Buch, Deutsch, 398 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 498 g
Zur Zukunft der sozial-ökologischen Bewegung
Buch, Deutsch, 398 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 498 g
ISBN: 978-3-593-50940-2
Verlag: Campus
Die Weltgesellschaft steuert früher oder später auf eine soziale und ökologische Katastrophe zu, wenn es nicht gelingt, eine nachhaltige Entwicklung zu realisieren. Welche Bedeutung hat utopisches Denken für einen umwelt- und sozialverträglichen Wandlungsprozess? Ist es zum Scheitern verurteilt oder sogar eine Bedingung für grundlegende Veränderungen? Björn Wendt untersucht auf Grundlage der Utopieforschung das Verhältnis von Utopie und sozialer Wirklichkeit. Wenngleich sich Utopien auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit nicht eins zu eins umsetzen lassen, leisten sie doch, so die These dieses Buches, einen wichtigen Beitrag zu einer sozial-ökologischen Transformation.
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Inhalt
Vorwort 9
Einleitung: Nachhaltigkeit als Utopie 11
Kapitel 1: Annäherungen an das Ausgangsproblem - Die Tragik der Utopie und Situation 16
1.1 Alltagsbedeutung und Wortherkunft des Utopiebegriffs: Niemals-Ort oder (guter) Nicht-Ort? 17
1.2 Die Rede vom "Ende der Utopie" 21
1.3 Die Tragik der Utopie und Situation: Nachhaltigkeit als notwendige Utopie 29
1.4 Erkenntnisinteresse, Forschungsstand und Vorgehen 33
Kapitel 2: Kritik der Utopie und das totalitarismustheoretische Begriffsmuster 43
2.1 Die (neo)marxistische Utopiekritik 44
2.2 Die Kritik des totalitarismustheoretischen Utopiebegriffs 50
2.3 Zusammenfassung und Diskussion der Ausgangsfragen 60
Kapitel 3: Der klassische Utopiebegriff und die literarischen Utopien 63
3.1 Thomas Morus' Utopia und die literarische Utopie 65
3.2 Utopie als Staatsroman und Idealstaat: Der klassische Utopiebegriff 81
3.3 Utopie als Gedankenexperiment, Dystopie und Idealtypus:
Der neoklassische Utopiebegriff 94
3.4 Zusammenfassung und Diskussion der Ausgangsfragen 115
Kapitel 4: Die Formvielfalt des sozialpsychologischen Utopiebegriffs und das utopische Bewusstsein in sozialer Bewegung 122
4.1 Utopie, soziale Bewegung und Revolution 123
4.2 Die Wahlverwandtschaft von Messianismus, anarchistischer Utopie und Sozialismus 132
4.3 Gustav Landauers revolutionärer Utopiebegriff 143
4.4 Die revolutionären Münchner Literaten 178
4.5 Karl Mannheim: Ideologie, Utopie, Wissenssoziologie 191
4.6 Ernst Bloch: Marxismus als konkrete Utopie 204
4.7 Die kritischen Gesellschaftstheorien aus Frankfurt und der Spagat zwischen Utopiekritik und Utopieaneignung 216
4.8 Der aktuellere Utopiediskurs in der Linken 238
4.9 Zusammenfassung und Diskussion der Ausgangsfragen 247
Kapitel 5: Exkurs - Realutopien als viertes Paradigma der Utopieforschung? 251
5.1 Von machbaren und gelebten Utopien 253
5.2 Der Begriff der Realutopie und realistische Utopien 259
5.3 Zusammenfassung und Diskussion der Ausgangsfragen 264
Kapitel 6: Nachhaltigkeit als Dystopie, Utopie und Bewegung 267
6.1 Nachhaltigkeitsdiskurs und Nachhaltigkeitsforschung 269
6.2 Nachhaltigkeit als Dystopie 282
6.3 Nachhaltigkeit als Utopie der sozial-ökologischen Bewegung 297
Kapitel 7: Schlussbetrachtung - Erscheinungsformen und Funktionen der sozial-ökologischen Utopie 339
7.1 Utopiebegriff und -forschung: Das Ende vom "Ende der Utopie" durch Nachhaltigkeit? 340
7.2 Utopie und sozial-ökologische Transformation: Können Utopien zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen? 352
Literatur 364
Vorwort
Der Zweck der vorliegenden Untersuchung ist die Vergegenwärtigung von Vergangenheit, um die Gegenwart am Maßstab der vergleichenden Erinnerung kenntlich zu machen. Kurzum: Das primäre Ziel lautet Zeitdiagnose. Nicht die Vergangenheit im Allgemeinen soll jedoch im Laufe der präsentierten Geschichte vergegenwärtigt werden, sondern die Utopie und Revolution. Wenngleich eine solche Geschichte in Anbetracht des gegenwärtigen Zeitgeistes anachronistisch erscheinen mag, lässt sich dieses Vorhaben insofern legitimieren, als dass nach dem "Ende der Utopie" ein neues Gesellschaftsprojekt jenen Platz eingenommen zu haben scheint, den der Sozialismus bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion innehatte: den der primären Gegenutopie zum business as usual des westlichen Entwicklungsmodells. Das intendierte Gesellschaftsprojekt trägt Namen "Nachhaltigkeit". Inwiefern dieses sozial-ökologische Projekt tatsächlich als kritisches Gegenmodell zur Gegenwartgesellschaft zu bestimmen ist oder die These vom "Ende der Utopie" die empirische Wirklichkeit überzeugender zu charakterisieren vermag, wird mithilfe der Utopie-, Bewegungs- und Nachhaltigkeitsforschung zu beantworten versucht.
Unstrittig ist, dass "Nachhaltigkeit" inzwischen in den Feldern der internationalen Politik, der sozialen Bewegungen und der Wissenschaft zu einem neuen Leitbegriff zukünftiger Entwicklung avanciert ist. Doch wie realistisch ist eine Verwirklichung dieser Idee? Der ehemalige Bundespräsident meint: "Die Bewahrung des Planeten plus globale Gerechtigkeit - ist das überhaupt möglich? Ja! Wir sollten uns nicht entmutigen lassen" (Köhler 2016). Der Titel der vorliegenden Untersuchung - Nachhaltigkeit als Utopie - ließe sich auf den ersten Blick als Gegenposition zu dieser Antwort lesen. Denn: Wenn im Alltag oder in den Medien davon gesprochen wird eine Vorstellung sei "utopisch", dann ist damit in der Regel nicht nur gemeint, dass es sich um etwas handelt, das unmöglich zu verwirklichen ist. Zugleich schwingt implizit die Kritik mit, dass erst gar nicht versucht werden sollte die utopische Idee umzusetzen. Jene Akteure, die das Unmögliche trotzdem wagen, werden häufig als realitätsblinde und irrationale "Spinner" gebrandmarkt, deren Hirngespinste zwangsläufig scheitern müssten. Solange sie scheitern, bleibt es bei dieser Justierung des Utopischen. Erst wenn es gelingt, eine utopische Idee in die soziale Wirklichkeit zu überführen und somit doch einmal der Erfolgsfall eintritt, werden die Utopisten nachträglich zu Visionären umgewidmet. Dass das Verhältnis von Utopien zur sozialen Wirklichkeit jedoch komplexer ist als die Extremfälle des Scheiterns und der Verwirklichung, bleibt oftmals unterbelichtet. Welche Wirkungen haben Utopien also auf die soziale Wirklichkeit? Und ist es überzeugend in Bezug auf die gegenwärtige Situation von einem "Ende der Utopie" zu sprechen? Mit Blick auf das Nachhaltigkeitskonzept wird in der vorliegenden Untersuchung erstens der These nachgegangen, unsere Zeit zeichne sich gerade dadurch aus, dass sie ohne Utopien auskommt und zudem zweitens gefragt, ob und inwiefern Utopien einen Beitrag zu einer sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft leisten können.
Ich danke an erster Stelle Dieter Hoffmeister und Matthias Grundmann für die Betreuung und Begleitung der Arbeit, für ihre Unterstützung, den nötigen Freiraum und die gezielten Interventionen, die zur Vollendung des Dissertationsvorhabens notwendig waren. Ein weiterer Dank gilt allen Mitgliedern des Arbeitskreises Gemeinschafts- und Nachhaltigkeitsforschung und Lehstuhls für Sozialisation (insbesondere Jörg Gakenholz, Benjamin Görgen, Niklas Haarbusch, Jessica Hoffmann, Grit Höppner, Frank Osterloh und Sebastian Stockmann) für die inspirierende Zusammenarbeit in den letzten Jahren. Auch allen Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Matthias Grundmann und Angela Wernberger sei an dieser Stelle herzlich gedankt, denn erst in diesem Diskussionszusammenhang konnten viele Gedanken durch Bestärkungen und kritische Kommentierungen weiter reifen. Ferner möchte ich mich bei Kerstin Jürgenhake für das Korrekturlesen des vorliegenden Textes sowie Isabell Trommer und Julia Flechtner für die Betreuung seitens des Campus Verlags herzlich bedanken. Schließlich gilt mein größter Dank meiner gesamten Familie, vor allem meiner Lebensgefährtin, Agn? Jurevi?iut? sowie meinen Eltern, Rosa und Jürgen Wendt. Vielen Dank für eure Geduld, euer Verständnis und eure Unterstützung!
Björn Wendt, im Juni 2018
Einleitung: Nachhaltigkeit als Utopie
"Die Zeit scheint reif, wieder über Utopien nachzudenken."
(Nida-Rümelin/Kufeld 2010: 8)
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steckt die Menschheit in einer tiefen Krise. Weltweit flammen gewalttätige Konflikte auf, schreiten der Raubbau an den natürlichen Ressourcen und die Freisetzung von Schadstoffen voran und die Weltarmut erweist sich, trotz vieler Anstrengungen diese endlich zu beseitigen, als beständig. Die Empörung und Kritik am bestehenden Zustand sind weltweit vernehmbar. Gleichzeitig scheint es so, als würde es nicht gelingen, aus dieser negierenden kollektiven Kraft heraus eine überzeugende Vision von einer besseren Welt zu entwickeln, auf die sich alle einigen könnten. Es regiert, so könnte man meinen, die große Alternativ- und Orientierungslosigkeit. Oder ist dies nur ein Vorurteil? Denn: Existieren zugleich nicht nach wie vor unzählige alternative Leitbilder und Lebensformen in der Gesellschaft, die die Menschen motivieren, sich in der Gegenwart für eine bessere Zukunft einzusetzen? Und ist Nachhaltigkeit nicht geradezu idealtypisch eines dieser höchst lebendigen positiven Zielbilder, das auf eben jene Missstände reagiert, die unsere Zeit kennzeichnen?
Nachhaltigkeit (sustainability) meint ursprünglich ein aus der Forstwirtschaft stammendes Prinzip, das besagt: "Nicht mehr abholzen, als nachwachsen kann". Nachdem die Holzbestände im Zuge der Frühindustrialisierung in den sächsischen Wäldern knapper wurden, nutzte der Oberberghauptmann Carl von Carlowitz in seiner Schrift Syvicultura Oeconomica (1713) als erster den Begriff, um eine "beständige und nachhaltende Nutzung" (Carlowitz, z.n. Grober 2013: 117) des Holzes zu beschreiben. Der Wald sollte pfleglich behandelt und dadurch dauerhaft als ökonomische Ressource für kommende Generationen erhalten werden. Anfang des 20. Jahrhunderts fand das Prinzip zudem Eingang in die Fischereiwirtschaft, indem der Fischfang an der Reproduktionsfähigkeit der Fischbestände ausgerichtet wurde. Nachhaltigkeit meinte demgemäß in erster Linie ein Bewirtschaftungsprinzip, um eine erneuerbare Ressource auf Dauer möglichst effizient zu nutzen (Grunwald/Kopfmüller 2006: 18).
Spätestens mit dem Brundtland-Bericht der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung wurde der Nachhaltigkeitsbegriff in seiner Form der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) als ein globales politisches Leitbild entworfen, das ökologische und soziale Ziele als gleichwertige und interdependente Elemente des Nachhaltigkeitskonzepts zusammenführte. Eine nachhaltige Entwicklung, das sei eine Entwicklung, "die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können" (Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987: 46). Im Zuge des Weltgipfels der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro und der Verabschiedung der Agenda 21 durch die Staatschefs und Regierungsoberhäupter der Welt (Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen 1992) sowie die UN-Folgekonferenzen 1997 in New York (Rio+5), 2002 in Johannesburg (Rio+10) und 2012 in Rio de Janeiro (Rio+20) wurde das Bekenntnis der Weltgemeinschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung bekräftigt und der konkretisiert (Grunwald/Kopfmüller 2006: 25ff.). Vor allem die auf dem UN-Millenniumsgipfel 2000 in New York verabschiedeten acht Millennium Development Goals (MDGs) waren ein wichtiger Schritt in diese Richtung und enthielten neben den im Zentrum stehenden Entwicklungszielen die Forderung den Umweltschutz und die Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung in die nationale Politik zu übersetzen, um dem Verlust der Umweltressourcen Einhalt zu gebieten (Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen für Westeuropa o.J.). Die 2015 von allen Staaten der Weltgemeinschaft im Konsens beschlossenen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung bzw. Sustainable Development Goals (SDGs) knüpfen an den Geist der MDGs an, lenken diesen jedoch noch stärker auf die ökologische Dimension einer globalen und nachhaltiger Entwicklung (UN 2015).
Vor allem entlang des Dreisäulenmodells und Nachhaltigkeitsdreiecks (soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit) wurden in der jüngeren Vergangenheit konkrete Strategien, Maßnahmen und Indikatoren entwickelt, die das mit dem Nachhaltigkeitsbegriff verbundene Gesellschaftsprojekt zur Umsetzung bringen sollen (Empacher/Wehling 2002; Hauff/Kleine 2005; Kleine 2009; Hauff 2012). Soziale, ökonomische und ökologische Ziele werden im Leitbild der nachhaltigen Entwicklung somit als handlungs- und richtungsweisende Inhalte für die zukünftige Entwicklung thematisiert, die zugleich intergenerationelle und intragenerationelle Gerechtigkeitserwägungen enthalten: "Weltweit herrscht Übereinstimmung darüber, dass Nachhaltigkeit ein normatives Leitbild zur Verwirklichung einer gerechten Verteilung von Lebenschancen für die jetzt lebende und künftige Generation darstellt" (Renn u.a 2007: 9).
Gleichzeitig erscheint Nachhaltigkeit immer mehr Beobachtern zunehmend als eine Worthülse "die alles, was uns edel, hilfreich und gut erscheint" (ebd.: 9) zusammenfasst. Der Vorwurf lautet daher, dass Nachhaltigkeit sich zu einer Leerformel entwickelt habe, mit der sich Jeder gerne schmückt, ohne dass hierbei eine innere Verbindung des Gesagten zum Begriffsursprung und seinen wesentlichen inhaltlichen Nachfolgedefinitionen mehr zu erkennen sei (Nolting 2005: 176; Finke 2012; Grober 2013: 16). Es ließe sich aber auch eine andere Schlussfolgerung aus der Verbreitung des Begriffs ziehen, die an Bestimmungen in der Nachhaltigkeitsforschung und internationalen Politik ansetzt und Nachhaltigkeit als ein "neues Leitbild für die Weltgemeinschaft" (Hauff/Kleine 2005: 2) begreift. Die Verbreitung des Nachhaltigkeitsbegriffs könnte nämlich außerdem als Indikator dafür herangezogen werden, dass sich das Konzept in den letzten zwei Jahrzehnten in einem rasenden Tempo zu einem normativen Leitbild, einer Vision oder eben einer Utopie entwickelt hat, die breite Anerkennung erfährt und die wünschenswerten Vorstellungen darüber an sich bindet, wie die Gesellschaft zukünftig aussehen sollte.
"Mittlerweile steht ›Nachhaltigkeit‹ oder ›sustainability‹ für fast alles, was politisch irgendwie wünschbar sein könnte. Der Begriff impliziert nicht nur eine auf Dauer angelegte Wirtschaftsweise, sondern auch einen umfassenden Katalog dessen, was für ›gerecht‹ gehalten wird: soziale Gleichheit, Ausgleich zwischen einzelnen Ländern und Regionen, Gleichstellung der Geschlechter, und schließlich jede denkbare weitere Forderung nach Gleichheit, Ausgleich und Umverteilung zwischen Menschengruppen. Er tritt damit in die ideologische Leerstelle, die der Zusammenbruch des Sozialismus hinterlassen hat" (Sieferle 2004: 40).
Mit dieser Überlegung ist eine zentrale These formuliert, die auch in dieser Arbeit weiterverfolgt werden soll. Nach dem vermeintlichen Ende des utopischen Zeitalters (Fest 1991; Winter 1992), scheint das nachhaltige Gesellschaftsprojekt den Sozialismus als Widersacher zum gängigen Entwicklungsmodell abgelöst zu haben. Nachhaltigkeit zielt vom Begriff her auf eine Entwicklung hin zu einer bestmöglichen Lebensqualität für alle Menschen, die dauerhaft aufrechterhalten werden soll, ohne dass hierdurch die natürliche Grundlage, die den damit verbundenen materiellen Wohlstand erst ermöglicht, verzehrt wird. Es geht also darum, die bestmögliche Zukunft für alle Menschen zu realisieren und diese für alle Zeiten zu bewahren (Steurer 2001: 537; Görgen/Wendt 2015). Ihrer Anlage nach erscheint die Nachhaltigkeitsutopie durch ihre globale, ewige und auf die Lösung der Sozialen und Ökologischen Frage zielende Justierung, den Sozialismus an utopischen Ambitionen nicht nachzustehen und damit ein Beleg zu sein, der gegen die These vom Ende der Utopie spricht. Der Versuch der Widerlegung der Zeitdiagnose des Endes der Utopie und die Frage, ob Utopien einen Beitrag zu einer nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung leisten können, stehen im Zentrum des Forschungsprozesses der vorliegenden Untersuchung.
Kapitel 1: Annäherungen an das Ausgangsproblem - Die Tragik der Utopie und Situation
Nachhaltigkeit als eine Utopie zu bezeichnen, erscheint auf den ersten Blick in Anbetracht des negativen Bedeutungshorizonts, in den das Utopische politisch und alltäglich eingetaucht wird, als eine Provokation. Eine nachhaltige Gesellschaft, in der die ökologischen Probleme weitgehend gelöst sind und in der zudem ein Zustand der Gerechtigkeit zwischen den lebenden und zukünftigen Generationen praktiziert wird, das mag eine nette Träumerei sein. Wenn dieser positive Zukunftstraum nun aber auf die realen Möglichkeiten der sozialen Wirklichkeit trifft - so könnte geschlussfolgert werden -, dann entpuppt sich dieser Traum als Hirngespinst, eben als Utopie. Sind Utopien und Vorstellungen von einer nachhaltigen Entwicklung also bloß haltlose Hirngespinste, die keinerlei Einfluss auf die soziale Wirklichkeit haben?
Um das mit dieser Fragestellung verbundene Problemfeld näher einzukreisen, wird es in diesem ersten Kapitel zunächst darum gehen, sich über die Alltagsbedeutung und den Wortursprung an den Utopiebegriff heranzuarbeiten (Kapitel 1.1). Im Anschluss daran wird die These vom Ende der Utopie eingeführt (Kapitel 1.2) und gefragt, ob der Ökologie- bzw. Nachhaltigkeitsdiskurs nicht ein exemplarisches Fallbeispiel darstellt, das gegen diese Zeitdiagnose spricht (Kapitel 1.3). Von diesen ersten Überlegungen ausgehend wird der Forschungsstand der Utopieforschung zur Bestimmung ihres eigenen Gegenstands skizziert und schließlich die Zielsetzung und das Vorgehen der Untersuchung dargelegt (Kapitel 1.4). Bei all dem wird sich zeigen, dass durch die verschiedenen Argumentationsfiguren hindurch eine Tragik der Utopie sichtbar wird, die sich am Beispiel des Nachhaltigkeitsdiskurses zu einer Tragik der gegenwärtigen Situation verdichten lässt. Beide Punkte, also die allgemeine und zeitgenössische Tragik der Utopie, so eine These, der es mit Hilfe der Utopieforschung näher nachzugehen geht, erweisen sich bei näherer Betrachtung als in Grenzen auflösbar. Doch worin besteht überhaupt diese Tragik der Utopie und Situation? Weshalb erscheint das utopische Denken als etwas, das vor allem kritisch beurteilt wird und daher als Beitrag zu einer konstruktiven Lösung von Problemen einen so schlechten Ruf hat?
1.1 Alltagsbedeutung und Wortherkunft des Utopiebegriffs:
Niemals-Ort oder (guter) Nicht-Ort?
Eine Utopie, so erklärt es der Duden, ist ein "undurchführbar erscheinender Plan; [eine] Idee ohne reale Grundlage" (Duden 2014). Mit dem Utopiebegriff werden nach diesem Begriffsverständnis Pläne, Ziele, Vorstellungen, Ideen oder Ideale bezeichnet, denen die Eigenschaft zugeschrieben wird, nicht realisierbar zu sein. Die Tragik der Utopie besteht demnach zunächst in ihrer NichtRealisierbarkeit. In der Alltagssprache ist insbesondere die pejorative Begriffsverwendung "utopisch" einschlägig, die diesem Begriffsmuster entspringt und dementsprechend beschreibt, dass ein beliebiges Anliegen nicht zu verwirklichen ist:
"Das Adjektiv meint […] so viel wie ›unrealistisch‹, ›träumerisch‹ oder ›übersteigert‹ und bezeichnet insofern ein Denken oder Handeln, das zwangsläufig scheitern muss, weil ein realitätsblinder Urheber die Voraussetzungen für eine Verwirklichung verkennt. Entscheidend ist daher die Nichtrealisierbarkeit des Geschriebenen, Gesagten oder Gedachten und die mitschwingende Kritik deutet an, dass Utopien in unzulässiger Weise wegführen vom Möglichen und Nötigen. Diesem abwertend gemeinten Sinn zufolge besitzt der Begriff zumindest tendenziell die Bedeutung von ›Hirngespinst‹, ›Luftschloss‹ oder ›Wolkenkuckucksheim‹" (Schölderle 2012: 11, Hervorhebungen B.W.).
Ideen, Ziele oder Pläne als utopisch zu bezeichnen, schreibt ihnen folglich vor allem das Merkmal zu, nicht möglich, also unmöglich, zu sein. Der Begriff hat dabei die Funktion, sie als wirklichkeitsblinde Illusionen zu kritisieren und herabzusetzen. Wenngleich die Idee vielleicht wünschenswert erscheinen könnte - und auch ein positives Moment im Alltagsbegriff angezeigt ist -, so wird sie abgelehnt, da sie nicht möglich erscheint. Utopiekritik ist somit zugleich ein Plädoyer dafür, realistisch zu bleiben und nicht ins Wunschdenken abzugleiten.
Die vom Duden vorgeschlagenen Synonyme zum Utopiebegriff verweisen ebenfalls auf diese Justierung des Alltagsbegriffes: Utopien könnten so ferner als "Fantasie[gebilde], Illusion, Irrealität, Kopfgeburt, Luftschloss, Phantom, Traumbild, Traumgebilde, Trugbild, Unwirklichkeit, Vision, Vorstellung, Wahn, Wunschtraum, Zukunftstraum; (bildungssprachlich) Fiktion, Imagination, Schimäre; (abwertend) Hirngespinst; (umgangssprachlich abwertend) Spinnerei" (Duden 2014) bezeichnet werden. Es verbleibt letztendlich demnach eine kritische Begriffsjustierung, die abwertend auf das Phantasieren, das Träumen und das Bauen von Luftschlössern verweist, die sich letztendlich doch immer als Illusionen, Trugbilder, Hirngespinste und Spinnereien erweisen würden, zu mindestens jedoch als Irrealität und nicht zu verwirklichende Idee.
Mit etwas anderen Worten als der Duden, aber doch in dieselbe Richtung gerichtet und historisch verortend, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Gnüg, dass "der Utopiebegriff seit dem späten 19. Jahrhundert immer stärker die Bedeutung der bloßen Schimäre annimmt, eines phantastischen Ideals, das per Definition schon eine ›impossibilité‹ darstellt" (Gnüg 1999: 11). Auch sie betont somit die Unmöglichkeit der Realisierung des erträumten Ideals im Rahmen des Alltagsbegriffs. Ernst Bloch fasst dieses Alltagsverständnis von Utopie kurz und bündig als "Wolkenkuckucksheim billigster Art" zusammen und setzt erklärend hinzu, es sei gemeint, "Utopie sei ein leeres Gewäsch, etwas, das ohnehin nicht eintritt, […] und für einen Mann von gesundem Menschenverstand eigentlich undiskutierbar" (Bloch 1974a: 76) sei. Kurzum: Mit Vernunft und Realismus hat die Utopie dem Alltagsverständnis folgend nichts zu tun. Sie sei vielmehr das genaue Gegenteil, das heißt irrational und unmöglich, jedenfalls etwas, das abzulehnen sei. Dieser Utopiebegriff ist bereits im 19. Jahrhundert in seiner abwertenden Funktion in den politischen Debatten der Zeit nachweisbar. Hier bildete sich nicht nur die konservative Utopiekritik heraus, sondern auch unter Sozialisten war es nicht unüblich, die kritisierten Sozialismusansätze als utopisch zu bezeichnen (Kapitel 2.1).
Trotz der Dominanz des pejorativen Alltagsbegriffs von Utopie, hat sich von der ursprünglichen positiven Bedeutung des Begriffs noch etwas in unserer Zeit erhalten. Der Duden enthält in seiner Definition zwar keinerlei Bezug auf diese Bedeutung, da er nicht darauf verweist, dass es sich bei einer Utopie nicht um einen beliebigen Plan oder eine beliebige Idee handelt, sondern eine gute, eigentlich sogar die beste Idee und damit eine wünschenswerte und zu erstrebende Vorstellung. Innerhalb der zitierten Synonyme des Dudens sind jedoch Vorschläge enthalten, die in diese Richtung weisen, etwa wenn von einem Wunschtraum, einem Zukunftstraum oder einer Vision die Rede ist. Auch diese positive Deutung übersetzt sich mitunter in die Alltagssprache und zwar im Sinne "einer ›über den Tellerrand hinaus reichende[n] Perspektive‹ […]. Zudem ist der Ausruf ›Das ist ja utopisch!‹ noch in anderen Kontexten zu hören, etwa beim Anblick einer ›unglaublich eindrucksvollen‹ Landschaft oder als Ausdruck für ein ›fast unwirklich schönes Ereignis" (Schölderle 2011: 19). Neben der negativen Justierung des Alltagsbegriffs, tritt damit eine entgegengesetzte Normierung, die dem Utopiebegriff positive Merkmale zuschreibt. Diese positive Bedeutung lässt sich weiterverfolgen, wenn die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs in den Blick genommen wird.
Gnüg schreibt ihre bereits eingeführten Gedanken fortführend und in zwei Dimensionen auf den Ursprung des Utopiebegriffs verweisend: "Wenn die Wörterbücher den Begriff für das 17. und 18. Jahrhundert nicht notieren, für Jahrhunderte, in denen viele utopische Romane geschrieben worden sind, weist das darauf hin, dass der Begriff hier noch eng an das Werk Thomas Morus geknüpft war" (Gnüg 1999: 11). Hiermit wird in zweifacher Hinsicht der klassische Utopiebegriff zum Thema. Einerseits, indem darauf verwiesen wird, dass der Utopiebegriff als Bezeichnung für ein literarisches Genre dient, die utopischen Romane bzw. literarischen Utopien. Andererseits wird mit Thomas Morus der Autor der ersten neuzeitlichen Utopie - Utopia (1516) - und zugleich der Erfinder des Utopiebegriffs selbst angesprochen, an dessen etymologische Herkunft im Folgenden erinnert sei:
"Morus' Wortschöpfung [Utopia] ist geformt aus zwei griechischen Vokabeln: ›ou‹ heißt ›nicht‹, ›tópos‹ ist der ›Ort‹. Utopia bedeutet also wortwörtlich so viel wie Nichtort, Nirgendland oder Nirgendwo. […] Die beiden griechischen Präfixe ›ou‹ und ›eu‹ haben im englischen einen homophonen Klang. Daher kann der Begriff auch als ›Eutopia‹ gelesen werden, womit ›guter Ort‹ gemeint wäre. Dieses Wechselspiel wird in einem der Utopia vorangestellten Sechszeiler sogar bewusst verwendet. Im Entstehungskontext der Utopia tritt zudem noch eine weitere Anspielung zu Tage. Der Humanist Budaeus nutzt in einem Begleitbrief zur Utopia das Wort ›Udepotia‹ (griech. ›oudepote‹ = ›niemals‹) und verweist damit auf die Bedeutung ›Niemalsland‹" (Schölderle 2012: 10f.).
Bereits mit der Veröffentlichung der Utopia entstanden zu Beginn des 16. Jahrhunderts zusammengenommen also drei Bedeutungszuschreibungen:
1. Utopie bedeutet aus dem griechischen ins Deutsche übersetzt zunächst Nicht-Ort, Nirgendwo, Nicht-Land oder ähnliches. Eine Utopie ist folglich in erster Instanz ein Ort, der in der Wirklichkeit nicht existiert, der also nicht in ihr enthalten ist und gerade durch seinen Abstand zur Wirklichkeit definiert ist.
2. In zweiter Instanz stellt sich die Frage, ob Utopie bei Morus nicht nur einen Nicht-Ort, sondern zugleich einen guten Nicht-Ort meint. Oder war der Inhalt der Utopia gar nicht entscheidend, da auswechselbar, weil es nur um den Kontrast mit der Wirklichkeit ging, der nicht zwingend etwas Gutes anzeigen muss? In anderen Worten: Wie ernst hat Morus seinen besten Staat gemeint? War es wirklich seine Idealvorstellung, die er auf die Insel Utopia projizierte?
3. Schließlich folgt mit Budaeus Bezeichnung Udepotia (NiemalsOrt), die moderne Alltagsbedeutung: Utopie als Unmöglichkeit.
Diese letzte Bedeutung liegt jedoch bereits außerhalb des Rahmens, den Morus selbst anlegt, da er lediglich einen Nicht-Ort (Ou-topia) und guten Ort (Eu-topia) durch das Thema der Utopia, den besten Staat, ins Begriffsfeld holte und daher eine Spannung zwischen Nicht-Ort (Outopia) und bestem Ort (Eutopia) erzeugt. Morus' Begriffsbestimmung entspricht demnach nicht der hier diskutierten dominanten Alltagsdefinition. Erst als Reaktion hierauf wurde von einem Niemalsort (Udepotia) geredet, von jenem utopiekritischen Element also, das den Begriff in der Gegenwartssprache fast gänzlich konsumiert und eine Utopie zu einer unmöglich zu verwirklichenden Angelegenheit erklärt. Die Rede von der Utopie als Unmöglichkeit wurzelt demgemäß bereits im Humanismus. Der Niemalsort des Humanisten Guillaume Budé (lat. Guglielmus Budaeus) übersetzt sich als eine unmöglich zu realisierenden Idee in die heutige Alltagssprache. Die Utopiekritik sowie die Verschränkung und Dialektik von Utopie und Utopiekritik in Bezug auf ihre unmögliche Realisierbarkeit gehört somit gewissermaßen zu einem Kontinuum der Utopiediskussion (hierzu auch Rademacher 1996; Eickelpasch/Nassehi 1996). Die in der Utopieforschung diskutierte These vom Ende der Utopie ist im Vergleich zur Utopiekritik und der Annahme der unmöglichen Realisierbarkeit von Utopien demgegenüber deutlich neuerer Prägung.