Vorwort
Einleitung: Die Herausforderung des "Linksterrorismus"
Klaus Weinhauer / Jörg Requate
Politische Gewalt und Terrorismus:
Eine vergleichende und soziologische Perspektive
Donatella della Porta
Politische Gewalt und Terrorismus:
Einige historiographische Anmerkungen
Heinz-Gerhard Haupt
Subkulturen und Entstehungsmilieus
Ästhetik des Andersseins:
Subkulturen zwischen Hedonismus und Militanz 1965-1970
Detlef Siegfried
Tupamaros München:
"Bewaffneter Kampf", Subkultur und Polizei 1969-1971
Michael Sturm
Psychiatrie und Politik:
Zum Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg
Cornelia Brink
Jenseits von Terror und Rückzug:
Die Suche nach politischem Spielraum und Strategien
im Westdeutschland der siebziger Jahre
Belinda Davis
Staatsgewalt und Innere Sicherheit
Der Wandel staatlicher Herrschaft
in den 1960er/70er Jahren
Stephan Scheiper
"Verführt" - "abhängig" - "fanatisch":
Erklärungsmuster von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten
für den Weg in die Illegalität -
Das Beispiel der RAF und der Bewegung 2. Juni (1971-1973)
Gisela Diewald-Kerkmann
Zwischen "Partisanenkampf" und "Kommissar Computer":
Polizei und Linksterrorismus in der Bundesrepublik
bis Anfang der 1980er Jahre
Klaus Weinhauer
"Terroristenanwälte" und Rechtsstaat:
Zur Auseinandersetzung um die Rolle der Verteidiger
in den Terroristenverfahren der 1970er Jahre
Jörg Requate
Medien
Terrorismus im ö.entlichen Diskurs der BRD:
Seine Deutung als Kriegsgeschehen und die Folgen
Andreas Musol.
Der "Sympathisanten"-Diskurs im Deutschen Herbst
Hanno Balz
Terrorismus als Medienereignis im Herbst 1977:
Strategien, Dynamiken, Darstellungen, Deutungen
Martin Steinseifer
Terrorismus im Film der 70er Jahre:
Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacher
beim Umgang mit der realen Gegenwart
Walter Uka
Anhang
Autorinnen und Autoren
Personenregister
In den langen sechziger Jahren nahm die Zahl der jugendlichen Subkulturen und der an ihnen beteiligten Individuen enorm zu. Ganz ähnlich wie "Halbstarke" oder "Exis" in den fünfziger Jahren zeichneten sie sich dadurch aus, dass sie "anders sein" wollten als die angenommene Mehrheit der Gesellschaft. Anderssein war kein revolutionärer Akt im traditionellen Verständnis, kein eruptiver Versuch, die herrschenden ökonomischen oder politischen Verhältnisse umzustürzen. Vielmehr handelte es sich um eine eigentlich unspektakuläre Teildistanzierung, ein begrenztes Ausscheren aus dem gerade neu stabilisierten und daher besonders rigiden kulturellen Normensystem der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, das nur von manchen Gruppen extrem radikalisiert wurde. Seit der Mitte der fünfziger Jahre boten zunehmender Reichtum, kulturelle Ausdifferenzierung und Medialisierung immer mehr Stile, Orte und Kommunikationskanäle - eine Infrastruktur, in der Anderssein nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert werden konnte, zumindest jenseits der Sphäre von Arbeit und Schule, später auch innerhalb dieser zentralen Sphären bürgerlicher Sozialisation und Lebensführung.
Besonders unter jungen Intellektuellen, wo Individualismus als Tugend galt, wurde die Distanzierung von den kulturellen Vorlieben der breiten Masse bereits in den fünfziger Jahren in auffallender Weise gepflegt. Zum Idealtypus wurde der "Existentialist", der zwar nicht unbedingt als reale Figur weit verbreitet war, aber doch wesentliche Elemente des individualistischen Selbstbildes verkörperte. Zeitschriften wie Konkret oder Twen waren erfolgreich, weil sie sich als Medien für Nonkonformisten präsentierten, Stilelemente des Andersseins kommunizierten und popularisierten. Schon am Ende der fünfziger Jahre wurde im Twen der "Außenseiter" als "Ideal" der Zwanzigjährigen beschrieben - ihn zeichnete ein "antibürgerlicher Sinn" aus. In der Erfolgsgeschichte der Außenseiterkonzepte (und der sie vertretenden Zeitschriften) wurde deutlich, dass das mühsam auf ein autoritatives Niveau gebrachte westdeutsche Normensystem im Differenzierungsprozess der Gesellschaft seine Verbindlichkeit schnell wieder einbüßte. Tatsächlich waren derartige Distanzierungsbewegungen an den kulturellen und sozialen Rändern der Gesellschaft lediglich die auffälligsten Merkmale einer Individualisierungstendenz, die die gesamte Gesellschaft erfasste. Teil eines Großtrends zu sein, widersprach freilich den Intentionen der intellektuellen Vordenker. Massenhafte Individualität war ein Widerspruch in sich, Anderssein ein dezidiert elitäres Konzept, mit dem sich seine Protagonisten von einer vermeintlich konformen Masse abheben wollten.
Allerdings gab es viele Formen, in denen man "anders sein" konnte. In den von einer "neuen Sensibilität" geprägten sechziger Jahren kamen "emotional" grundierte Subkulturen, wie sie sich teilweise schon in den Rock-and-Roll-Krawallen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre angekündigt hatten, zu völlig neuer Bedeutung. Sie stießen auf Kritik bei vornehmlich intellektuell geprägten, "rationalistischen" Subkulturen, die in der ästhetischen Form kein revolutionäres Element zu erkennen vermochten. Vor allem im SDS wurde, gestützt auf Adorno, immer wieder der coole Habitus der Roth-Händle rauchenden Jazz- und Beat-Adepten kritisiert, die in den Kellerclubs hockten, lange Haare trugen, Konkret lasen und vielleicht sogar Mitglied des SDS wurden, um sich durch Außenseitertum als Individualisten zu kreieren - aber dadurch letztlich nur mehr demonstrierten, dass ihr ästhetischer Protest geringe Reichweite hatte und jedenfalls die Machtverhältnisse in der Gesellschaft nicht tangierte. Hinzu kam, dass derartiger Protesthabitus von der Konsumindustrie aufgegriffen und popularisiert wurde. Nonkonformistische Ästhetik war integrierbar - dagegen halfen nur Bewusstseinsbildung und politische Aktion. Im Laufe der sechziger Jahre, als eine Ästhetik des Andersseins immer größere Massen von Jugendlichen anzog, gewannen diese beiden Elemente stark an Bedeutung. Theoretische Arbeit und politische Aktion - vor allem ihre konsequente Handhabung - unterschieden die politisch motivierten Gruppen von einer größeren Masse, die nicht nur lange Haare trug und die Rolling Stones hörte, sondern sich auch stärker als zuvor politisch informierte und betätigte. Als der politische Bewusstseinsstand und die Aktionsbereitschaft insgesamt zunahmen, konnte sich eine Avantgarde nur durch besonders entschlossene Aktivitäten exponieren.