E-Book, Deutsch, 156 Seiten
Weißflog / Lademann Verstehen in der Psychiatrischen Pflege
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-039690-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beiträge für erweiterte pflegewissenschaftliche Perspektiven
E-Book, Deutsch, 156 Seiten
ISBN: 978-3-17-039690-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2 Bilderfahrzeuge in der psychiatrischen Pflege
Günter Meyer
2.1 Einleitung
Im Kontext der psychiatrischen Pflege auf den Begriff »Bilderfahrzeuge« zu stoßen, mag zunächst verstörend wirken, wurde dieser Terminus doch von Aby Warburg mit der Begründung der Ikonologie im Fach Kunstgeschichte geprägt. Doch auch wenn es vordergründig keinen Zusammenhang zwischen der Ikonologie und der psychiatrischen Pflege geben mag: Es lässt sich doch eine Gemeinsamkeit herleiten, die uns ein besseres Verständnis für eine notwendige Weiterentwicklung der psychiatrischen Pflegewissenschaft geben könnte. Um dieser ein Angebot für ein größeres wissenschaftliches Fundament zu ermöglichen, gilt es, eben jene Gemeinsamkeit herauszuarbeiten. Dabei sollen die Grundzüge einer Theorie aus dem Fach Kunstgeschichte zu einem theoretischen Konzept destilliert werden, welches übertragend und ergänzend für die psychiatrische Pflegewissenschaft angewendet werden könnte. Vor diesem Hintergrund wird dieser Beitrag zunächst die essentiellen Aspekte der Ikonologie erläutern – im Sinne von Aby Warburg – und danach in einem zweiten Schritt versuchen, diese Essenz auf die gegenwärtige psychiatrische Pflegewissenschaft zu übertragen. Das Ziel wird darin bestehen, aufzuzeigen, in welchem kulturwissenschaftlichen und historischen Zusammenhang diese noch junge Lehre sich auch verstehen könnte. Verbunden damit ist die Idee, den wissenschaftlichen Kanon zu erweitern und der psychiatrischen Pflege einen kulturellen Auftrag für die Gesellschaft zuzugestehen. In diesem Zusammenhang werden wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ahistorisch und kulturunabhängig verstanden. Diesen Gedanken der Verknüpfung von Medizin und Kultur hat schon Foucault aufgegriffen und beispielsweise die Psychiatrie historisch, aus der kulturgeschichtlichen Entwicklung heraus, beschrieben (vgl. Foucault 1969). Er versuchte aufzuschlüsseln, wie sehr wir mit unserem Denken und Handeln von historisch gewachsenen Überzeugungen abhängig sind. Die historisch wandernden Überzeugungen hat Aby Warburg bereits viele Jahre zuvor als »Bilderfahrzeuge« charakterisiert. Aus der Perspektive von Foucault können wir eine Art Geschichte der Problematisierungen schreiben: Bestimmte Probleme, und darin eingebettet auch bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen, unterliegen einer historischen Determinanz. Und so weist Foucault darauf hin, dass beispielsweise die Sklaverei erst in dem Moment ethisch verworfen werden konnte, ab dem sie auch gesellschaftlich lösbar war. Erst seitdem wird die Sklaverei ethisch problematisiert. In der Antike beispielsweise war sie nie Bestandteil der gesellschaftlichen und ethischen Auseinandersetzung. Ihre Problematisierung beginnt erst im 17. Jahrhundert und erst seitdem gibt es auch die Befreiungskämpfe. Foucault vergleicht uns mit Fischen in einem Aquarium: Die transparenten Fischgläser sind die historischen Grenzen, über die wir nicht hinaus können. Und der Historiker Paul Veyne fasst diese Haltung wie folgt zusammen: »So sind in jeder Epoche die Zeitgenossen in Diskurse wie in vermeintliche transparente Fischgläser eingeschlossen, sie wissen nicht, um welche Fischgläser es sich handelt, und sind sich nicht einmal im Klaren, dass ein solches Glas existiert. Die falschen Allgemeinheiten und die Diskurse variieren im Laufe der Zeit, gelten jedoch in jeder Epoche als wahr. Infolgedessen beschränkt sich die Wahrheit auf das Wahrsagen, d. h. auf die Äußerung dessen was man für wahr hält – und was ein Jahrhundert später belächelt wird« (Veyne 2009, S. 39). Eine Generation vor Foucault spricht der deutsche Arzt Ludwik Fleck von »Urideen« oder auch »Präideen« (Fleck 2011), die als vorwissenschaftliche Ideen den wissenschaftlichen Diskurs bestimmten. Der Gedanke, der hinter diesen Begriffen steht, lässt sich sehr gut mit Aby Warburgs »Bilderfahrzeugen« verknüpfen. Dieser hatte sein Verständnis und seine Ideen bereits eine Generation vor Ludwik Fleck entwickelt – für das Fach Kunstgeschichte. 2.2 Wer war Aby Warburg?
Aby (Abraham Moritz) Warburg, Spross einer Hamburger Bankiersfamilie, lebte von 1866 bis 1929. Er hätte eigentlich in die Fußstapfen seines Vaters treten müssen und die Geschäfte des väterlichen Unternehmens übernehmen sollen. Der Erstgeborene verzichtete jedoch und übertrug seinem Bruder Max das Vorrecht, die Firma zu übernehmen. In einer Gedenkfeier 1929 erinnert sich Max Warburg an eine Anekdote aus dem Jahr 1869: »Als er dreizehn Jahr alt war, offerierte er mir sein Erstgeborenenrecht. Er als Ältester war bestimmt, in die Firma einzutreten. Ich war damals zwölf Jahre, noch nicht so überlegungsreif, und erklärte mich einverstanden, ihm das Erstgeborenenrecht abzukaufen. Er offerierte es mir aber nicht für ein Linsengericht, sondern verlangte die Zusage, daß ich ihm immer alle Bücher kaufen würde, die er brauchte. Hiermit erklärte ich mich nach sehr kurzer Überlegung einverstanden. Ich sagte mir, daß schließlich Schiller, Goethe, Lessing, vielleicht auch noch Klopstock von mir, wenn ich im Geschäft wäre, doch immer bezahlt werden könnten und gab ihm ahnungslos diesen, wie ich heute zugeben muß, sehr großen Blankokredit. Die Liebe zum Lesen, zum Buch […] war seine frühe, große Leidenschaft« (Warburg 1929, zit. n. Gombrich 1984, S. 38). Aby Warburg baute im Laufe seines Lebens eine riesige kulturwissenschaftliche Bibliothek auf, die später den Grundstock für das heutige Aby-Warburg-Institut in London bildete. Er war auf der Suche nach Zusammenhängen und kulturellen Übertragungen zwischen den Epochen, Kulturen und Künstlern. Als Kunstwissenschaftler zeigte er am Beispiel der Renaissance auf, wie symbolische Formen aus der Antike übernommen und deren affektive Konnotationen damit weitergetragen wurden. Diese Fortführung von symbolischen Formen umschrieb er mit dem Begriff »Bilderfahrzeuge«. Andreas Beyer et al. charakterisieren die Wortschöpfung wie folgt: »Aby Warburg, der ja das andauernde ›Nachleben‹ der Antike zum Paradigma seines Verständnisses von Geschichte erhoben hatte, entwarf damit eine Vorstellung historischer Verläufe, die sich in den migrierenden, nie zu einem Stillstand gelangenden Bildern ereigneten. Und er verfiel auf die Figur des Fahrzeugs, des ›Automobils‹, um damit eine zeitgemäße, moderne Vorstellung von Bewegung durch Raum und Zeit zum Ausdruck zu bringen. Indem er die Bilder stets auch unter dem Eindruck ihrer ›technischen Reproduzierbarkeit‹ reflektierte, betonte er so die unauflösliche Verbindung zwischen seiner Gegenwart, jener der Fotografie, und der Vergangenheit mit ihren unterschiedlichen Reproduktionsmedien« (Beyer et al. 2018, S. 10). Damit strebte Aby Warburg einen erweiterten Blick seines Faches an. Nur durch einen intensiven wissenschaftlichen Dialog mit anderen Disziplinen ließen sich, nach seiner Überzeugung, fundierte Erkenntnisse sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart ermitteln. Die Kunstgeschichte befand sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in einer vergleichbaren Situation an den Hochschulen und Universitäten wie die Pflegewissenschaft, und ganz besonders die psychiatrische Pflegewissenschaft, heute. Sie war noch eine sehr junge Wissenschaft und musste sich gegenüber den etablierten historischen Universitätsfächern behaupten, um als gleichwertige Disziplin ernst genommen zu werden. Diese wissenschaftliche Anerkennung erhoffte man durch einen strengen Methodenkanon zu erlangen, der sich in erster Linie auf die Stilkunde und Stilentwicklung fokussierte. Mit der strikten Reglementierung, auf welche Weise wissenschaftlich gearbeitet werden sollte, legte sich die Kunstgeschichte ein künstliches Korsett an, welches sie in seiner Enge jedoch dazu zwang, die ihr eigenen Potentiale zu unterdrücken. Warburg spricht ironisch von der »Grenzwächterei« des Faches und forderte eine methodische Erweiterung seiner Disziplin ein. Nur durch die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen ließen sich umfangreiche, kulturelle Erkenntnisse generieren, so sein Credo. »Sein Engagement galt einer methodischen Grenzerweiterung der Kunstwissenschaft in stofflicher und räumlicher Beziehung; mit seiner Studie zu Luther und der Astrologie wollte er beispielsweise einen Beitrag dazu leisten, wie sich bei der Verknüpfung von Kunstgeschichte und Religionswissenschaften die kulturwissenschaftliche Methode verbessern läßt« (Treml & Weigel 2010, S. 9). Diese...